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Ausgabe:

1962 Nr. 11

Spalte:

848-849

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Rogge, Joachim

Titel/Untertitel:

Johann Agricolas Lutherverständnis 1962

Rezensent:

Haikola, Lauri

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 11

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des Johannes gegen den Reichtum und für die Armut. Der
Verf. kann die Ansichten des Johannes auf das Wesentliche zurückführen
, indem er drei Feststellungen trifft: Die Habsucht
ist unter allen Lastern das schlimmste, das Almosen ist allein
vom Geber her zu beurteilen, der eigentliche Empfänger ist
Gott. So sehr ist hier das Almosen zum Mittel des Aszese geworden
, daß jede Vermögensbewegung entweder aus Habsucht
oder Barmherzigkeit herrührend verstanden wird; selbst die gerechte
Entlohnung einer Arbeit gilt als Barmherzigkeit!

Die Materialdarbietung und auch die daraus gewonnenen
Einsichten wird man gerne anerkennen. Wenn trotzdem manches
unbefriedigend bleibt, dann liegt das vielleicht mehr an
Johannes Chrysostomus als am Verfasser, der sich einer wenig
dankbaren Aufgabe angenommen hat. Aber alle, die sich mit
der Geschichte der christlichen Wohltätigkeit in größerem Rahmen
befassen können, werden dankbar das hier gebotene Material
benützen und den Grundlinien folgen können.

Bonn Alfred S t u i bc r

KIRCHENGESCHICHTE: REFORMATIONSZEIT

Elliger, Walter, Prof. D.: Thomas Müntzer. Berlin: Wichern-Verlag
y 1960. 62 S. 8° = Erkenntnis und Glaube. Schriften der Evang.
Forschungsakademie Idenburg, 16. Kart. DM 4.80.

Diese Untersuchung, die sich wesentlich auf die Theologie
Müntzers konzentriert und der hoffentlich bald die große
Monographie über diese neben Luther wohl selbständigste und
einflußreichste Gestalt in der Frühzeit der Reformation folgt,
sucht das undeutliche und verschwommene Müntzer-Bild im
politischen Raum mit leiser Hand, aber konsequent zurechtzurücken
. Bewußt verzichtet diese Arbeit wohl auf die Aufweisung
der verschiedenen mittelalterlichen Einflüsse, in deren Bannkreis
Müntzer bei aller Originalität, die ihm zuerkannt werden muß,
im Grunde doch verfangen blieb.

Das eigentliche Interesse des Verfassers richtet sich darauf,
in umsichtigem Verfahren Müntzer als einen unpolitischen und
rein religiösen Denker von glühendem Aktivismus herauszustellen
und damit noch überzeugender, als es Karl Holl auf Grund
eines knapperen Quellenmaterials tun konnte, die entscheidenden
Wendepunkte in Müntzers Leben herauszuarbeiten. Die
Analyse der theologischen Gedanken Müntzers beginnt mit dem
Jahre 1520, als dessen Zwickauer Tätigkeit einsetzte. Die un-
ruhvolle Zeit zwischen 1512 und 1520, wo Müntzer bereits in
seiner Tätigkeit als Kollaborator in Halle und Aschersleben in
Verschwörungen gegen Erzbischof Ernst von Magdeburg verwickelt
war, übergeht Elliger. Interessant ist, wie Elliger mit
guten Gründen nachweist, daß Müntzer noch nicht bei seinem
ersten Aufenthalt in Mühlhausen als politischer Agitator im
Sinne eines rücksichtslosen Kampfes gegen die Obrigkeit angesehen
werden kann. Erst in der Zeit seiner Tätigkeit in Oberdeutschland
vollzog Müntzer den Schritt in die Illegalität, wenn
auch immer noch hart an der Grenze einer Legalität. So zeigte
sich erst hier jene tiefgreifende Wandlung, in der er sich entschlossen
und vorbehaltlos vom alten „Obrigkeitsdenken" lossagte
, dem er bis dahin noch immer verbunden war, nun aber
bewußt die Züge eines Sozialrevolutionärs in sein Wesen aufnahm
. Ende Februar, als er als „Aufrührer" in Mühlhausen wieder
auftrat, ohne aber einen greifbaren Plan übeT die künftige
Ordnung entwickelt zu haben, zeigte er wiederum, daß sein
letztes Anliegen immer noch ein zentral religiöses geblieben
war. Als „Knecht Gottes" lag es ihm fem, „eine paradiesische
Zukunft in eitel Lust und Freude mit verlockenden Farben zu
malen, auch täuschte er sich nicht über die Schwere des Weges
hinweg, der noch bis zw Aufrichtung einer erneuerten apostolischen
Christenheit zurückzulegen" war (S. 54).

Auch aus den letzten Äußerungen Müntzers in einer qualvollen
Gefangenschaft vermag Elliger, der in der Analyse sehr
behutsam und umsichtig vorwärtsschreitet, einsichtig zu machen,
daß Müntzer, der im Grunde weder ein Bauernführer noch ein
sozialer Agitator war, zum alten Obrigkeitsgedanken zurückkehren
kann. Wenn sidi die fürstliche Obrigkeit dem Gesetz
Gottes, wie er es verstand, beugt, ist eine Anerkennung möglich
. In dieser letzten Rechenschaft vollzog Müntzer eine Distanzierung
von dem selbstischen Begehren der Bauern. Doch die
Schuld der Bauern vor Gott bedeutete in keiner Weise eine
Rechtfertigung der Obrigkeit, eine Aufhebung der Schuld der
Fürsten, welche den Sieg nicht als ein Gottesurteil für sie buchen
konnten. Recht behält nur Gott. Müntzer kam es „primär
in Wahrheit nicht auf Menschenrechte und sozialen Fortschritt
an, sondern auf Gottes Gesetz und eine in Glauben und Leben
gotthörige, geistesmächtige Christenheit, die dann, im Gehorsam
gegen Gott, auch den Dingen dieser Welt die rechte Gestalt
und Ordnung einfach geben muß".

Elliger verhehlt nicht die negativen Züge im Charakterbild
Müntzers, seine 6tarke Neigung zur prinzipiellen Opposition
, die ihm angeborene Aufsässigkeit, 6eine hochgradige Empfindlichkeit
, sein einseitiges und überspitztes Denken, 6einen
unbezähmbaren Aktivismus und daß er von Natur ein ungeduldiger
Mensch gewesen ist, der schnell und erschreckend selbstsicher
urteilen konnte. Vielleicht hätten die dämonischen Züge
an Müntzer, die manche psychologische Rätsel aufgeben, wenn
man z. B. an Müntzers starre6 Sendungsbewußtsein denkt, noch
stärker herausgearbeitet werden können. Aber Eiliger wollte
mit vollem Recht zeigen, wie man mit Luthers Polemik gegen
Müntzer, bei aller Berechtigung und dem Wahrheitsgehalt, die
ihr zugesprochen werden muß, nicht allein der Müntzer-Probleme
Herr werden kann. Luther hat Müntzer in dessen letzten
Intentionen nicht vollkommen richtig und gerecht beurteilt.
Jedenfalls hat diese Studie auch deutlich gemacht, daß jeder
systematischen Darstellung der Gedanken Müntzers eine Schärfe
mangelt, wenn sie nicht wie in dieser Untersuchung aufs engste
mit einer biographischen Schritt hält.

Die Untersuchung regt viele Fragen an, z. B. die nach den
Disharmonien, nach den Sprüngen in der theologischen Gedankenwelt
Müntzers, die ihn auch unter den Taufgesinnten
immer einsamer werden ließ, oder die Frage, warum die Vorstellung
von dem großen Propheten, dem Erfüller, der nach
Müntzer kommen soll, wieder verblaßt, auch die Frage, ob das
Bild seiner Enderwartung nicht doch viel konkretere Züge trug.
Mit Karl Holls Aufsatz „Luther und die Schwärmer" zusammen
bietet Elliger mit dieser theologischen Studie die beste Einführung
in Müntzers Gedankenwelt und ihre Problematik, über
Holl darin noch hinausweisend, daß er mit Recht nicht nur im
Gottesbegriff, sondern in der freilich davon nicht abzulösenden
Christologie den fundamentalen Gegensatz zwischen dem
Reformator und Luther erblickt.

München Erich B oy reu t b e r

R o g g e, Joachim: Johann Agricolas Lutherverständnis. Unter besonderer
Berücksichtigung des Antinomismu6. Berlin: Evang. Vcrlags-
anstalt [i960]. 306 S. 8° = Theologische Arbeiten, hrsg. v H Umcr,
Bd. XIV. Hlw. DM 9.80.

Nach Gustav Kaweraus Biographie (1881) ist wohl keine
andere Arbeit über Johann Agricola herausgegeben worden, die
auf gründliche Quellenstudien gebaut hat. Deshalb muß Joachim
Rogges Monographie von allen Reformationsforschein mit
Freude begrüßt werden, besonders von den nordischen Forschern
, die aus natürlichen Gründen nicht dieselbe Möglichkeit
haben, die ursprünglichen Quellen zu studieren, wie die Forscher
im Mutterlande der Reformation. Für genaue und ausführliche
Quellenanalysen sind wir im Norden besonders dankbar, und in
dieser Hinsicht entspricht Rogges Untersuchung den höchsten
Anforderungen.

G. Kawerau hat sich in seiner Darstellung vor allem auf
das Biographische konzentriert. Rogge dagegen holt Agricola5
theologische Aussagen und ihre Entwicklung hervor. Die chrono'
logische Entwicklungslinie der Denkart Agricolas ist das Thema
seiner Arbeit.

Rogge kommt aber — und zwar aus guten Gründen — zU
dem Ergebnis, daß eine Entwicklung im Sinne von Veränderung
der Lehrart eigentlich nie im Leben Agricolas vorgekomm«11
ist. Agricola hat vom Anfang (= Begegnung mit Luther) bte
zum Ende konsequent auf dieselbe Weise gedacht. Natürli«"
sind mit dem geschichtlichen Geschehen immer wieder ne«c
Elemente in sein Denken gekommen, sie bedeuteten aber nur
eine Weiterentwicklung seiner früheren Position.