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Ausgabe:

1962 Nr. 2

Spalte:

132-133

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ott, Heinrich

Titel/Untertitel:

Dogmatik und Verkündigung 1962

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 2

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vor uns. Und jetzt ein sehr bedeutsamer Gedanke: „Die Macht,
welche die physikalische Gegenständlichkeit über die heutige
Menschheit ausübt, darf nicht dazu führen, diese Gegenständlichkeit
mit der Wirklichkeit schlechthin zu identifizieren" (89).
Warum aber dann dieses Schlußergebnis? „Die Rede von der Auferstehung
der Toten aber meint, ernst genommen, etwas, was
mit der physikalischen Lehre von der Verwesung als dem endgültigen
Ende jeglichen Bewußtseins in genauem Widerspruch
steht. Was solcherweise mit der Physik streitet und doch nicht, als
mythisch gemeint, der Kompetenz der Physik entzogen ist, muß
als unglaubwürdig verworfen werden" (90). Wie also, wenn das
in der Sprachweise Bröckers nun doch gerade mythisch gemeint
ist. Ist es dann auch der Unglaubwürdigkeit unterworfen? —

Die Arbeit hat nicht ganz zu Unrecht ein gewisses sensationelles
Aufsehen hervorgerufen. Wir lesen bei Buhr Sätze wie
diese: „Vielleicht paßt Apoll nicht auf einen Oberkirchenrat,
oder gar Aphrodite" (36). Da wird von den konfessionellen
oder landeskirchlichen Leisten gesprochen, auf den Hölderlin-
Hymnen nun einmal nicht passen (43) und anderes mehr. Es
wird also immerhin eine recht streitbare Sprache gesprochen.
Auch die so realistisch-radikale Abfertigung jeglicher postmortalen
Wirklichkeit, wie Bröcker sie vollzieht, macht aufhorchen.
So könnte es also wohl sein, daß manchem hier der Atem verschlägt
und dann die Sache mit solcher Form zugleich zugedeckt
wird. Damit ist aber der Sache, um die es den beiden Autoren nun
einmal geht, nicht gedient. Wo aber liegt diese eigentliche Sache,
die schließlich in einem bestimmten Sinne beiden Autoren gemeinsam
ist und um deretwillen sie sich auch in diesem Bande
zusammenfinden konnten bei aller Differenz ihrer Positionen, die
nicht übersehen werden darf? Bei letztem Ernstnehmen, und wer
wollte die Leidenschaft der Klage und Anklage Buhrs überhören,
stoßen wir hier auf eine Diskrepanz im Wirklichkeitsverständnis.
Sie spricht sich bei Buhr in der Koexistenzformel Christus und
Herakles und Bacchos aus. Bei Bröcker in der Kritik an einem rein
physisch verabsolutierten Wirklichkeitsverständnis gegenüber
einer mythischen Wirklichkeitserfahrung. Buhr und Bröcker haben
es nicht direkt gesagt, aber ihrer ganzen Haltung und Darstellung
zufolge wissen sie nur allzugut um die Wirklichkeits-Entfremdung
und Wirklichkeits-Aufspaltung bzw. Selbstentfremdung
als allgemeines geistiges Phänomen unserer Zeiten. Und sie
verspüren, wie jeder von uns, wie gerade die christliche Existenz
an diesem Wirklichkeits-Verlust partizipiert. Nicht umsonst bewegt
6ich ja diese ganze Darstellung in dem Problem-Horizont,
der mit den Namen Bultmann und Bonhoeffer signalisiert wird
(Bultmann S. 12 — Bonhoeffer S. 107). Daraus aber folgt die andringende
Frage: Ist der Weg einer Koexistenz zwischen Christus
und den olympischen Göttern, die hier ja für die in der christlichen
Existenz unterdrückten und verlorenen Wirklichkeitsbereiche
stehen, wirklich ein legitim theologischer Lösungsweg, um
zu einer ganzen ungebrochenen Wirklichkeit durchzustoßen? Läßt
sich dieser Weg einer Koexistenz in der Areopag-Rede des Paulus
unterbringen? Auch des Paulus von Phil. 3, 8? — Und die gleiche
Frage müßte an Bröcker gerichtet werden und dann 60 lauten:
Stehen denn wirklich jene beiden Erkenntniswege der Physis
und des Mythos, man könnte ja wohl auch sagen des Logos und
des Mythos, zueinander in jenem konsequenten Ausschlußverhältnis
, daß die Physis jemals in der Lage wäre, den Mythos Lügen
zu strafen? Ist das denn wirklich das Verhältnis von Theologie
und Naturwissenschaft, wie wir es heute neu zu verstehen beginnen
? Oder redet hier nicht Bröcker noch von einer Sicht der Dinge
her, wie wir sie zum Ausgang des 19. Jahrhunderts sahen? Wird
hiet nicht bei Bröcker der Wirklichkeits-Aufspaltung gedient? —
Wie dem nun auch sein mag, das eigentliche Thema, das hier bei
Buhr und Bröcker zur Sprache kommt, das ist die Frage nach der
Wirklichkeit als ganzer. Genauer gefragt: hier geht es darum, ob
eine universelle Ontologie so in Anschlag gebracht werden kann,
daß in dieser und mit dieser der Weg über jene Wirklichkeits-
Aufspaltung hinausführt. Ich weiß sehr wohl, daß das ein sehr
problematisches Unterfangen ist. Ich glaube aber, daß Paulus und
auch Johannes aus solcher fundamental - ontologischen Haltung
heraus gesprochen haben. — Und hätte nicht gerade Martin
Heideggers Fundamental - Ontologie Buhr und Bröcker anregen
«ollen, einmal in die Richtung einer solchen umgreifenden Ontologie
zu denken? Heinrich Ott1 deucht mir hier wenigstens in den
programmatischen Ansätzen wesentlich weiter zu sein und über
das hinaus zu sein, was hier zu vernehmen war.

Herlin Otto D i 1 s ch ar ide r

') Heinrich Ott, Denken und Sein, 1959.

Ott, Heinrich: Dogmatik und Verkündigung. Ein Programm dogma-
, i tischer Arbeit, dargestellt im Anschluß an die Fragen 1 bis 11 des
""Heidelberger Katechismus. Zürich: EVZ-Verlag [1961). 148 S. 8*.
Kart. DM 12.80.

Ott — der Schüler Barths und Bultmanns — zeigt in einem
weiteren Buch seine Bemühungen, die Dogmatik auf die Höhe
der Einsichten der Zeit und in den Schnittwinkel ihrer vorwärtsweisenden
Linien zu bringen, und er gibt in diesem neuesten
Buch zugleich einen Eindruck von seiner Lehrtätigkeit (denn
„dieses Buch enthält das überarbeitete Manuskript" von in Basel
und Bonn gehaltenen Vorlesungen, S. 7). Der erste Eindruck ist
ein sehr guter: Klarheit, Verständlichkeit, zusammenfassende
Thesen sowie ein Bewußtsein darum, daß „die dogmatische Besinnung
in jeder Generation neu einsetzen" (7 f.) muß, „Theologie
muß weitergehen" (7). Am Ende der Lektüre hat man
jedoch das Empfinden, daß es Ott nicht gelungen ist, an den
Fragen 1 bis 11 des Heidelberger Katechismus den theologischen
Fortschritt Barths und Bultmanns zum Zuge zu bringen. Dazu
wird die Klarheit und Durchsichtigkeit der Gedankenführung
Ott insofern zum Verhängnis, als in ihr das Fragwürdige, ja, oftmals
Leere gewisser zeitgenössischer Argumentationen und Formulierungen
erst so recht deutlich wird.

Der I. Hauptteil entwickelt an Hand der Fragen 1 und 2 des
Heidelberger Katechismus das „Programm" für eine dogmatische
Konzeption, die „Dogmatik und Verkündigung als Entfaltung
des einen Kerygmas" (31) in sich befassen soll. Zum Verständnis
dieses Programmes, dessen zusammenfassende Grundsätze nachher
zitiert werden sollen, sei auf folgende zwei Dinge — zugleich
referierend wie Bedenken andeutend — der Finger gelegt:

1.) Wenn der Heidelberger Katechismus mit der Frage einsetzt
,Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?' und
wenn er hierauf die Antwort gibt, ,daß ich ... Jesu Christi eigen
bin' und daß Gottes Vorsehung über mir waltet, so ist es gewiß
logisch möglich, dem dadurch Aktualität zu verleihen, daß man
das Negative scharf betont: daß ich nicht mir selber
eigen bin und nicht mir die Welt verfügbar ist (41). Und doch
ist damit die theologische Intention des Heidelberger Katechismus
nicht wenig verschoben, grob gesagt: von den „Heilstatsachen
" zur Erhellung der Ungesichertheit der menschlichen
Existenz (40 f.), auch wenn Ott die Formulierung wagt „Wir
glauben nicht an Heilstatsachen, sondern wir glauben an Gott"
(34). Die genannte Verschiebung ist im weiteren besonders dadurch
gekennzeichnet, daß die Zentral begriffe der Konzeption
Otts „Entscheidung" und „Verantwortung" heißen, Begriffe, an
denen weniger „die Wendung zum Menschen" (8 f.) Besorgnis
erregt als ein damit verbundenes — und die ganze Schrift Otts
durchziehendes — Überwuchern von Gesetz und Anspruch über
Evangelium und Zuspruch (s. bes. 36/37, 42, 118, 124, 126).

2.) Ist der Ausgangspunkt also der Aufweis der Situation des
Menschen und wird diese eis in der Sünde = im Elend befindlich
dargetan, so hat das sofort die Konsequenz, daß die Einsicht in
Schwäche und Unvermögen des Menßchen zum Hebel des Heils
gemacht wird, auch wenn Ott — um Barths Protest hiergegen
wissend, 63 ff., 47 — eine „Stv.fung" von Gesetz und Evangelium
und das Gesetz als „selbständige Vorbedingung" (65) ablehnt.
Nichtsdestoweniger bleibt es dabei: „Der Aufweis der Situation
des Elends muß geleistet werden, damit die Gnade verstanden und
ernst genommen werde" (65). Und daß trotz Barth und Bonhoeffer
eine erstaunlich massive Kontrast-Theologie die Konzeption
Otts durchzieht, zeigt die Zusammenfassung seines Programmes
:

„Betrachten wir zunächst die Verkündigung: Sie vollzieht sich
nach dem Schema der ,drei Stücke'. Sie zeigt erstens dem Menschen
seine Sünde und sein Elend; sie läßt ihn seine eigene Situation vor Gott
erkennen ... Sie redet ihm zweitens von Gottes Tat, die ihn in seiner
Sünde und seinem Elend trifft; sie zeigt ihm auf, wie Gott ihm gerade