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Ausgabe:

1963

Spalte:

525-527

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Heyden, Hellmuth

Titel/Untertitel:

Die Kirchen Stralsunds und ihre Geschichte 1963

Rezensent:

Holtz, Traugott

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 7

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heit: „Den Brüdern wurde gleich von Anfang an zu erkennen am St. Nicolausaltar Dienst zu tun. Von den mehr als 2000 im
gegeben, daß geistige Wahrheit, die eine äußere Gewalt nötig Ratsarchiv erhaltenen mittelalterlichen Testamenten vergißt kaum
hat, falsche Wahrheit sei" (S. 55). eins Spende und Vermächtnis für die Armen. Die Frömmigkeit
Alles in allem: eine wertvolle, unsere Kenntnis berei- der Stadtgemeinschaft war weltoffen. In St. Nicolai vollzog sich
chernde Studie I ein Teil der Regierungstätigkeit (Ratssitzungen, Versammlungen
Amoidshain über Bad Homburg v.d.H. Heinz Renkewi tz der Bürgerschaft, Empfang von Gesandtschaften). Auf den großen
Wallfahrten, etwa nach Canterbury, Vadstena, Compostella,
Heyden, Hellmuth: Die Kirchen Stralsund, und ihre Geschichte. CTledigteman auch seine Handelsgeschäfte. Auf das Brauchtum
Berlin: Evang. Verlagsanstalt [1961]. 320 S., 15 Abb. a. Taf. 8°. einschließlich des Aberglaubens wird verschiedentlich sorgfältig
Lw. DM 7.80. geachtet. So erfahren wir, daß die Verlobung „toschlag" =
Der unermüdliche Erforscher der pommerschen Kirchen- J"S*'ag hjeL "Den Schlag tat der Vater der Braut in Gegengeschichte
- seine zweibändige Kirchengesdiichte Pommerns ist des Bürgermeisters der Ratsherrn und anderer Bürger, zu-
1957 in zweiter Auflage erschienen - legt nun ein Werk über ™" gab, auch der Pfarrer den toschlag (227) Die drama-
Stralsund vor, das zum guten Teil aus den reichen Beständen *ls*-tumultuarisch ablaufende Reformationsgeschichte wird be-
des Stralsunder Stadtarchivs erarbeitet ist. Der Titel läßt ver- ?°"ders farbig geschildert. Wie viele Roheiten und Gewaltsammuten
, daß wir eine Geschichte der imposanten Kirchenbauten *' IV " den £eug,en e*ter Ergriffenheit! Die Persönlichkeit
und ihrer Gemeinden vorgelegt bekommen. Solche Erwartung Ehrenden - Ketelhut, Knipstro, Freder, Aepinus, Schlüsselwird
nur in beschränktem Umfang erfüllt; die kunstgeschicht- °ur* ~ tn" Pjastwcfa hervor. Aus späterer Zeit seien die Kalichen
Fragen im engeren Sinn werden ausdrücklich ausgeschie- T*1 u^r ,d,e Schwärmer, den dreißigjährigen Krieg und Zinzen-
den. Der Akzent liegt eindeutig auf der Geschichte der Kirche "°rrs Ordination in Stralsund hervorgehoben. Ein Hinweis
in Stralsund. Der Singular ist hier besonders berechtigt, weil f„e au* elner kle>nen Konferenz, auf der im Jahr 1850
alle Kirchen bis in die reformatorische Zeit Filialkirchen von Jfj.".Wienern anwesend war und die sich auch mit der Fürsorge
Voigdehagen waren und schon darum eine kompakte Einheit ™r d,e ,m Festungsbau eingesetzten 500 Arbeiter beschäftigte,
bildeten, weil später der Rat die Kirchenhoheit erwarb und sonst- ™ 1». Jahrhundert beim Chaussee- und Eisenbahnbau
kräftig handhabte und weil die evangelische Geistlichkeit sich ™fjfe1,stl,*e Verwahrlosung der großen Arbeiterlager geradezu
so abkapselte, daß von einem „Stralsunder Separatismus" ge- , °™aI war- Ifßt die Notiz aufhorchen. Vieles andere, das zu
sprechen werden konnte (271). Heyden legt wie selbstverständ- lmmer neuer Bewunderung führt, muß unerwähnt bleiben,
lieh das Schwergewicht seiner Schilderung auf das übergemeind- Es fehlt aber auch nicht an Bedenken, die offen auszuspre-
liche Leben, die für alle charakteristische Frömmigkeit und die *e" uns erlauben. Über die Titelwahl sprachen wir schon,
alle gleich stark ergreifende reformatorische Bewegung. Warum Pa6. die Geschichte der Kirchenbauten dürftig ausgefallen ist,
der Titel den Plural bringt, fragten wir uns vergebens. Sprachen Ist be' dem nun einmal führenden Titel enttäuschend. Hier fehlt
Verlagsinteressen mit? Hem Verf. offenbar die intime Kenntnis der Forschungs- und
Heyden hat durch bald zwei Jahrzehnte in der Kirchen- ProblemIage. Es ist anzunehmen, daß nicht nur St. Jacobi ur-
zeitung des Konsistorialbezirkes Greifswald kirchengeschichtliche j>prunghch als Hallenkirche geplant war, denn sie war der Typ
Beiträge veröffentlicht, die auch dem neuen Buch vorausgeeilt °" einwandernden Westfalen. Von dem Vorbild der Lübecker
sein werden. Aus ihnen wird deT schöne volkstümliche Stil Marienkirche, das mit Recht erwähnt wird, sollte man vor dem
stammen, der wünschen läßt, daß geistig Regsame in allen letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts nicht reden. St. Nicolai
Schichten der Bevölkerung das Buch lesen werden. Wie wenig aber war schon 1276 im Bau. Der eigenartige Fall, daß sich 13 30
die Forschung darunter leidet und wie sehr sich gelehrte Vor- ^,ne Frau um Aufnahme in den Kaland bemüht, wird wohl
eingenommenheit verbietet, sei an Beispielen aufgewiesen. besser nicht auf eine legale Priesterehe, die u. E. unmöglich anStralsund
ist ein typischer Fall der verhinderten parochialen genommen werden kann, sondern auf Konkubinat zu deuten
Selbständigkeit bei mittelalterlichen Stadtgründungen. Die Ur- sein; über den man auch sonst natürlich gedacht hat. „Ein recht
Pfarrei Voigdehagen wahrte im Interesse des Landesherrn und originelles Denkmal . .. steht auf dem Friedhof von Surberg im
mit seiner Hilfe die Kirchherrschaft über alle Kirchen Stralsunds, ^-h'emgau. Ein säulenförmiger Grabstein zeigt auf der einen
deren Hauptgeistliche nur Plebane des dörflichen Kirchherrn £eite den P. Gangkler mit dem Kelch, auf der andern Seite die
Waren - eine für eine mächtige Hansestadt unrühmliche Ent- rrarrersköchin mit dem Kochlöffel. Darunter wünscht dem Paare
Wicklung, welche bis in die Wirren der Reformationszeit fort- Rottes Gnade ,enger Sun' = euer Sohn" (M. Simon, Kirchenbestand
. Wenn solches auch sonst vorkam, so bildet es doch die geschiente Bayerns I, 149). G. L. Kosegarten „einen der bedeu-
Ausnahme. „Die nord- und mitteldeutschen Marktgründungen rendsten Vorkämpfer der Aufklärung" zu nennen (265), dürfte
erhielten meist alsbald in ihrer Markt-, später Stadtkirche pfarr- "»cht angehen. Er stand unter starkem Einfluß Klopstocks, Herliche
Selbständigkeit neben älteren Landpfarrgemeinden" (H. E. ders, Schillers und Schleiermachers. Es muß hier erwähnt werden.
Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte I, 1954, S. 367 f.). Daß die daß Kosegarten 1802 in einer Denkschrift an die Regierung
seelsorgerliche Versorgung der Ostseestadt nicht Schaden nahm, - Abdruck in H. Franck, G. L. Kosegarten, 1887, S. 423—436 —
ist den Bürgern zu verdanken, die aus Eigeninitiative ihre gro- seine grimmige Feindschaft gegen den Rationalismus aussprach;
ßen Kirchen bauten, ohne sich durch deren niedrigen rechtlichen darin heißt es: „Wer wüßte nicht unter un6, daß gerade in den-
Rang verwirren zu lassen, den Konventen der Mönche und jenigen Kirchen unseres Landes, worin das Ewige nach den GeNonnen
(Dominikaner, Franziskaner, Brigittinerinnen) und den setzen der verbesserten Grammatik, Metrik und Poetik angebetet
vielen Häusern der Barmherzigkeit. Ein blutvolles Kapitel han- wird, die Zahl der Anbeter mit jedem Sonntage sich vermin-
delt vom Wallfahrtswesen, dem anhand der Quellen bis in die dert?" Doch das Erwähnte sind im Grunde Kleinigkeiten, die
feinsten Verzweigungen nachgegangen wird. Es ist überaus ver- nicht vermehrt werden sollen, damit die kritische Hauptfrage
dienstlich, daß man von einer Hansestadt zuverlässig erfährt, nicht unter ihnen leide. Während die katholische Geschichts-
in welchem Umfang und zu welchen nahen, fernen und fernsten Schreibung unserer Tage ihr traditionelles Bild der Reformations-
Zielen gewallfahrtet ist, wie es geschah und was dabei passierte zeit gründlich revidiert und von der alten apologetischen
Auch sonst wird die Frömmigkeit des Hanseaten mit Liebe und Schwarz - Weißmalerei läßt, spürt man auf evangelischer Seite
großer Sachkunde gezeichnet. Nach Heyden erreicht sie ihre von einem parallelen Bemühen zu wenig und bei Heyden so
höchste Höhe in der immer mehr ansteigenden Zahl der Neben- gut wie nichts. In alter gemeindeapologetischer Art ist das
altäre und Kapellen; die Zünfte, Geschlechter und Bruder- Hauptanliegen darauf gerichtet, die Reformationsgeschichte ins-
schaften haben ihrer mehr als zweihundert errichtet, „Zeugnisse gesamt als Ruhmesgeschichte erscheinen zu lassen was sie nun
der gewaltigsten Laienbewegung, die jemals in der Kirche auf- gerade in Stralsund - nicht ist. Man muß die schlimmen Ausgebrochen
ist" (16). Wir hören, daß zur Zeit des Heringsfangs wüchse die das Buch selbst schildert - die hohlen Hohnreden,
Predigermönche von Stralsund nach Falsterbo geschickt wurden, den Bildersturm, die andern Skandale und Tumulte, die Be-
um auf der sundischen Vitte in der sundischen St. Marienkapelle reicherung der weltlichen Instanzen durch Kirchengut, auch die