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Ausgabe:

1962 Nr. 2

Spalte:

89-100

Autor/Hrsg.:

Vinay, Valdo

Titel/Untertitel:

Der Anschluß der romanischen Waldenser an die Reformation und seine theologische Bedeutung 1962

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 2

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anwesenden Schöpfer und seiner als Wortgeschehen zu verstehenden
Schöpfung seit je besteht.

Dazu dürfte die Ausarbeitung des neutestamentlichen
Reich-Gottes-Begriffes, dessen Energien in allen
modernen Geschichteentwürfen und Sozialgedanken virulent sind,
erhöhte Dringlichkeit gewinnen. Ist doch gerade von ihm aus die
Verwobenheit der Zeitlichkeit mit der von L. intendierten Ewigkeit
, von Kontingenz und Konstanz allen geschöpflichen Geschehens
aufweisbar11.

Wahrscheinlich hängen unsere Bedenken sachlicher und methodischer
Art mit der von L. bezogenen und von uns zu respektierenden
Grundhaltung des „Skeptizismus" zusammen.

1919, 1929s, „Grundbegriff — zwischen Mensch und Gott, Mensch und
Mensch" (L, 69).

") Die wesensmäßige Zuordnung der Raum- und der Zeit-Dimen-
6ion habe ich im Reich-Gottes-Begriff des synoptischen Jesus aufzuzeigen
versudit, in meinem Budie: Aller Tage Tag, 1960, 133 ff. Vgl.
auch meinen Artikel „Reich Gottes: III", in: RGG3, IV, 924 ff.

Sagt er doch selbst, seinen eigenen Standpunkt interpretierend:
,,Der .Skeptizismus' ist die philosophische Haltung, die, statt extreme
Fragen zu stellen, die notwendig auf dogmatische Lösungen
zielen, die Problematik als solche klar stellt und aufrecht
erhält — unter Verzicht auf vorschnelle Lösungen. Der
Skeptiker ist der einzige Intellektuelle, d. h. wörtlich Einsichtige
und genau Nachsehende (skeptomai), der noch daran glaubt, daß
man etwas wissen — und auch nicht wissen könne" (92). Aber
besagt dieser „Skeptizismus" wirklich mehr und anderes als der
anspruchslosere Begriff „Kritik"? Und — sollte die dem „Skeptiker
" gestellte Aufgabe nur seine Spezialität sein? Anders gesehen
und gesagt: wie weit muß die gegenwärtige Dogmatik von
ihrer 6ach-kritischen Arbeit abgeirrt sein, daß ein Philosoph von
Rang in ihr nicht mehr eine Gesinnungs-Verwandte und eine
Arbeits - Gefährtin zu erkennen vermag!

Als Theologe und gerade als Dogmatiker wird man sagen
müssen: diese Kritik an der geschichtlichen Existenz ist sicher
keine Schalmei, und noch weniger nur eine Fanfare — wohl aber
ein Signa], das nicht ins Leere verhallen sollte.

Der Anschluß der romanischen Waldenser an die Reformation und seine theologische Bedeutung

Von Valdo V i n a y, Rom

Das Echo der Reformation erreichte in den zwanziger Jahren
des 16. Jahrhunderts die romanischen Waldenser1 in Piemont und
Südfrankreich besonders durch die Predigt Farels im Dauphine
(1522) und Wallis (1526). Im Jahre 1 5 30 behandelte das Consi-
lium Generale (d. h. die jährliche Versammlung der waldensischen
Prediger, die nach dem Anschluß an die Reformation Synode genannt
wurde) in Merindol (Provence)2 die Frage der Reformation
und sandte zwei Barben (d. h. Wanderprediger) Georges Morel
aus dem Dauphine und Pierre Masson aus Burgund, mit einem
Brief (wohl von Morel verfaßt), der gleichzeitig Vorstellungs-
sebreiben und Fragebogen sein sollte, zu den schweizerischen und
oberdeutschen Reformatoren, damit sie sich über deren Lehre erkundigten
. Die zwei Barben besuchten Farel in Neuenburg und
Murten, Haller in Bern, Oekolampad in Basel' und Butzer und
Capito in Straßburg. Die Gespräche waren sehr freundlich und
aufschlußreich. Nur von Oekolampad und Butzer sind uns
schriftliche Antworten überliefert worden4.

Die Fragen der Barben bezogen sich auf die Lehre, die Frömmigkeit
und die Ethik. Die Waldenser waren besonders durch
die Lehre von der Prädestination und dem unfreien Willen beunruhigt
. Nachdem die zwei Barben Oekolampad darüber gehört
hatten, waren sie nicht ganz befriedigt, so daß sie auch die elsäs-
sischen Reformatoren hören wollten. Die Antworten Butzers
stimmten wesentlich mit denen Oekolampads überein. Dann
kehrten die zwei Barben zurück; aber Masson wurde auf der
Rückreise in Dijon verhaftet und hingerichtet. Morel konnte
Merindol erreichen und die Ergebnisse seiner Reise mitteilen.
Er übersetzte seinen Fragebogen wie die Antworten der Reformatoren
in den waldensisch-provenzalischcn Dialekt und bearbeitete
das Ganze in einer neuen Schrift'". Im Jahre 1531 verfaßte er ein
Glaubensbekenntnis mit 14 Artikeln", in welchem der reforma-

') Für die Literatur bis 1952 vgl. Armand Hugon, Augusto —
Gönnet, Giovanni: Bibliografia Valdese. Torre Pellice: 1953 = Bol-
lettino della Societä di Studi Valdesi LXXIII (1953), N. 93, S. 131 ff.

!) Jalla, Jean; Farel et les Vaudois du Piemont, in „Guillaume
Farel, 1489—1565, Biographie nouvelle. .. par un groupe d'historiens".
Neuchätel-Paris: Delachaux & Nicstle 1930, S. 290.

3) Vgl. Herzog, J. J.: Die romanischen Waldenser, Halle 1853,
S. 340.

*) Abrah. Scultctus veröffentlichte den Brief Morels an Oekolampad
und dessen Antwort an die waldensischen Gemeinden in „Annalium
evangclii passim per Europam deeimo-quinto salutis partae saeculo
renovati dec. II". Heidelberg 1620, SS. 295—315. Beide Briefe sind
abgedruckt in Dicckhoff, A. Wilh.: Die Waldenser im Mittelalter, Güttingen
1851, SS. 363—369 bzw. 369—373 (zit.: Dieckhoff). J. J. Herzog
veröffentlichte den Brief Butzers in „Zeitschrift für die Historische Theologie
" III (1866). SS. 3 1 3—338 : Ein wichtiges Document betreffend die
Einführung der Reformation bei den Waldenscrn (zit.: Herzog).

5) Vgl. Herzog: Die romanisdien Waldenser, S. 3 50 ff.

*) Veröffentlicht In Pcrrin, Jean Paul: Histoire des Vaudois. Genevc

torische Einfluß deutlich ist. Es sollte die Waldenser für die neue
Lehre günstig vorbereiten.

Die Frage nach einem eventuellen Anschluß an die Reformation
schien schwerwiegend zu sein, und die Waldenser entschieden
, ein Consilium Generale erst für den Sommer 1532 einzuberufen
, damit auch die Barben der entferntesten Gegenden von
Apulien an ihr teilnehmen könnten. Diese Versammlung fand
vom 12. — 18. September 1532 in Chanforan (Angrogna-Tal in
den Cottischen Alpen) statt7. Farel und Antoine Saunier, der damals
Prediger bei Payerne war, nahmen an ihr teil. Wie es
scheint, beherrschte Farel die Versammlung mit seinen feurigen
Reden. Alle Thesen der Reformatoren wurden angenommen, so
daß die Waldenserbewegung 6ich in eine reformierte Kirche umwandelte
. Der Widerstand gewisser Waldenserkreise 6oll bedeutend
gewesen sein. Zwei Barben, Daniel de Valence und Jean de
Molines, kamen, vielleicht als Vertreter der Opposition, nach
Mladä Boleslav in Böhmen mit der Hoffnung, die moralische
Stütze der Böhmischen Brüder für sich zu gewinnen, um dem
Einfluß der schweizerischen Reformatoren unter ihren Glaubensgenossen
entgegenzuwirken". Nach einem halben Jahr kehrten
die zwei Barben mit einem mahnenden Brief der Böhmischen
Brüder zurück". Die Böhmen meinten, die Waldenser sollten sich
von den schweizerischen Unruhstiftern10 nicht verführen lassen.
Aber ein neues Consilium Generale (Pralyl533) bestätigte die
Entscheidungen von Chanforan, und die zwei altgläubigen Barben
schieden aus der Gemeinschaft aus.

1 • Waldenserlehre und Frömmigkeit nach
der Darstellung des Barben Morel.

Um die theologische Bedeutung des waldensischen Anschlusses
an die Reformation zu verstehen, muß man vor allem hören,
was Morel, Oekolampad und Butzer in ihren bereits erwähnten

1618—19, I, S. 79 ff.; vgl. Revel, Alberto: I simboli della Chiesa Valdese
in „La Rivista Cristiana" V (1877), S. 507 ff.

7) Gönnet, Giov.: Beziehungen der Waldenser zu den oberdeutschen
Reformatoren vor Calvin, in „Zeitschrift für Kirchengcschidite"
LXIV (1952—53), S. 308 ff.; Dcrs.: I rapporti tra i Valdesi franco-
italiani e i Riformatori d'Oltralpe prima di Calvino, in „Ginevra e
l'ltalin, raecolta di studi promossa dalla Facoltä Valdese di Teologia di
Roma", Firenze: Sansoni 19 59, S. 1 ff.; Ders.: Les rclations des Vaudois
des Alpes avec les Reformatcurs en 1 532, in „Bibliotheque d'Huma-
nisme et Renaissance", T. XXIII, Gencve 1961, S. 34 ff.

s) Über die Beziehungen der Waldenser zu den Böhmischen Brüdern
vgl. Molnär, Amedco: Luc de Praguc et les Vaudois d'Italie, in
„Bollcttino della Societä di Studi Valdesi (zit.: Boll. St. Vald.) LXX
(1949), N. 90, S. 40 ff. und Les Vaudois et la Reforme tcheque, in Boll
St. Vald. LXXVII (1958), N. 103, S. 37 ff.

") H.-rminjard, H.-L.: Correspondance des Reformatcurs dans les
pays de Ian°ue francaise. Gcneve-Paris Bd. III (1870), S. 63 ff

'") Ebenda. S. 67.