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Ausgabe:

1962 Nr. 2

Spalte:

140-141

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Braun, Werner

Titel/Untertitel:

Die mitteldeutsche Choralpassion im achtzehnten Jahrhundert 1962

Rezensent:

Moser, Hans-Joachim

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 2

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verbundene Melodie will Moberg als die älteste, d. h. die Originalmelodie
zu des Venantius Fortunatas Gedicht auf das hl.
Kreuz „Pange lingua gloriosi, proelium certaminis" nachweisen.
Dabei wird offenbleiben müssen, ob der Dichter Wort und Ton
zugleich erfand, oder ob er die Melodie als lebendige Singweise
vorfand und parodiemäßig benutzte. Des Verfs. minutiöse Erforschung
von Herkunft und Eigenart dieser Melodie scheint einerseits
zu bestätigen, was schon früher vermutet wurde, daß die
hl. Radegunde von Thüringen den „ungewohnten Ton religiöskirchlicher
, exaltierter Empfindungen" in der Hymnendichtung
des Fortunatus wesentlich beeinflußt habe. Darüber hinaus ergibt
sich, „daß Fortunat dichterisch wie musikalisch an eine in
Südgallien fortlebende Prudentius-Tradition angeknüpft hat".
Diese Beobachtung ist geeignet, unsere traditionelle Auffassung
von dem katastrophalen musikkulturellen Abbau der Völkerwanderungszeit
zu korrigieren.

In den „Kleinen Beiträgen und Miszellen" zur Liturgik bespricht
Georg Kretzschmar „Neue Arbeiten zur Geschichte des
Ostergottesdienstes I". Er sieht diese Bemühungen in ihrem
inneren Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der Osterbotschaft
als Mitte des Evangeliums durch die heutige Exegese
und Systematik. Herbert Goltzen, der der evangelischen Liturgik
in Leiturgia III die erste umfassende Darstellung des „täglichen
Gottesdienstes" geschenkt hat, führt in dem Beitrag „Nocturna
laus / Aus Arbeiten zur Geschichte der Vigil" wesentliche
Forschungsergebnisse der gegenwärtig sehr regen Arbeit auf diesem
Gebiet vor. Sie erweist „die Erneuerung der Osternacht und
anderer nächtlicher Gottesdienste an besonderen Christusfesten
als legitimes Erbe der Christusverkündigung und des Gotteslobs
von den Tagen der Urkirche her". Die römische Kirche
braucht diese Forschung, weil sie vor einer als notwendig erkannten
generalis liturgica instauratio steht. Die Kirchen der
Reformation haben eine bisher fehlende Kenntnis der Geschichte
und Gestalt auch der Tageszeitengottesdienste nötig, wenn das
Hören auf die Heilige Schrift in der Heiligung des Jahres, der
Woche und des Tages recht geordnet und Gotteslob und Fürbitte
reichlich geübt werden sollen. Die Studien von E. Kaehler zum
Tedeum führt W. Thomas unter der Überschrift „Der Herrntags-
Hymnus der abendländischen Kirche" noch um einiges weiter.
H. Heyden befaßt sich mit der „öffentlichen Kirchenbuße in Pommern
": während sie in Preußisch-Pommern bereits 1743 beseitigt
wurde, ist sie in Schwedisch-Pommern erst am Ende des
18. Jhdts. und wesentlich in Auswirkung der Aufklärung verschwunden
. Seit der Reformationszeit in der Mehrzahl der Fälle
mit Ernst und Gründlichkeit gehandhabt, war sie vielleicht
gerade deswegen den schwedisch - pommerschen Landständen in
zunehmendem Maß beschwerlich. Ihre Beseitigung durch die
schwedische Regierung 1772 ist ein Beispiel mehr dafür, wie
gerade in Pommern der absolut regierte Staat der Kirche mehr
und mehr ihre Eigenständigkeit genommen hat, und kam der zunehmenden
Demoralisierung im Zeichen der Aufklärung entgegen
. K. F. Müller gibt schließlich einen Überblick über die große
Monographie von B. Klaus „Veit Dietrich, Leben und Werk"
(Nürnberg, 1958), die auch für den Liturgiker reiches Material
bringt.

Die „kleinen Beiträge und Miszellen" zur Hymnologie enthalten
so vielseitige Themen, daß ich sie hier nur zu nennen vermag
: „Christ ist erstanden". Zur Geschichte des Liedes. Von
W. Lipphardt. — „Christe, du Schöpfer aller Welt". Von S.
Fornacon. — Frater Domaslav (Domaslaus), der älteste bekannte
Sequenzendichter Böhmens. Von J. Vanicky. — Luthers Liedauswahl
. Von K. Ameln. (Das von ]. Klug in Wittenberg gedruckte
Haus- und Gemeindegesangbuch, aufgelegt 1529, 1533,
1535, 1 543 ff., ist nicht nur im Inhalt, sondern auch nach seiner
Anordnung weitgehend von L. beeinflußt und hat als das „offizielle
Gesangbuch" der lutherischen Reformation zu gelten.) —
Zu den Lutherliedern im jonischen Oktavraum. Von U. Aarburg.
— „Nun freut euch, lieben Christen gemein" im Liederbuch der
Anna von Köln. Von P. Alpers. — Ein Brief von Sixt Dietrich
über Luther und die Kirchengemeinde in Wittenberg. Von M.
Jenny. — Zu Johann Walters Stellung als Hofkapellmeister in
Dresden. Von K Brinkel. — Die Autoren der Genfer Melodien.
Von P. Pidoux. — „Es ist ein Ros entsprungen". Von K. Ameln.

— „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr." Von E. Sommer. — „Wie
schön leuchtet der Morgenstern" im Briefwechsel von Goethe
und Zelter. Von R. Jauernig. — Hymnologische Forschungen in
der Tschechoslowakei. Ein Literaturbericht. Von C. Schoenbaum.

Ein Arbeitsmittel, das der auf dem Gebiet der Liturgik oder
Hymnologie Tätige kaum mehr entbehren kann, ist der umfassende
Literaturbericht (S. 166—271), der außer nachgeholten Besprechungen
wichtiger älterer Veröffentlichungen die Literatur des
Jahres 195 8 behandelt; die Literatur zur Textgeschichte der
Bibel, zur Taufe in der Alten Kirche und im Mittelalter und zur
christlichen Archäologie mußte freilich dem nächsten Band vorbehalten
bleiben, während die Literatur zur Patristik und zum
frühen Mittelalter erst teilweise behandelt ist. Den Titeln wichtiger
Erscheinungen sind wieder Kurzbesprechungen angefügt.
Besonders zu begrüßen sind die Überblicke übeT die Literatur
zur Liturgieforschung in Schweden (1958), Finnland (1958/1959),
Dänemark (1957/1958), Norwegen (1958), Frankreich (1958),
Großbritannien (1958) und in der Slowakischen Evangelischen
Kirche. Zur Hymnologie wird ein die ältere Literatur behandelnder
Bericht aus Frankreich vorgelegt. Auch hier besteht das Ziel,
ähnliche Übersichten aus anderen Ländern künftig bieten zu
können.

Die 8 Faksimile - Wiedergaben bereichern das Buch in besonderer
Weise: etwa die älteste Quelle des Osterliedes „Christ
ist erstanden" oder Martin Schallings Autograph des Liedes
„Herzlich lieb hab ich dich, o Herr" wird der, dem diese Lieder
viel bedeuten, nur mit innerer Bewegung vor 6ich sehen.

Der Dank für diesen reichhaltigen Band wird nicht nur den
Herausgebern zu gelten haben, die uns wieder dieses treffliche
Arbeitsmittel geschenkt haben, sondern auch den Landeskirchen,
deren finanzielle Mithilfe die unentbehrliche Voraussetzung für
sein alljährliches Erscheinen bedeutet.

Greifswald William Nagrl

Braun, Werner: Die mitteldeutsche Choralpassion im achtzehnten
Jahrhundert. Berlin: Evang. Verlagsanstalt [i960]. 228 S. 8*. Lw.
DM 14.80.

Eine hallische musikwissenschaftliche Habilitationsschrift, die
zu den bestgeschriebenen und ertragreichsten Arbeiten dieser
Wissenschaftssparte während der jüngsten Jahre zählt. Den
„Aufhänger" des Themas bildet eine Mitteilung Max Schneiders,
der der Lehrer des Verfs. war, in der Zeitschrift der Internationalen
Musikgesellschaft 1905/06, daß an abgelegenen Orten der
Provinz Sachsen die alte, längst abgeschafft geglaubte Sitte noch
lebe, die Leidensgeschichte in der Karwoche mit verteilten Rollen
formelhaft (c h o r a I i t e r improvisierend) abzusingen. Braun
hat nun mit rastlosem Fleiß diese Erscheinung in den großen geschichtlichen
Zusammenhang der Passionsvertonungen seit dem
Frühprotestantismus bis zum Endpunkt gedruckter Historien
(teils in Gesangbüchern, teils in Einzelquellen) anno 1803 gestellt
, auch in mitteldeutschen Pfarrarchiven und Bibliotheken
ein reiches, bislang fast unbekanntes Handschriftenmaterial aufgestöbert
und umsichtig auch liturgiegeschichtlich ausgewertet.
Da er die motettische Passion ebenso wie die oratorienverwandte
nur am Rande streift (zu ersterer hätte er noch die von mir ergänzte
Klagenfurter Passion des Thüringers Johs. Herold, Graz
1594, NA in Federhofers Reihe, zu letzterer die Hamburger
Postelpassion nach Johannes, 1704, NA v. H. Heilmann, Merseburger
mit Gewinn heranziehen können), so enttäuscht ein wenig
der Ertrag für das Schaffen der Großmeister Schürz und Seb. Bach.
Aber vom Standpunkt des eigentlichen Themas aus hatte der
junge Forscher recht, seine Untersuchung mehr heimat- und
volkskundlich denn artistisch einzurichten, wiewohl die geistes-
geschichtlichen Belange — Wendung aus der Orthodoxie zum
Pietismus, Rationalismus, der Empfindsamkeit — keineswegs zu
kurz kommen. Er gruppiert den Stoff und dessen Auswertung zu
den Hauptabschnitten „Die Notendenkmäler", „Die Textdenkmäler
", „Die Choralpassion im Gottesdienst"; der erste dieser
drei wird wieder dreifach gegliedert: Rückblick auf die älteren
Typen am Evangelien-, dann dem Passionston entlang, wofür die
Formungen der Turbae durch Jakob Meiland, dann Melchior Vul-
pius 6tellenweis bis an die Schwelle zum 19. Jhdt. nachwirken