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Ausgabe:

1963

Spalte:

283-284

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Erasmus, Desiderius

Titel/Untertitel:

Enchiridion 1963

Rezensent:

Beintker, Horst

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283

Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 4

284

KIRCHENGESCHICHTE: REFORMATIONSZEIT

Erasmus von Rotterdam: Enchiridion oder handbüchlin.
Handbüchlein eines christlichen Streiters. Übertr. und hrsg. von
Werner W e I z i g. Graz-Köln: Hermann Böhlaus Nachf. 1961.
126 S., 3 Abb. gr. 8°. Kart. DM 11. 80.

Nach der 1518 bei J. Froben in Basel erschienenen Ausgabe
des bereits 1501 verfaßten Schriftchens des Erasmus wird
hier eine wissenschaftlich verstandene deutsche Ausgabe geboten
. Welzig versieht den flüssig lesbaren Text mit dem erforderlichen
Anmerkungsapparat (Erklärungen historischer Zusammenhänge
und Zitatennachweis). Die Einleitung S. 7—16 gibt
einen Einblick in die moderne Erasmusforschung und die Bedeutung
des Enchiridions, das ja nach Schottenlohers Nachweis
(ARG 45 [l954], 109 ff.) Joh. Poppenreyter, einem sittlich und
religiös fragwürdigen Manne, gewidmet war. Das Enchiridion
oder kurze Lehrbuch nach Art mittelalterlicher Katechismen will
eine Anleitung zum rechten Leben geben. Die anthropologische
Grundlegung bietet der erste, die Beschreibung der Gestalt
christlicher Frömmigkeit der zweite Teil mit Regeln, die in Anweisungen
für Gegenmittel besonderer Laster, die Wollust
obenan, Habgier, Ehrgeiz, Stolz, Zorn und Rachgier, auslaufen.
Die Kritik des Erasmus an den kirchlichen Auffassungen der
Jahrhundertwende, speziell seine beißende Zeichnung des Mönch-
tums verbinden sich hier mit dem humanistischen Anliegen
einer philosophia Christi, die als eine Wiederherstellung
der gut geschaffenen Natur verstanden wird. Luther
hat sich bekanntlich mehrfach scharf gegen die ethische Verfälschung
des Evangeliums durch Erasmus und auch besonders
gegen „catechismum suum" (WA Ti 3, 620, 11) geäußert. Welzig
nennt selbst andere Stellen bei Luther und vergleicht dessen
Predigt über Eph. 6, ein Text, der ja gedanklich als das Pauluswort
, die geistliche Rüstung anzulegen, auch Erasmus bewegt,
mit dem ethisch verstandenen Vernunftchristentum des Erasmus.
„Luthers Worte sind für uns leichter zu vernehmen, seine Auslegung
erscheint uns theologischer. . .. Luthers Streiter ist auf
Gedeih und Verderb seinem Herrn verbunden. Was er aus sich
hat, ist nichts als der S t r o h h a r n i s c h der menschlichen
Vernunft. Anders Erasmus: Er gesteht der eigenen Einsicht
und dem eigenen Wissen wesentliche Bedeutung zu." (12)

Welzig empfindet wohl den Zwiespalt im Enchiridion,
sucht aber die Haltung und Denkweise des Humanisten als Verbindung
von p r e c a t i o und s c i e n t i a verständlich zu
machen. Mit Herder ist er für W. der „sanfte Weise". „Die
docta pietas und die p i a doctrina, die den miles
des Erasmus auszeichnen, weisen untrüglich auf den Geist, in
dem sein Schöpfer aufgewachsen ist, auf die Stille der Schreibzellen
..." (13). „Es gehört zur persönlichen Tragik dieses
Mannes, daß er, der jeden offenen Streit zu vermeiden suchte,
der ständig auf der Suche nach Ruhe und Abgeschiedenheit war,
in einer Epoche ununterbrochener schärfster Auseinandersetzung
lebt." — Ist das aber je eine andere als eine nur literarisch zu
wertende Möglichkeit? Und kann denn diese Frömmigkeit
anders als „literatenhaft" (12) erscheinen? Wenn Erasmus" das
„Studium der heidnischen Dichter und Philosophen empfiehlt",
was nach W. beweise, „welch hohen Wert er auch der Bildung
im profanen Bereich für die christliche Frömmigkeit zumißt"
(12), so hat Luther das ganz entschieden auch und nicht nur in
seiner berühmten Schrift an die Ratsherren, Schulen einzurichten
, getan. Der „Theologie die Errungenschaften des Humanismus
zu vermitteln, die Liebe zur Sprache, die Klarheit und
Ursprünglichkeit der Quellen und die philosophisch-historische
Kritik", was alles nach Welzig „auch ein theologisches Anliegen
war" (12), hat ja nun sicher nicht bloß Erasmus im 16. Jahrhundert
ausgezeichnet, sondern vorrangig auch Luther und Me-
lanchthon. Es ist noch immer zu wenig verstanden, daß Luther
philosophisch gesehen auch ein Wort gegen eine bestimmte Art,
die Philosophie zu treiben, zu sagen hat. Man möchte das heute
bedenken, wo weithin die Größe und Einsamkeit Luthers un-
empfunden bleibt und die „Einsamkeit" des Erasmus interessant
wird. Ohne Frage ist die Zugänglichmachung des Enchiridions
verdienstlich. Überdies enthält es ein biblisch reiches Anschauungsmaterial
, und für den heutigen Leser sind die feinsinnigen

Frömmigkeitsgehalte sicher weniger anstößig als für einen Luther
, der die heimlichen Vorbehalte gegenüber der radikalen
Forderung des göttlichen Wortes klar erkannte. Aber wir sollten
doch vor einer theoretisch so annehmbaren „Tugendlehre
" gewarnt sein, die eben doch das vermeintlich heilsame
ethische Wissen vor das Gebet setzt: „Das Wissen zeigt den
Weg, das Gebet hilft, ihn durchzustehen." (13). Wie gern beruhigt
sich der Mensch mit einer schönen Lehre, statt mit einer
harten Wahrheit zu leben. Vielleicht ist das der in der Sache
gleiche Vorwurf, den Kierkegaard Hegel machte, daß er nämlich
sein schönes Gebäude nicht selbst bewohne, wenn Dürer dem
großen Humanisten Erasmus den gebotenen wirklichen Einsatz
nicht zutraute mit dem von Welzig angeführten spottenden
Wort aus dem Nachlaß: „Hör, du ritter Christi, reith hervor
neben den Herrn Christum, beschücz die Wahrheit" (14).

So interessant, geistesgeschichtlich wichtig und lehrreich die
Ratschläge, die „allgemeinen Regeln wahren Christentums" und
die „Meinungen, die eines Christen würdig sind", bei Erasmus
auch zu lesen sein mögen, so bedenklich ist die hier zugrundc-
gelegte Anthropologie. Noch kritischer müssen die exegetischen
Versuche des Erasmus in dieser Schrift zurückgewiesen
werden. Als Ethik bleibt die Anschauung des Erasmus weithin
im Räume des Gesetzes. Ethische Entwürfe aus Vernunfterkenntnis
und zur Verwirklichung auf den Willen des natürlichvernünftigen
Menschen gestützt, entsprechen einer Theorie des
bloßen Sollens. Unter dem Urteil Gottes bleiben alle derartigen
Versuche immer nur Ethos zum Tode und wir vor Gottes Urteil
Sünder, mögen wir auch persönlich den Eindruck der Vervollkommnung
durch Befolgen unseres Vernunfturteils, menschlicher
Autoritäten oder durch Nachahmen historischer Vorbilder
haben. Wenn die Begegnung mit Christus nach Analogie
solcher ethischen Antriebe erfolgt, ändert sich im Grunde des
Menschen nichts, und das Gebet ist dabei nur eine Hilfe, das
natürliche Vollkommenheitsstreben in Selbsttäuschung voran zu
bringen. Freilich ist bei Eramus allerlei Zwiespältiges in dieser
Sache, aber das neue Leben, die neue Kreatur, um die es bei
der wirklichen Begegnung mit Christus geht, der „Harnisch"
(Eph. 6), der nach Luther „vom himel herab von Gott selbs
gezeigt und gegeben" wird (WA 34 II, 398, 7), ist identisch
mit der Kraft des heiligen Geistes, die im betenden Ja zu
Gottes Urteil nur geschenkt werden kann. Nicht unser „ethisches
Wissen" ist heilsam (13), sondern Gottes Urteil selber,
angenommen und zueigen gemacht unter dem Anspruch und
Zuspruch Gottes in Christus. Erst diese Begegnung hat wirklich
heilsame Folgen.

Jena Horst B e i n t k c r

Schlocmann, Martin: Natürliches und gepredigtes Gesetz bei
Luther. Eine Studie zur Frage nach der Einheit der Gesetzesauffassung
Luthers mit besonderer Berücksichtigung seiner Auseinandersetzung
mit den Antinomcrn. Berlin: Töpelmann 1961. 137 S. gr. 8°
= Thcol. Bibliothek Töpelmann, hrsg. v. K. Aland, K. G. Kuhn,
C.H.Ratschow u. E. Schlink, 4. H. DM 16.-.

Als „raison d'etre" seiner Untersuchung gibt der Verfasser
eine akute Situation innerhalb der Lutherforschung an, mit
Rücksicht auf den Gesetzesbegriff (l).

Nach Ernst Troeltsch finden wir bei Luther eine Doppelmoral
, eine verhängnisvolle Spaltung in Christ- und Welt-
person. Wenn es der Lutherforschung nicht gelingt, mit dieser
Splitterung zurechtzukommen, so ist sie von zwei Alternativen
bedroht: einerseits von der Vergeistigung des Gesetzesbegriffes,
andererseits von dem furchtbaren heidnischen Mißbrauch des
luthersdien Denkens über die lex naturae (7). Absicht des Verfassers
ist es, im Gegensatz zu diesen beiden Alternativen eine
Einheit des Gesetzesbegriffes in der Theologie Luthers aufzuzeigen
. Warum hat die Herausforderung Trocltschs an die
Lutherforschung nicht früher eine Untersuchung dieser Art
heraufbeschworen? Darauf gibt der Verfasser die Antwort, daß
die Forschungsrichtung, der Karl Holl folgte, auf jeden Fall
daran litt, daß sie mit Troeltsch eine falsche Voraussetzung geteilt
hat: man geht von einem Wertbegriff aus, wenn man von
Gerechtigkeit spricht (34). Der Verfasser weist in diesem für
seine Darstellung wichtigen Punkt auf eine schwedische Arbeit