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Ausgabe:

1962

Spalte:

67-69

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Seifert, Paul

Titel/Untertitel:

Die Theologie des jungen Schleiermacher 1962

Rezensent:

Schultz, Werner

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anrufen für jeden Schwindel. Sie sind Meister der Redlidikeit
und stellen Denkmethoden zur Verfügung, jede Wahrheit verschwinden
zu lassen. Sie lockern auf, daß jeder zu sich selbst
komme, und sie vernichten im Strudel des Nihilismus. — Daher
ist es unmöglich, ihnen als Lehrern zu folgen. Aber jedes moderne
Philosophieren wäre unzureichend, das nicht ihr Fegefeuer
in der Fragestellung erfahren hat bis in jeden Winkel, in dem
man sich verbergen oder befestigen möchte." Jaspers ist „überzeugt
, daß weder Theologie noch Philosophie sich auf K. gründen
können. Jene Gründung vor vierzig Jahren war nicht das
Gewinnen eines neuen Bodens, es war das Erwachen aus einem
Schlaf" (153). Beide — K. wie Nietzsche — markieren aber mit
dem Ende zugleich einen Anfang. „Sie zeigen zwar nicht den Weg
und nicht den Gehalt der Wahrheit. Aber sie erregen zu dem
Emst ohne Illusionen" (vom Rez. hervorgehoben).
Beide „haben uns die Augen geöffnet. Wer es erfahren hat, dem
war zumute, als ob ihm der Star gestochen sei. Nun ist die Frage,
was mit den geöffneten Augen gesehen, und was dann gelebt und
getan wird" (157).

In der Gruppe III (275—380) werden die Fragen des „europäischen
Geistes", der „Bedingungen und Möglichkeiten eines
neuen Humanismus", der „Gefahren und Chancen der Freiheit"
und — wohl am aktuellsten — des „Gewissens vor der Bedrohung
durch die Atombombe" erörtert. — Den Schluß bilden zwei Darstellungen
seines „Weges zur Philosophie" und des
Selbstverständnisse6 6einer Philosophie. Sie werden dem Laien
als Anreiz und Schlüssel zu Jaspers' Denken, dem Kenner als
willkommene „aide memoire" dienen. Das aber gilt auch vom
ganzen Buche, das — die bekannte Scheidung von Philosophie
und Wissenschaft streng durchführend — den existenziellen Ernst
auf jeder Seite bezeugt: „Philosophisches Denken ist Praxis,
aber eine einzigartige Praxis" (401). „Sie ist das Denken, in
dem ich des Seins selbst inne werde durch inneres Handeln" (412).
Und — nicht nur an die Anschrift des Theologen gerichtet —:
„Religion braucht, um wahrhaftig zu bleiben, das Gewissen der
Philosophie. Philosophie braucht, um gehaltvoll zu bleiben, die
Substanz der Religion" (422). Freilich dürfte die Antwort auf
diese Anfrage nicht ein „philosophischer Glaube" darstellen,
sondern der Wille: Theologie stärker als bisher am Leben
des Glaubens auszurichten und dies in kritischer
Bemühung. Hier werden wir — Jaspers' Warnung vor Kierkegaard
und Nietzsche beherzigend — ihm selbst nicht folgen,
sondern belehrt durch ihn — weiterschreiten!

Bonn Gerhard G1 o e g o

Seifert, Paul: Die Theologie des jungen Schleiermachcr. Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus 1960. 208 S. gr. 8° = Beiträge z. Förderung
diristl. Theologie, 49. Lw. DM 19.80.

Das Anliegen des Verfassers ist: durch eine sachliche Auslegung
der „Reden über die Religion", die eine Schlüsselstellung
im Gesamtwerk Schleiermachers einnehmen, einen Einblick zu
geben in den Ursprung der Theologie Schleiermachers, in der
Voraussetzung, daß man zuerst einmal aufmerksam und unbefangen
hören 6oll, was da gesagt ist, ohne sofort das Gesagte
kritisch an philosophischen oder theologischen Normen zu messen
.

In der Einleitung zu seiner Untersuchung, die über ihre
Aufgabe und Methode Rechenschaft ablegt, wird deutlich, daß
der Verfasser im Gegensatz zu dem Interpretationsverfahren
Brunners und Flückigers einerseits und Rudolf Ottos andererseits
vorwiegend der Deutung Otto Ritschis in dessen Studie über
„Schleiermachers Stellung zum Christentum" folgen will, die als
Ziel der Reden die Darstellung des Christentums erkennt, wie
sie besonders in der fünften Rede gegeben wird. Der Verfasser
bemerkt dabei noch, daß unverkennbar zwei Linien in den Reden
nebeneinander herlaufen: eine philosophisch-spekulative, die
auf das Wesen der Religion überhaupt gerichtet ist und in der
zweiten Rede ihren Höhepunkt erreicht, und eine geschichtlichtheologische
, deren Gegenstand die bestimmte Religion des
Christentums ist, wie sie in der fünften Rede vorgetragen wird.
Er ist der Ansicht, die er eingehend zu begründen versucht, daß

diese zwei Linien das eigentliche Thema der Reden darstellen,
daß alles andere, was von Schleiermacher auch noch gesagt wird,
stärker in den Bereich des Exoterischen bzw. des Rhetorischen
gehört. Schleiermacher will in seinem Werk einen „Dithyramb
auf Christum" geben, wie er gleichzeitig an Henriette Herz
schreibt. Er spricht in den Reden nicht als Philosoph oder als
Forscher, sondern als Prediger, der sich in seiner Verkündigung
zum Christentum als der absoluten Religion bekennt. — Eine in
der Tat kühne, mutige These, wenn man auf die vielen Auslegungsversuche
der Reden sieht oder wenn man bedenkt, daß in
den Reden wesentlich nur auf den letzten zehn Seiten vom
Christentum gehandelt wird. Aber gerade dieser Mut des Verfassers
ist es, der die Sympathie des Lesers wie auch des
Schleiermacher - Forschers gewinnt.

Der erste Teil der Untersuchung gibt zunächst eine Darstellung
des Verhältnisses der Reden zu den Mächten und
Persönlichkeiten des Zeitgeschehens: zu Goethe, Lessing, Fichte,
Novalis und der Romantik überhaupt und läßt die Schwierigkeiten
erkennen, die Grenzen zwischen dem Eigenen Schleiermachers
und den Einflüssen, die er empfangen hat, festzulegen. Der Verfasser
versucht, Schleiermachers eigentliches Anliegen im Rückgang
auf die vor den Reden gehaltenen Predigten und Jugendfragmente
herauszuarbeiten und macht von hier aus auf die Vielschichtigkeit
der wesentlichen Begriffe der Reden wie Religion,
Universum, Offenbarung u. a. aufmerksam, eine Vielschichtigkeit
, die besonders durch den rhetorisdien Charakter der Reden
bedingt sei. Das Ergebnis dieser sorgfältig durchgeführten Untersuchung
ist, daß die Religion in ihrem höheren Realismus der
Philosophie erst die Wirklidikeit erschließt und gleichzeitig der
Ethik die wichtigen Sachverhalte wie Menschheit und Individualismus
vermittelt.

Im zweiten Teil des Buches wird dann mit der Thematik
„Zeugnis und Wirklichkeit" die Untersuchung ihrem eigentlichen
Anliegen näher geführt durch den Nachweis, daß die Reden ein
Teil der Verkündigung des Predigers Schleiermacher sein wollen
als direkte Fortführung der prophetischen Linie, deren Ursprung
in der Herrnhuter Frömmigkeit liegt und dann in der Schlobittc-
ner Zeit einen ersten Höhepunkt gewinnt. Von hier aus empfangen
die Begriffe der Individualität und des Mittlers ihre besondere
Beleuchtung. So ist alle Rede vom Mittler durch die Anschauung
des Mittlertums Christi bestimmt, wie zuletzt alles
Reden von Religion von der historisch-positiven Religion des
Christentums. „Der scheinbar so weite religionsgeschichtliche
Anschauungskreis der Reden ist nur rhetorische Ausschmückung"
(136). Die weit verbreitete Ansicht, Schleiermacher habe das
Christentum nur als Glied neben anderen Religionen in die
Religionsgeschichte hineingestellt, sei eine Fehlinterpretation (166).
Demgemäß endet der zweite Teil der Untersuchung mit der
definitiven Feststellung: „Das Christentum ist die absolute Religion
" (168).

Der dritte Teil de6 Buches bringt zunächst noch eine vertiefende
Begründung dieser Feststellung mit einer nochmaligen
Besinnung auf die Problematik des Verhältnisses der zweiten zur
fünften Rede, die das Verhältnis der philosophischen zur historischen
Methode involviert. Da6 Ergebnis ist: daß die Reden von
der fünften Rede aus interpretiert werden müssen. Freilich muß
der Verfasser zugeben, daß die spekulative und die historische
Art der Betrachtung dauernd miteinander konvergieren, aber der
Konvergenzpunkt sei die Religion als bestimmte historische
Wirklichkeit in der Gegebenheit des Christentums. Die Endabsicht
Schleiermachers sei, „ein Zeugnis für das Christentum abzulegen
" (187). Doch sei damit, wie der Verfasser ausdrücklich
bemerkt, noch keine Bewertung dessen gegeben, was Schleiermacher
unter Christentum verstanden hat. Auf einige wesentliche
Grenzen dieser Deutung, wie sie oft bereits in der Schleiermacher
-Forschung herausgestellt sind, wird noch in einem Schlußabschnitt
dieses letzten Teiles der Untersuchung hingewiesen.
Diese Grenzen seien aus der philosophischen und theologischen
Situation Schleiermachers in seiner Auseinandersetzung mit dem
Idealismus zu begreifen. Sein permanentes Thema sei: Der Glaube
der Christenheit und der moderne Mensch, ein Thema, das sich
jede theologische Generation immer wieder neu stellen müßte,
wie der Verfasser mit Recht bemerkt.