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1963

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

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Neuerscheinungen

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227

Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr 3

228

tionalismus, ja, Mystizismus, nicht wenig Schuld, und zwar vor
allem dadurch, daß sie Brentanos Lehre von der Intentionalität
des Bewußtseins in der Richtung ausbauten, daß das Evidenz-
gefühl des Subjektes das entscheidende Wahrheitskriterium sei.

So ergibt sich die Abfallslinie: Brentano - Dilthey -
Husserl - Heidegger (65, 68, 72 ff., 86 f. u.a.).

Den Theologen dürften besonders die Urteile über Dilthey
interessieren:

„Mit Dilthey haben wir einen Denker genannt, dessen Einfluß
»uf die Entwicklung der Philosophie... in den letzten Jahrzehnten
im Guten wie im Schlimmen außerordentlich ist" (68).

So hoch Diltheys Rang als Begründer der modernen Hermeneutik
ist, einer „Hermeneutik, die er selbst als die Lehre ,von der Kunst des
Verstehens schriftlich fixierter Äußerungen' definiert" (74) — „sorgfältige
begriffliche Untersuchungen und gründliche Analysen lagen ihm
nicht" (76), „in Sachen einer korrekten philosophischen Begriffsbildung
" ist er „nicht über Anfänge hinausgelangt" (78); und sein
bloßes Verstehen wollen hatte „Verzicht auf selbständige kriti-
tische Stellungnahmen" überhaupt — für den philosophischen Zeitgeist
in Deutschland typisch — zur Folge (80).

Zum zweiten aufbauenden Teil ist noch folgendes zu sagen
: Die Philosophie soll dadurch wieder auf wissenschaftliches
Niveau gebracht werden, daß sie endlich daran geht, ihre Grundbegriffe
(die „sokratischen Begriffe", s. bes. 91, 117, 123/4) zu
klären. In gewisser Weise kann hierzu der Neupositivismus Vorbild
sein; man muß aber als dessen Grenze erkennen, daß er
sich nur auf den Begriffen der körperlichen Welt (der Physik
besonders) aufbaut, aber nicht auf denjenigen der seelisch-geistigen
Welt, also den Begriffen der Psychologie und auch der
Ethik (52 f.) (womit auch eine rigorose thematische Beschneidung
des Gesichtsfeldes verbunden ist). Die „sokratischen" Begriffe
6ind aber gerade Begriffe derart, deren Definitionen nicht
durch Induktion, sondern durch „phänologische" (= phänomenologische
, 62) Analyse (grob gesagt: durch einfaches Nachdenken
) zu erreichen sind. —

Hiergegen bleibt zu bemerken, daß Linke u. E. den Wert
der Begriffs definition (nicht Präzision überhaupt) arg überschätzt
. In vielen Fällen müssen sich die Begriffe aus ihrem
Zusammenhang selber definieren. Begriffsdefinition als
selbständiges Problem, als Forschungsziel selber und nicht nur
Propädeutik, führt meist gerade ins Uferlose, weil der Begriff
nach allen Seiten hin offen (.unendlich', Hegel) ist. Probleme
und (ganze) Gedanken, muß die Losung sein. Hat man in einer
„philosophischen Arbeit von mehr als dreiundzwanzig Jahrhunderten
" (91) die sokratischen Begriffe nicht klären können, so
möchte daraus eher folgen, daß dieser Ansatz unzureichend ist,
als daß man sie nun endlich zu klären hätte. —

Vielleicht muß noch ausdrücklich bemerkt werden, daß der
Wert eines philosophischen Buches nur zum geringen Teil davon
abhängig ist, ob es seine Zielsetzungen erreicht und ob
alle Behauptungen .richtig' sind. Der fraglos außerordentlich
hohe Wert des Buches von Linke besteht — abgesehen noch
von dem Alarmsignal, welches sein erster Teil sein und werden
sollte — in vielen kleinen Einzelbeobachtungen (besonders
bezüglich des geistesgeschichtlichen Zusammenhanges von Historismus
, Verstehen und Anbetung des Faktischen sowie des
oftmals umgekehrten Verhältnisses von „Verstehen" und Verständlich
), kurzum darin: daß es nun gerade seine Probleme
nur „behandelt", aber nicht „löst".

Berlin Hans-Georg F r i t r sc he

Bigger, Charles: Speculative Language and Theological Vision.

Anglican Theological Review 44, 1962 S. 365—380.
Frei, Walter: Pascals Denken zwischen Natur und Technik.

Theologische Zeitsdirift 18, 1962 S. 326—340.

Müller-Lauter, Wolfgang: Konsequenzen des Historismus in der
Philosophie der Gegenwart.

Zeitschrift für Theologie und Kirche 59, 1962 S. 226-255.

Radhakrishnan, Sarvepalli: Der Weg und die Möglichkeiten des

heutigen Menschen in der Sicht der Philosophie.

Universitas 17, 1962 S. 929—936.
Russell, John L.: The Principle of Finality in the Philosophy of

A.ristotle and Teilhard de Chardin I.

The Heythrop Journal 3, 1962 S. 347—3 57.

KELIG10NSS0Z10L0G1E

Begemann, Helmut, Dr. theol.: Strukturwandel der Familie. Eine
sozialtheologische Untersuchung über den Strukturwandel von der
patriarchalischen zur partnerschaftlichen Familie. Hamburg: Furche-
Verlag [i960]. 264 S. 8° = Studien zur evang. Sozialtheologie u.
Sozialethik, hrsg. v. H.-D. Wendland, Bd. 6. Lw. DM 19.80.

Der Buchtitel läßt eine soziologische Untersuchung vermuten
. In Wirklichkeit handelt es sich aber um eine theologische
Arbeit, die die Erkenntnisse der Familiensoziologie zur Hilfe
nimmt. Die theologische und soziologische Literatur ist (fast
kann man sagen:) vollständig gelesen und verarbeitet worden.
Dies bezeugen über 50 enggedruckte Seiten mit Anmerkungen.

Staat und beide Konfessionen verbindet die Sorge und
Verantwortung für die Familie. Aber 6ind die Voraussetzungen
und Ziele die gleichen? Ist man sich darüber einig? Für die
evgl. Theologie bricht — meint Begemann — die Notwendigkeit
auf, sich mit dem Naturrecht auseinanderzusetzen und so zu
einer neuen Lehre von den Ordnungen zu kommen. Andernfalls
werde alles sozialethi6che Handeln entweder lediglich
situationsbedingten Entscheidungen entspringen und deshalb zu
keinen konstruktiven, ordnenden und dauerhaften Lösungen
führen können oder nur in restaurativen Bestrebungen 6tecken
bleiben.

Der Verf. sieht den Einstieg dazu in einem Ernstnehmen (und in
einer Beschäftigung der Theologie mit) der Soziologie. Zu diesem Zweck
bringt er in den ersten 3 Kapiteln eine Darstellung der rein soziologischen
Zusammenhänge. Er gibt zuerst (von Riehl und Bebel angefangen
bis heute) einen kurzen Überblick über die vorliegenden Untersuchungen
und charakterisiert dann die Wandlungen: von der patriarchalischen
zur partnerschaftlich verfaßten Kleinfamilie, macht auf die
damit verbundene Desorganisation (Individualisierung, Funktionsverlust
, Ehescheidungshäufigkeit) aber auch auf die neuen Stabilisierungsfaktoren
aufmerksam. Dazu gehören: Die Hochschätzung der
Person, die Entscheidungsfreiheit und Gleichrangigkeit, das Verständnis
der Familie als Solidaritätsgemeinschaft auf der Grundlage von
Vertrauen und Achtung, ein neues Verständnis von Autorität, insbesondere
der väterlichen Autorität usw. Das 4. Kapitel behandelt
veretändlicherweise sehr knapp den römisch-katholischen Ansatz zu
einer Theologie der Familie.

Im 5. Kapitel geht es um die Rezeption des Naturrechts für eine
evangelische Theologie der Familie, also um das Naturrecht bei
Brunner, de Quervain und Barth, in der neulutherischen Ordnungs-
theologic (Eiert, Künneth usw.). Kapitel 6 und 7 untersuchen, wie ich
meine, sehr sorgfältig das Verhältnis von patriarchalischer Familien-
und Kultgemeinschaft im AT und von Oikos und Gemeinde im NT.
Kapitel 8 die kirchl. Überlieferung der patriarchalischen Ordnung.
Diese patriarchalische Ordnung ist aber, wie die Soziologie zeigt, offenbar
nicht mehr zu retten. Wie aber läßt sich die moderne Familie als
Institution theologisch begründen und wie ist das Verhältnis von
moderner Familie und christl. Gemeinde in sozialtheologischer Sicht?
Darum geht es im 9. und 10. Kapitel.

Kapitel 11 und 12 stellen dar, wie Autorität und Gemeinschaft
sich in der partnerschaftlichen christlichen Familie verwirklichen und
wie sie sich im Innenverhältnis (vor allem in der Bindung der sexuellen
Kräfte) und nach außen (z. B. gegenüber den Ehclosen, den Alten
und Alleinstehenden) als Gruppe darstellt — als „Umschlagplatz", auf
dem die Fragen. Werte und Normen von Gemeinde und Gesellschaft
verarbeitet und sozusagen transformiert werden.

Nach dieser kurzen Inhaltsangabe möchte ich etwas Kritisches
6agen.

1. Das Buch informiert gut über den Stand der soziologischen
Forschung. Ein bißchen habe ich die Sorge, daß der Begriff
„Partnerschaft" überzogen wird. Bei einem geschichtlichen
Vergleich ist das Vordringen partnerschaftlicher Elemente auf
den verschiedenen Lebensgebieten offensichtlich, aber doch als
ein Sozialprinzip neben anderen, in den verschiedenen Sozialbereichen
auch unterschiedlich entwickelt. Eine rein partnerschaftlich
strukturierte Familie oder Wirtschaft oder staatliche
Ordnung gibt es nicht.

2. Das Buch informiert auch gut über den Stand der
theologischen Auseinandersetzung auf diesem Gebiet, wenngleich
manche Formulierungen sicher reichlich forsch sind. Von
Emil Brunner sagt der Verf., er nehme die Sünde nicht wirklich
ernst. De Quervain denkt seiner Ansicht nach zu gering von
den Ordnungen, seine Theologie bleibe jenseits der soziologischen
Wirklichkeit, er könne gar nicht zu einer echten Unter-