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Ausgabe:

1963

Spalte:

682-684

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gerrish, Brian Albert

Titel/Untertitel:

Grace and reason 1963

Rezensent:

Lohse, Bernhard

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 9

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Amtsträger konnten nur Christen besonderer Qualifikation
fungieren. 3. Die praktische Anwendung des teleologischen
Ämtergrundsatzes führte zur Arbeitsteilung nach zugewiesenen
Funktionen. 4. Ein Recht des Amtsträgers auf sein Amt konnte
es nicht geben. 5. Die Berufung in ein Amt war Wirkung der
göttlichen gratia. Hiernach hält U. ein Eingriffsrecht des Papstes
in von ihm selbst geschaffene Ämter, also auch das Kaisertum,
für unbestreitbar. Als 6. Konsequenz könnte man den Hinweis
auf S. XXXIV hinzunehmen, daß es keine Möglichkeit gab,
einen Papst rechtlich zu belangen — positiv gewendet: ein Verfahren
gegen den Papst war nur als Ketzerprozeß möglich. Den
Kern des mittelalterlichen päpstlich-hicrokratischen Systems
sieht U. (S. XXXIX) darin, „daß der Papst allein berechtigt ist,
die ihm anvertraute Kirche als die Gemeinschaft aller Gläubigen
ihrem Ziele zuzuführen, und zwar mit den Mitteln des erzwingbaren
Rechts, das, vom conditor juris erlassen, unmittelbare
und universale Gültigkeit beansprucht und sich auf alle
Verhältnisse erstreckt, die die vitalen Interessen und das Gefüge
der christlichen Gemeinschaft betreffen".

In 14 chronologischen Kapiteln entfaltet der Verf. seine
mit ausführlichen Qucllenzitaten unterbauten Gedankengänge.
Kap. I (S. 1—66) erörtert die Grundlagen mit der dauernden
Festlegung der monarchischen Regierungsform des Papsttums
durch Leo I., die als Gegenbild den Cäsaropapismus (Kaiser
Zenos Henoticon) zeitigte. Die monarchische Interpretation des
päpstlichen Principatus durch Gelasius hinterließ (S. 42) „den
kommenden Päpsten das fundamentale Gedankengut, das auf
einer Auswertung der Geschichte im Lichte der christlichen
Telcologic gründete", und fand ihre ideologisch vollkommenste
Ergänzung bei Isidor von Sevilla. Am Ende dieser Frühphase
steht Gregor I. mit der prophetischen Vision des mittelalterlichen
Europa als einer „societas reipublicae chri6tianae, über
welche die römische Kirche ihren principatus ausübte, ohne dabei
auf die Reichsverfassung Rücksicht nehmen zu müssen"
(S. 57). Die Kap. II-VII sind mit fast 300 Seiten dem 8. und
9. Jhdt. vorbehalten. Sie besprechen die Loslösung des Papsttums
aus dem imperialen Machtbereich (S. 67—133) - mit der
Nebenthese, daß die Konslantinische Schenkung, „ein Übergangsstadium
im Aufbau des päpstlichen Ideenapparates" (S. 131),
vor der Reise Stephans II. zu Pippin anzusetzen sei —, sodann
Karl d. Großen (S. 134-178) und die Situation im Frankenreich
nach seinem Tode (S. 179—214) mit Hervorhebung der Pariser
Synode von 829 und ihres rein episkopal-hicrokratischen Programms
, fernei den Symbolismus in den Krönungszeremonien
des 9. Jhdts. (S. 215-245), das Zeitalter Pseudo-Isidors (S. 246
-277) sowie Nikolaus L, Hadrian IL und Johann VIII. als „drei
große Päpste des 9. Jhdts." (S. 278-335), die das hicrokratische
Konzept unmittelbar vor einem politisch-moralischen Tiefstand
des Papsttums zu einer beachtlichen, auch an dem neuen Krö-
nungsordo B ablesbaren Ausformung führten.

Dem gedrängten Kap. VIII („Kaiserliche Hegemonie", S.
336-382) folgen die drei zentralen Kap. IX-XI („Gregor VII.".
S-383-452, „Der Hof des Papstes", S. 453-499, mit dem Exkurs
„Königliche Reaktion und bischöflicher Widerstand" S. 500
-519, und „Juristische Theologie", S. 520-552): Mit Gregor VII.
hat die hicrokratische These ihre dauernde und glänzende Gestaltung
erfahren; er hat die in der römischen Kirche verkörperte
justitia in die Form des jus umgewandelt; sein Pontifikat
nat - auch wenn er keinen Anspruch auf Stellvertretung Christi
erhob - die Überzeugung begünstigt, daß solche Stellvertreter-
rechte von Christus an Petrus verliehen worden seien. Die
beiden letzten Hauptkapitcl XII und XIII stellen wirkungsvoll,
wenn auch in ihrer auswählenden Deutung nicht zwingend, die
«Verteidigung der Laienthese" (S. 553-598 : Petrus Crassus,
Benzo v. Alba, die Yorker Traktate, der Liber de unitatc eccle-
«iae conservanda, Theoretiker der Rcgalia) und die „endgültige
Auslegung des hicrokratischen Themas" (S. 599-651: Honorius
v. Cantcrbury, Johannes v. Salisbury, Bernhard v. Clairvaux,
Hugo v. St. Victor) einander gegenüber. Das Schlußkapitel XIV
I> 652-668) betont nochmals den großartigen Versuch des
papstl.ch-hierokratischen Schemas, „die biblische und ganz besonders
die paulinischc Lehre in Regierungsbegriffe zu übersetzen
" (S. 652), spricht zugleich aber auch die hauptsächlichen
Hindernisse für die vollständige Verwirklichung dieses Systems
im späteren Mittelalter an (Einseitige Bemessung der Rolle des
Königs und der Laienbevölkerung, Widerspruch gegen das Axiom
der Amtseignung nur ordinierter Kirchenglieder, Corpus-Idee
der Kirche als Wurzel auch der konziliarcn Bewegung, Rezeption
der aristotelischen Philosophie). Als letzte Aussage begegnet die
Feststellung: „Die päpstlich-hicrokratische Regierungsidee ist
ein historisches Phänomen und erklärbar nur durch historische
Kriterien; sie ist ein klassisches Beispiel für die Evolution einer
Idee." Ein Personen- und Sachregister von 13 S. Umfang macht
den Beschluß.

II. selbst hat in seinem Vorwort (S. XLII) zwei wesentliche,
sein Werk notwendig ergänzende Forschungsanliegen formuliert
: die Darstellung der antipäpstlichen Lehren und der Umsetzung
der kurialen Theorien in die Wirklichkeit, vor allem
seit dem 12. Jhdt. Als weitere lohnende und klärungsbedürftige
Teilthemen zeichnen sich nach dem bisherigen Widerhall
des U.-6chen Buches3 folgende ab: Neubewertung einzelner
Persönlichkeiten wie Leos III. und Gerhochs von Reichersberg*,
der Pluralismus des mittelalterlichen Kaisertums, das Verhältnis
von ecclesia und christianitas, Gewicht und Kontinuität der von
U. gebotenen Systementfaltung und die — vor allem zunächst
einmal innerhalb der katholischen Theologie auszutragende —
Kontroverse, ob das dualistische Prinzip zum Wesensbestand der
katholischen Staatslehre gehört oder nicht. Mindestens das
Verdienst, all diese Fragen neuerdings nachdrücklich in Bewegung
gesetzt zu haben, werden auch die entschiedenen Kritiker
dem vorliegenden Buche nicht absprechen wollen.

Mainz Ludwig Pctry

') Als jüngste Stellungnahme zur deutschen Ausgabe verdient
die von H.Zimmermann in der Hist. Zeitschr. 194, 1962, S. 692-695
eine Hervorhebung.

*) Über ihn liegt die neue, grundlegende Biographie von
P. Gassen (Wiesbaden 1960) vor.

F ä h, Hans Louis: Johannes Duns Scotus: Gottes Dasein und Einzigkeit
. Ordinatio I, d. 2, q. 1 und 3 übersetzt und erklärt.
Franziskanische Studien 44, 1962 S. 192—241.

Otto. Stephan: Augustinus und Bocthius im 12. Jahrhundert. Anmerkungen
zur Entstehung des Traktates „De Deo uno".
Wissenschaft und Weisheit 26, 1963 S. 15—26.

Schauerte, Heinrich: Johannes Tauler in neuer Sicht.
Theologie und Glaube 53, 1963 S. 119—125.

Stadter, Ernst: Offenbarung und Hcilsgeschichte nach Petrus
Olivi (2).

Franziskanische Studien 44, 1962 S. 129—191.
Terschlüsen, Josef: Die Entwicklung der strafrechtlichen Exemtion
dos Franziskanerordens.
Wissenschaft und Weisheit 26, 1963 S. 26—34.

KIRCHENGESCHICHTE: REFORM ATIOJSSZEAT

Gerrijh, B. A.: Grace and Reason. A Study in the Thcology of
Luther. Oxford: Clarendon Press; London: Oxford University
Press 1962. XI, 188 S. 8°. Lw. 30S.

Nachdem die Lutherforschunjg lange Zeit hindurch dem
Problem der Vernunft in Luthers Theologie 60 gut wie überhaupt
keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, ist Mitte der
50er Jahre an drei verschiedenen Stellen unabhängig voneinander
diese Frage in Angriff genommen worden (in der Reihenfolge
der Fertigstellung): B. Lohse, Ratio und Fide6. Eine
Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, Hab.-
Schrift Hamburg 1957, gedr. 1958 (vgl. ThLZ 83, 1958,
Sp. 867—870)1; R. Kuhn, Luthers Lehre von der ratio. Diss.
Thcol. Erlangen (Masch.-Schrift), 1957; B. A. Gerrish, The Place
of Reason. in the Theology of Luther, Diss. Theol. Columbia
University 1958 (vgl. Church History 29, 1960, 91). Während
die Arbeit von Kuhn nur einige Seiten von Luthers Auffassung
von der ratio erörtert und zu der angreifbaren These gelangt,

') «. auch meinen Aufsatz Reason and Revelation in Luther, in:
Scottish Journal of Theology 13, 1960, 337 ff.