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Ausgabe:

1963

Spalte:

491-502

Autor/Hrsg.:

Schille, Gottfried

Titel/Untertitel:

Der Mangel eines kritischen Geschichtsbildes in der neutestamentlichen Formgeschichte 1963

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Theologische Literaturzeitung 8 8. Jahrgang 1963 Nr. 7

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Der Mangel eines kritischen Geschichtsbildes in der neutestamentlichen Formgeschichte

Von Gottfried S c h i 11 e, Borsdorf bei Leipzig

Die methodische Auswertung formaler Kennzeichen der deutung noch kaum eingebüßt. Aber er nutzt die methodischen

Überlieferung zu deren historischer Einordnung nennen wir Möglichkeiten der Formgeschichte doch nicht vollständig aus,

Formgeschichte. Diese ist, abgesehen von einer relativ kleinen sondern opfert die Frage nach dem Sitz im Leben der älteren

Gruppe von Forschern1, heute so allgemein anerkannt, ja, ge- historischen Frage weithin auf. Kurz: Aus der Formgeschichte

radezu eine der Grundlagen neutestamentlicher Forschungsar- wird die ,,Traditionsgeschichte", die mehr nach dem soziolo-

beit, daß wir uns hier deren Begründung im einzelnen ersparen gischen Grundzug des Überlieferungsprozesses fragt. Während

können. Ihre konstruktiven Möglichkeiten wurden programma- man bei M. Dibelius gelernt hat, bei jeder Gattung getrennt

tisch von M. Dibelius für die Evangelienforschung2, die Arbeit nach deren konstitutiven Momenten und der Herkunft ihrer

an der Apostelgeschichte3 und eine ganze Reihe weiterer neu- Eigenart zu fragen, prüft R. Bultmann den Traditionsprozeß

testamentlicher Probleme1 dargestellt. Die Arbeitshypothese be- als ganzen unter dem Gesichtspunkt der volkstümlichen Tradi-

sagt, ein ständig gebrauchter Text nehme vornehmlich im Be- tion, die ihre Form allmählich verlieren (Zerredung) oder in

reich mündlicher Weitergabe die Form an, die seiner Wirkung anderer Gestalt wiedergewinnen kann (legendäre Bereicherung),
am meisten entgegenkommt. Da man allerdings verschiedene

Momente berücksichtigen muß, je nachdem, ob man die Über- 1. Die Stoßrichtung der modernen Kritik an der Formgeschichte
lieferung für eine Missionspredigt, die Gemeindemahnung oder Wie die Formgeschichte selbst auf den ersten Weltkrieg
eine Gemeindefeier verwendet um nur drei von M. Dibelius folgte, so setzt nach dem zwejten We]tkri eine kritische
besonders erwähnte Punkte herauszugreifen unterliegt die Durchsicht der formgeschichtlichen Grunderwägungen ein, sicher
Überlieferung unterschiedlichen Bedingungen, die sich in einer wieder getragen von dem Schw jener Krisenjahre. Fur den
differenten Formgebung niederschlagen. Aus der spezifischen inneren Rückstand der neutestamentlichen Forschung kenn-
Form einer Einzeluberlieferung kann man daher auf deren zeichnend ist ferner, daß diese Kritik auch diesmal, wieder ge-
„Sitz im Leben der Gemeinde sch ießen. Darum ist die Frage nau wie bei der Aufnahme der Formgeschichte im neutestament-
nach der Redegattung eine vordringliche Aufgabe formgeschicht- lichen Bereich überhaupt, auf festere Ergebnisse im Bereich altlicher
Forschung. Daruber hinaus gilt es den Veränderungen te6tamentlicher Forschung zurückblicken kann«. Die Kritik rich-
nachzuspüren, die die Überheferung im Verlauf ihrer münd- tet sich wider das aHzu rasche Übergehen der redaktionellen
lichen oder schriftlichen Weitergabe durchgemacht hat. Es Komponente innerhalb der formgeschichtlichen Methode, und
handelt sich hierbei um die tradihosgeschichthche Komponente man fi„der jetzt auch relativ schnell für die neue Betrachtungs-
des formgeschicht .dien Problems. Schließlich ist der Prozeß der weise einc Bezeichnung: „die Redaktionsgeschichte"7. Möglich
Sammlung zu erklaren, der zu kleineren Überheferungskom- war redaktionsgeschichtliche Arbeit theoretisch schon vor der
plexen und endlich zur Abfassung einer epistolischen Paränese Formgeschichte, und sie ist auch praktisch schon lange vor dieser
oder eines der Evangelien geführt hat. Damit ist die redak- geübt worden. So ist z. B. W. Wredes Messiasgeheimnis* eine
tionelle Komponente des Probleme* angedeutet typisdl redaktionsgeschichtliche Untersuchung». Nur hat sich in-

In den zwanziger Jahren hat eine Mehrzahl neutestament- zwischen die Lage der Forschung insofern methodisch stabili-

lich orientierter Forscher die formgeschichtliche Problematik siert, als die Redaktionsgeschichte das form- und traditionsge-

partiell oder im ganzen angefaßt Unter ihnen ragt R. Bultmann schichtliche Ergebnis immer bereits voraussetzen kann und will,

heraus. Doch verändert sich bei ihm sowohl die Problemstellung Aber während sich das Interesse der älteren Formgeschichte vor-

als auch die Durchführung unter der Hand so stark, daß man nehmlich der vorgelagerten Überlieferung zuwandte, gilt die

wenigstens von einer neuartigen Weichenstellung formgeschicht- Arbeit heute nur dann als einwandfrei, wenn sie die Reflexion

licher Arbeit wird reden müssen. Auch bei ihm beginnt die des Redaktors als selbständigen Faktor berücksichtigt („Redak-

Arbeit am synoptischen Stoff. Aber anstelle der Frage nach tionsgeschichte"). Als nächstliegende Aufgabe des Exegeten

dem Sitz im Leben der Gemeinde treibt er die ältere, aus der gilt die Erhellung der letzten Aussage. Da diese aus der Refle-

literarkritischen Forschung übernommene Frage nach der Histo- xion des Evangelisten gedeutet werden muß, sieht man die

rizität des Stoffes voran, soweit das seinerzeit als möglich er- Redaktion viel tiefer in den Bestand eingreifen, als die Form-

scheint. Er erreicht auf diese Weise eine vollständigere Behand- geschichte annehmen mochte. Traditionsgeschichtliche Arbeit

lung des synoptischen Stoffes und die bessere Aufgliederung in gilt daher ohne Berücksichtigung des aus der letzten Redaktion

Gattungen. In dieser Beziehung hat seine Untersuchung ihre Be- entspringenden Unsicherheitsfaktor6 als nicht mehr möglich.

i) J. Schneider, Der Beitrag der Urgemcinde zur Jesusüberliefe- Allerdings vergißt man dabei heute nur allzu gern, daß die

rung im Lichte der neuesten Forschung, ThLZ 87/ 1962, Sp. 401 ff., „redaktionsgeschichtliche" doch nur eine Seite der formgeschicht-

macht auf eine „ Forschungsriditung" aufmerksam, die der Form- lichen Methode ist, aber kein selbständiges Programm meinen

geschichte relativ oder absolut kritisch gegenübersteht. Das Wahrheits- kann. M. Dibelius10 hatte schon 1919 unter anderem auch eine

moment dieser Kritik ist a) die Betonung der Urheberrolle Jesu für gültige Erfassung der Redaktion im Auge, wenn er eine solche

den Traditionsprozeß b) die bessere Berucks'^'gung des personalen audl nur im Blick auf Markus skizziert11, übrigens mit einer

gegenüber dem soziologischen Moment, indem auf die Rolle und Kon- . ;„ -r„r Chm,1» „n^A„r,^^ u n -i i -i. t-

trolle der Apostel geachtet wird, und c) der Argwohn wider die An- bl .ZUr StUnde ""Versprochenen Beurteilung des ältesten Evan-

nahme einer besonderen Produktivität des Traditionsprozesses selbst. gel,ums lm ganzen, insofern enthält die Redaktionsgeschichte

Doch hat der Begriff „Sitz im Leben" nur dort heuristischen Wert, zwar elne notwen<hge Korrektur zur älteren Formgeschichte, ist

wo eine ständig wiederkehrende Situation (Predigt, Taufe, Lehre usw.) selbst aber nur ein Nachtrag zu dem längst formulierten Pro-

durch ihre Wiederkehr zur Einschleifung des tradierten Wortlautes gramm. Wer die Redaktionsgeschichte als selbständige Arbeits-

führt, während die Frage nach dem „ersten Sitz im Leben", d. i. nach weise betrachtet, wird die traditionsgeschichtlichen Erkenntnisse

der Situation, aus welcher heraus Jesus ein Wort prägte (vgl. J. Jere---

mias, Die Gleichnisse Jesu, 19522, S. 16), höchstens zusätzlich gestellt, ") vg'- die Notiz bei H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 1957',

aber auf formgeschichtlichem Wege kaum noch methodisch beantwor- S. 3, Anm. 3, zweiter Absatz.

tet werden kann. Audi im neutestamentlichen Bereich sollte man sich 7) Zur Sache: H. Conzelmann, Die geographischen Vorstellungen

streng an Bedeutung und Möglichkeiten der im alttestamentlichen im Lukasevangelium, Diss. Tübingen 1951; Die Mitte der Zeit. Zum

erprobten Methodik halten. Begriff: W. Marxsen, Der Evangelist Markus, 1956, S. 11, Anm. 1.

s) M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 1919. M) W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, 1901.

3) M. Dibelius, Stilkritisches zur Apostelgeschichte, Euchariste- *) Redaktionsgeschichtlich arbeiten ferner: K. Kundsin, Topolo-
rion für H. Gunkel, 1923, II S. 27 ff. (in: Aufsätze zur Apostel- gisdie Überlicferungsstoffe im Johannes-Evangelium. 1925; E. Lohgeschichte
, 1953*, S. 9 ff.). meyer, Galiläa und Jerusalem, 1936.

*) Vgl. besonders M. Dibelius, Zur Formgeschichte des Neuen **) M. Dibelius, Die Formgeschichte de« Evangeliums, 1919,

Testaments (außerhalb der Evangelien). ThR NF 3/1931, S. 207 ff. S. 63 ff.

6) R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 1921; ") Vgl. jetzt M. Dibelius - G. Iber, Die Formeeschichte des Evan-

»*«• geliums, 1961«, S.231 ff.