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Ausgabe:

1962 Nr. 11

Spalte:

856

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Escribano-Alberca, Ignacio

Titel/Untertitel:

Die Gewinnung theologischer Normen aus der Geschichte der Religion bei E. Troeltsch 1962

Rezensent:

Schultz, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 11

856

Bindung der Frau auf eine tiefere religiöse Veranlagung zurückzuführen
.

Die Formen der Teilnahme am Leben der Kirchengemeinde,
insbesondere in Form des Gottesdienstes und der kirchlichen
Vereinigungen, werden im 2. großen Abschnitt analysiert. Beim
Gottesdienstbesuch geht der Verf. auf die Erhebungsschwierigkeiten
und möglichen Fehlerquellen ein und unterscheidet den
Kreis der regelmäßigen von den nur gelegentlichen Gottesdienstbesuchern
.

Einige Bemerkungen in diesem Zusammenhang, daß z. B.
Predigt und Liturgie auf den tragenden Kreiß der „Kirchen-
treuen" ausgerichtet sind oder daß nur dem der Kirchgang etwas
bedeutet, der zugleich der Gruppe der regelmäßigen Besucher
in ihrer sozialen Gliederung nahesteht, sind zwar nur
schwach belegt, dürften aber — wenngleich das nicht so sein
muß und nicht der Fall sein sollte — in hohem Maß zutreffen.

Gut beobachtet finde ich auch die Ausführungen über die
kirchlichen Vereinigungen, über die Motive (z. B. Geselligkeit,
spezielle kirchl. Dienste), über die Gesichtspunkte, die bei der
Auswahl der Leiter solcher Veranstaltungen eine Rolle spielen
und über den Zweck, die Gottesdienstgemeinde aus ihrer Abkapselung
zu einer größeren Offenheit zu führen. „Ein Gottesdienstbesuch
" — schreibt der Verf. — „verpflichtet niemand".
Die zwanglosere Form der wöchentlichen Veranstaltungen gestattet
durch Thema und Gestaltung der Zusammenkünfte, in
die verschiedensten Gebiete des Alltags vorzustoßen. Nicht klar
ist, inwieweit solche Veranstaltungen Menschen erreichen, die
gar nicht oder selten in der Kirche sind, ob und in welchem
Umfang also eine Durchbrechung der Isolierung des festen, eng
verflochtenen Stammes von regelmäßigen Gottesdienstbesuchern
durch Aufbau des Gruppenlebens wirklich stattfindet. Gerade
das wäre interessant gewesen, insbesondere auch, ob hier zwischen
evgl. und kathol. Gemeinden Unterschiede bestehen;
aber merkwürdigerweise findet sich nur in wenigen Kirchengemeinde
-Untersuchungen eine gesonderte Erhebung der Vereinigungen
.

Man kann nicht sagen, daß die Predigt innerhalb der
Gottesdienste der erste und wichtigste Platz ist, „an dem in
der Kirchengemeinde Zielsetzungen formuliert werden". Selbst
wenn die Predigten besser wären, als 6ie oft sind, reichen dazu
die 15—20 Minuten gewiß nicht aus. Der Verf. erwähnt eine
Liste von Fragen, zu denen sich „Geistliche und Laien in der
höchsten Synode der Episcopal Church der USA während der
letzten Jahre geäußert haben": Krieg und Frieden, Wirtschaftsfragen
, Gewerkschaften, Kriegsdienstverweigerung, Rassefragen
usw.

Nun, das gibt es bekanntlich auch anderswo. Die bedrückende
Frage für alle Bemühungen aus dem Bereich der
Sozialethik und der politischen Ethik ist, was davon, wo etwas
und wie es „angekommen" ist, inwieweit auch nur die Pfarrer
(die jungen und die alten) sich intensiv mit solchen Fragen beschäftigen
(beschäftigen können), was sie dazu lesen. Inwieweit
sind in der oft herangezogenen katholischen Christenheit den
(„wiederentdeckten") Laien die großen Enzykliken wirklich bekannt
und inwieweit in der evgl. Christenheit die entsprechenden
Verlautbarungen unserer Kirche? Was lesen sie überhaupt
davon, inwieweit setzen sie sich damit auseinander? Meine
Erfahrungen bei Studenten der verschiedenen Fakultäten gehen
dahin, daß 6<hon das bloße Wissen um diese Dinge ganz gering
ist. Manchmal hat man den Eindruck — sie lesen überhaupt nichts
mehr, so daß die große und ernsthafte Arbeit der Kirchen auf
diesem Gebiet „in der Luft hängt". Dabei sind sie doch um
einiges gewichtiger als so sinnlose Fragen wie: „Manche Leute
sagen, daß man ohne Pfarrer und Kirchgang auch selig werden
könnte. Was halten Sie davon?" Interessanter ist schon die
Formulierung, ob man ein guter Christ sein kann, wenn man
die kirchliche Lehre zu den Ehefragen ablehnt? Aber man müßte
doch wohl zuvor erfahren, ob die Leute wissen, was die „kirchliche
Lehre zu den Ehefragen" ist.

Deutsche Untersuchungen zu diesem ganzen Bereich gibt
es offenbar kaum. Der Mangel an solchen Untersuchungen, die
gewiß nicht einfach sind, macht die neueren gemeindesoziologischen
Arbeiten, finde ich, ein bißchen langweilig, so manche

guten Einsichten sie auch manchmal bieten. Dazu gehört aber
noch etwas: Die Soziologie kann gewiß dem menschlichen Denken
und Handeln keine Ziele weisen. Aber 6ie sollte sich auch
nicht mit der bloßen Feststellung und Deutung von mehr oder
minder neuen Tatsachen begnügen, sondern 6ich der Frage stellen
, deren Beantwortung M. Weber immerhin noch für möglich
hielt, anzugeben, welche Wege eingeschlagen werden müssen,
wenn bestimmte Ziele erreicht werden sollen. An dieser Stelle
aber brechen die soziologischen Untersuchungen heute leider
vielfach ab, nicht nur auf diesem Gebiet, auch auf dem Gebiet
der „Soziologie der Sexualität", der Industriesoziologie und der
politischen Soziologie.

Köln/Velbert Friedrich Ka r re n be rg

Benz, Franz: Ungenügen und Notwendigkeit der Pfarrei in der
modernen Großstadt.

Tübinger Theologische Quartalschrift 141, 1961 S. 424—458.

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Alberca, Ignacio ;Escribano: Die Gewinnung theologischer Normen
i • aus der Geschichte der Religion bei E. Troeltsch (Eine methodologische
Studie). München: Hucber 1961. XVI, 200 S. gr. 8° =
Münchener theol. Studien, hrsg. v. J. Pascher, K. Mörsdorf, H.
Tüchle, II. Syst. Abt., 21. Bd. Kart. DM 18.—.

Es ist immerhin beachtlich, daß ein katholischer Theologe
sich so gründlich mit der Religionsphilosophie Troeltschs auseinandersetzt
wie der Verfasser der genannten Untersuchung,
die von der Theologischen Fakultät der Universität München
als Dissertation angenommen wurde. Wird doch E. Troeltsch in
der offiziellen katholischen Dogmatik der protestantischen liberalen
Theologie zugerechnet, die allgemein durchaus negativ
beurteilt wird (vgl. u.a. M. Schmaus). Beachtlich ist auch die
sachliche und verständnisvolle Form der Untersuchung, deren
Gedankenführung auch der protestantische Theologe heute
weitgehend zustimmen wird. Noch beachtlicher ist die erstaunlich
positive Wertung der Geschichte innerhalb der Studie. Sowohl
in ihrem ersten Teil, der sich allgemein mit der Frage der
Normgewinnung aus der Geschichte beschäftigt, wie auch in
ihrem zweiten Teil, der speziell das Verhältnis des religiösen
Apriori zum Christentum zu erhellen versucht, kommt der
Verfasser zu dem Resultat, daß es Troeltsch nicht gelungen ist,
die Polarität von Vernunftwahrheit und Geschichte dergestalt
zu überwinden, daß die Geschichte mehr ist als eine zufällige
Tatsachenwahrheit, als Illustration eines in sich gründenden
Vernunftapriori, daß sie zum selbständigen Träger von Wahrheit
wird. Obwohl der Verfasser zugeben muß, daß Troeltsch
sich „ganz entschieden" der Geschichtsauffassung Leopold v.
Rankes angeschlossen hat, wonach jede Epoche unmittelbar zu
Gott sei (S. 141 f.), ist er doch der Meinung, daß Troeltsch
methodologisch den geschichtslogischen PIatoni6mus der Aufklärung
und Kants nicht überwunden hat.

Ich möchte dem Verfasser darin zustimmen und auch den
von ihm leider nur skizzierten neuen Weg der Verklammerung
von Offenbarung und Geschichte, wie sie in dem Vorgang der
Inkarnation des christlichen Glaubens (das Wort ward Fleisch)
Ausdruck gewinnt, bejahen. In der Tat ist die Wahrheit des
Christentums nicht die Wahrheit einer Idee, sondern die Wahrheit
einer Tatsache (Söhngen). Und das Wesen des Christentums
ist Jesus Christus. Wieder ist es erstaunlich, wie hier ein
katholischer Theologe Worte findet, die in die Mitte des Anliegens
der protestantischen Theologie der Gegenwart führen.
Zu fragen ist nur, wie sich die hier ausgesprochene Wertung
der Geschichte mit den Heilsfakten der offiziellen katholischen
Dogmatik verbinden kann: mit der Zwei-Naturen-Christologie'
mit der Unfehlbarkeit der Schrift, der Kirche usw. Bricht hier
nicht — nur auf anderer Ebene — dasselbe Problem wieder auf.
mit dem Troeltsch gerungen hat? Nur, daß statt Vernunftwahrheit
jetzt Dogma gesetzt wird. Vielleicht wird der Verfasser
in weiteren Untersuchungen auch zu diesen Fragestellungen
geführt. Auf jeden Fall ist seine Studie ein wertvoller
Beitrag zur Klärung der Antinomie Geschichte und Übergeschichte
.

Kiel WernerSchuIU