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Ausgabe:

1962 Nr. 11

Spalte:

854-856

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Freytag, Justus

Titel/Untertitel:

Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht 1962

Rezensent:

Karrenberg, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 11

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anderen Erhebungen bekannte Tatsache, daß die kirchliche
Bindung um so geringer ist, je größer die Stadt ist und daß,
abgesehen vom Einfluß auf die Jugendlichen, das Wohnmilieu
bestimmender ist als das Betriebsmilieu. Es werden die Unterschiede
in der Bindung an die Kirche nach Altersstufen und
Geschlecht in Industrie- und ländlichen Pfarreien und besonders
der scharfe Bruch nach der Schulentlassung deutlich, wobei die
Feststellung interessant ist, daß geringe Schulbildung sich offenbar
auf das religiöse Verhalten nachteilig auswirkt. Die Erhebungen
über Teilnahme am Sonntagsgottesdienst zeigt einen
stärkeren Anteil katholischer Bauern, im Unterschied zu französischen
Erhebungen, bei denen Ingenieure, höhere Angestellte
und Beamte in größerer Zahl praktizierende Katholiken sind.
Der Anteil der Arbeiterschaft ist in beiden Fällen ungewöhnlich
gering. Das entspricht jedoch nicht dem Bundesdurchschnitt,
der wesentlich höher liegt.

Der Verf. macht dann den Versuch einer Deutung der
,,religiösen Krise". Die vor allem in der Vergangenheit typische
Geschlossenheit des Milieus war wohl der religiösen
Praxis förderlich; sie hat freilich auch oft zu einem veräußerlichten
Gewohnheitschristentum geführt, das wiederum Anlaß
für eine antireligiöse Propaganda war. Der Verf. unterschätzt
diese Propaganda nicht. Aber er hält sie auf die Dauer nicht
für entscheidend. Entscheidend sei die Industrialisierung, die
eine für das Religiöse „frostige Atmosphäre" geschaffen habe.
Das hänge mit dem Sieg rationalistischer und naturalistischer
Denkweise zusammen, die (bei einer Vielfalt der weltanschaulichen
Richtungen und Systeme) unaufhörlich über Presse, Funk
usw. auf jeden Menschen einwirken. In die gleiche Richtung
wirke die Verdiesseitigunge und die auffallend starke Wertung
des materiellen Lebensstandards.

Das alles sind schwer zu bewältigende Dinge.

Aber die Situation, schreibt Höffner, ist nicht hoffnungslos
. Auch in der entwickelten Industriegesellschaft behalte die
Religion nicht nur ihren Platz, sondern ihre letztlich das Schicksal
des industriellen Zeitalters entscheidende Bedeutung. Was
heute als Krise erscheine, seien „zum Teil Anpassungsvorgänge
des industriellen Zeitalters", zum anderen handele es sich um
einen Wandel der Formen des religiösen Verhaltens. Dies mag
wohl sein, aber dies ergibt sich nicht eigentlich aus der gebotenen
Darstellung. Was dargestellt wird, ist nun wahrhaftig
Wehr als ein bloßer Wandel in den Formen religiösen Verhaltens
. Gewiß, wenn man den Gesamtbereich überblickt, bietet
sich nicht nur Negatives. Der Verf. erwähnt in diesem Zusammenhang
den Zug zu kleinen, religiös geprägten Gemeinschaften,
den Zusammenschluß Gleichgesinnter in religiösen Gruppen und
Vereinen, die liturgische Bewegung, die neue Stellung des
Laien in der Kirche. Aber gerade aufs Ganze gesehen sind das
doch schwache Beispiele, vielleicht sogar Fluchtbewegungen. Die
in der letzten Anmerkung getroffene Feststellung, daß in den
USA in den letzten zwei Jahrzehnten das religiöse Verhalten
mtensiver geworden sei, mag wohl richtig sein. Aber was macht
•nan schon mit Feststellungen wie „Glaube an Gott 1952 —
95, 5 %", „Glaube an die Unsterblichkeit der Seele 1952 -
72 %"? Hier zeigt sich doch ganz massiv die Grenze Statistiker
Aussagen. Am Schluß der Diskussion betont der Verf.,
ein gewaltsames Abstoppen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung
sei menschlich und ökonomisch riskant. Wichtig sei
"Persönlichkcitspflcgc"; denn Bildung führe zu einer gewissen
Distanz den materiellen Gütern gegenüber und vermöge den
Menschen davor zu bewahren, der Begehrlichkeitsneurose zu
Verfallen und dem Religiösen entfremdet zu werden. Ich würde
Sagen: Die „gewisse" Distanz ist in Wirklichkeit doch eine
ziemlich „ungewisse" Sache. Und Persönlichkeitspflege? Gut!
Aber sehr viel ist da doch nicht vorzuweisen; der kirchliche
Anteil ist ausgesprochen gering, was beweist, wie schwierig
diese Dinge sind. Das gilt auch für die Rolle des, wenn er
etwas kann, in der Regel ohnehin stark engagierten Laien, für
dessen geistliche Zurüstung zudem in den Kirchen vergleichsweise
wenig getan wird. Die faktische Rolle des Laien in der
Kirche ist auch — abgesehen von den haupt- und ehrenamtlichen
Mitarbeitern in den Kirchenämtern — heute noch ziemlich ge-
Ting. Er wird ja auch bezeichnenderweise fast nur registriert

unter dem Aspekt seiner Beteiligung am innerkirchlichen Geschehen
. Aber das kann doch nur die eine Seite sein. Der Ort
seiner Bewährung ist draußen.

Nicht ganz überzeugt hat mich schließlich die Feststellung
von Höffner, das Christentum habe dem naturwissenschaftlichen
Denken den Weg gebahnt. Gewiß gibt es dafür Zeugnisse und
geschichtliche Belege. Aber offenbar sind — und das muß man
wohl sehen — in manchen Schichten die anderen Beispiele stärker
in der Erinnerung, in denen naturwissenschaftliche Erkenntnisse
sich schwer gegen kirchliche Vorurteile haben durchsetzen
müssen. Und da6 gleiche gilt für den lange Zeit vorhandenen
und bis heute noch nicht überall überwundenen Widerstand in
den Kirchen und Gemeinschaften gegen die Preisgabe bestimmter
Vorstellungen und Traditionen im Zuge der neueren theologischen
Arbeit, selbst dort, wo sie behutsam vorgeht. Dabei
darf man eine wirkliche Sorge und Verantwortung den Gemeinden
gegenüber unterstellen. Aber daß hier Fehler gemacht
wurden und werden, die sich rächen mußten und noch rächen
werden, ist nicht verwunderlich. Diese großen Aufgaben sind
im Ernst nur geistig zu bewältigen. Die Soziologie ist dabei
überfordert. Sie kann einige Lichter aufstecken. Aber sie hilft
nicht wirklich weiter.

Köln/Velbert Friedrich Ka rrenberg

F r e y t a g, Justus, Dr. phil.; Die Kirchengemeinde in soziologischer
Sicht. Ziel und Weg empirischer Forschungen. Hamburg: Furche-
Verlag [1959]. 128 S. 8° = Studien z. evang. Sozialtheologie u.
Sozialethik, hrsg. v. H.-D. Wendland, Bd. IV. Lw. DM 13.80.

Der Verf. weist in dem Vorwort darauf hin, daß in schnell
wachsender Zahl soziologische Untersuchungen zur Lage der
Kirche, teils mehr in statistischen Überblicken über größere
Gebiete, teils in Detailuntersuchungen an einzelnen Kirchengemeinden
durchgeführt worden sind. Et ist der Meinung, das
vorliegende Material dränge, auch wenn die Zahl der Untersuchungen
noch gering ist, dazu, einmal einen vorläufigen Ertrag
zusammenzustellen. Er betont aber ausdrücklich den lediglich
exemplarischen Wert dieser Zusammenschau, die angesichts
der gebietsmäßigen und konfessionellen Streuung des Materials
eine verallgemeinernde Deutung nicht zulasse. Dies kann man
wohl sagen.

Das Buch ist wertvoll dadurch, daß die Ergebnisse einer
ganzen Reihe, vor allem auch ausländischer Erhebungen herangezogen
worden sind, die kritisch — manchmal aber doch wohl
noch nicht kritisch genug — untersucht werden. Merkmal ist
auch hier die Kirchlichkeit, nicht die persönliche Frömmigkeit,
über die auch bei Anwendung verfeinerter Methoden nicht viel
auszumachen ist.

Das Buch ist in drei Abschnitte aufgegliedert. Ich referiere
ganz kurz. Der erste befaßt sich mit den Grenzen der Kirchengemeinde
in der örtlichen Gemeinde. Dabei untersucht der
Verf. zunächst, ob die Kirchengemeinde in bestimmten Gesell-
schaftsschichten einen Rückhalt findet, welche abseits stehen,
z- B. durchgängig — wenngleich nicht überall gleich — die
Arbeiterschaft, aber sie nicht allein und, wie überhaupt der
soziale Status der Kirchengemeindeglieder ist. Die Zugehörigkeit
zur Kirchengemeinde ist quer durch alle Schichten hindurch
Veränderungen nach der örtlichen Sozialstruktur unterworfen.
Mit diesem Sachverhalt haben sich verschiedene Erhebungen,
besonders aus Frankreich und Belgien, befaßt. Sie untersuchen,
welche Bedeutung die an manchen Orten erstaunlich hohe
soziale und welchen Einfluß die geographische Mobilität für die
Kirchlichkeit hat. Damit beschäftigt sich das 3. Kapitel. Wie im
2. Kapitel die Betrachtung über „Nachwirkungen der Klassengesellschaft
" finde ich in diesem Kapitel den kritischen Rückblick
auf die vorindustrielle Epoche mit dem Hinweis gut, daß,
entgegen manchen falschen Vorstellungen, auch damals „keineswegs
die ganze Gesellschaft treu zur Kirche gestanden hat".

Im 4. Kapitel dieses ersten Abschnittes geht es um die
Aufgliederung der Kirchengemeinde nach Lebensalter und Geschlecht
. HieT ist besonders der Abschnitt über die kirchliche
Bindung der Frau interessant, der mit den Mitteln der Soziologie
nachweist, wie gewagt es ist, eine stärkere kirchliche