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Ausgabe:

1962 Nr. 11

Spalte:

828-829

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Merz, Georg

Titel/Untertitel:

Wege und Wandlungen 1962

Rezensent:

Andersen, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 11

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v. Bethmann brachte die Berufung solcher Männer wie des
Kirchenhistorikers Christian Friedr. Niedner (1859 — 65) und
des Systematikers Isaak Aug. Dorner (1862—18 80) namhafte
Vertreter ihres Faches zur Geltung, die als Vermittlungstheologen
bereit waren, auf eine geistige Auseinandersetzung ihrer
Zeit einzugehen, aber auch entschlossen, „die positiven Grundlagen
der christlichen Religion in engster Bindung an Schrift
und Bekenntnis festzuhalten". Mit der Berufung August Dillmanns
(1869) wird der Stagnation auf dem Gebiet des AT ein
Ende bereitet. Gerade weil Dillmann bei einem konservativen
Zug seines Wesens sichernde Grenzen zu ziehen vermochte,
deren Innehaltung nach außen er bewußt betonte, konnte er
gegen unbelehrbare Verfechter einer rein traditionalistischen
Orthodoxie das Recht einer fortschreitenden kritischen Wissenschaft
betonen. Aus seiner Rektoratsrede von 1875 zitiert
Elliger folgende Sätze: „Die Theologie muß als Wissenschaft
auch ihre Pflicht tun. Sie muß sich im Kreise ihrer Schwestern
sehen lassen können, ohne erröten zu müssen über Nichtgebrauch
oder Mißbrauch des einzigen Organs, das der Schöpfer
den Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit gegeben hat, der
Vernunft" (S. 63). Dillmann hätte gern den der Tübinger
Schule nahestehenden H. J. Holtzmann als Fachordinarius für NT
neben sich gehabt, stieß aber auf die Ablehnung einer Fakultätsmehrheit
, die sich den Greifswalder Hermann Cremer
wünschte. Für die Situation der damaligen Kulturkampfzeit ist
nun bezeichnend, daß der Minister Falk keinen von beiden,
sondern den liberalen Otto Pfleiderer berief (1875), dessen
leidenschaftlicher Kampf gegen den Ritschlianismus wirkungslos
blieb — nach Elligers Einschätzung ein Nachzügler, der im Ausland
mehr Ansehen genoß als in Deutschland.

Nach den Statuten der Fakultät von 1836 sollte eine der
sechs Professuren ausdrücklich dem NT vorbehalten bleiben,
aber erst 1876 wurde diese Forderung durch die Berufung des
Neutestamentiers Bernhard Weiß erfüllt, der sich als Exeget und
Verfasser weit verbreiteter Lehrbücher einen Namen gemacht
hat und 1918 in hohem Alter gestorben ist. Ebenso bezeichnend
ist es, daß nach Niedners frühem Tode ein so befähigter
Mann wie Hermann Reuter gegenüber einem Semisch zurückgesetzt
wurde, daß ein „blendendes Genie" wie Adolf Jülicher
nicht empfohlen werden konnte, weil er „bedenklich weit nach
links orientiert sei". Er mußte sich obendrein anstatt für AT
für Kirchengeschichte habilitieren und konnte erst später in
Marburg seine weltweite Wirksamkeit als Neutestamentier entfalten
. War mit Julius Kaftan (1882) ein Systematiker berufen,
welcher in seinem Rückblick auf Kant und mit seiner Ablehnung
aller Methaphysik und Spekulation die Religion als praktische
Angelegenheit des Geistes ansah und die Dogmatik als
Darstellung der Glaubenserkenntnis verstand (die nicht die
unmögliche Aufgabe erfüllen konnte, vom Glauben zum Wissen
zu führen), so gelangte neben diesem Geistesverwandten
Ritschis im Jahre 1880 mit Adolf v. Harnack ein bewußter Anhänger
Ritschis auf den Lehrstuhl der Kirchengeschichte, von
welchem Elliger feststellt, daß er die Stellung der Theologie
innerhalb der Universität neu begründet habe. Betrug die Zahl
der Studenten im Sommer 1877 nur 135, so stieg sie in Har-
nacks erstem Semester auf 838, um allerdings auf 260 im
Jahre 1900 abzusinken. Zu einem guten Teil hat dabei die
„Abwerbung" der orthodoxen Pfarrhäuser mitgewirkt, die den
Kritiker des Apostolikums und wohl auch — das tritt bei Elliger
nicht klar hervor — dem weit vorausschauenden und aktiv
tätigen Sozialreformer gram waren, welcher schon seit 1890 in
öffentlichen Reden ein Zeitalter des Sozialismus voraussagte.
Gelang es, dem von Harnack sehr freundlich al6 Kollege begrüßten
Adolf Schlatter nicht, in Berlin Fuß zu fassen (1893
berufen, ging er schon 1898 nach Tübingen und machte Reinhold
Seeberg Platz, welcher nach Elligers Urteil trotz aller Tedlichen
Bemühung um eine modern-positive Theologie „faktisch
bedenklich in das alte Geleise der Vermittlungstheologie geriet
"), 6o war die 20jährige Zusammenarbeit mit Karl Holl für
die Fakultät um so wertvoller.

Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Fakultät
bildet die Reserve gegenüber der Religionsgeschichte, welche
nicht zuletzt auf einer Abneigung Harnacks beruht. 1894

war der geniale Hermann Gunkel in ein Extraordinariat berufen
worden, trotz aller Besorgnis, daß seine Neigung zu
kühnen Hypothesen die Studenten verwirren könnte. Ordinarius
wurde er in Berlin nicht. Er konnte seine Begabung als
einer der Begründer der religionsgeschichtlichen Schule später
in Halle entfalten. Kennzeichnend für die kirchenpolitische
Lage in Preußen um 1909 war es, daß der Fakultät Ernst
Troeltsch als Nachfolger Otto Pfleiderers nicht bewilligt wurde.
Dafür gestattete man die Umwandlung dieser Professur in einen
Lehrstuhl für allgemeine Religionsgeschichte. Er wurde 1910
mit Edvard Lehmann aus Kopenhagen besetzt. Als Lehmann
1913 einem Ruf nach Lund folgte, erlosch die Professur für
Religionsgeschichte wieder, der Lehrstuhl wurde mit Artur
Titius besetzt, der in den letzten Jahren seines Lebens besonders
durch Arbeiten über die Auseinandersetzung zwischen
Naturwissenschaft und Glaube hervorgetreten ist. Zwar hat
der Neutestamentier Adolf Deißmann (berufen 1908) die religionsgeschichtliche
Betrachtungsweise in die neutestamentliche
Forschung eingeführt und 6ie unermüdlich vertreten, das Ergebnis
seiner Arbeit (S. 99) war aber nicht so epochemachend, wie es
sich Deißmann selbst gewünscht hatte. Dagegen darf man sagen
, daß die jungen Nachwuchskräfte Martin Dibelius und Karl
Ludwig Schmidt von Männern wie Gunkel und Deißmann
gelernt haben, wenn auch ihre epochemachende Lebenslcistung
auf dem Gebiet der neutestamentlichen Formgeschichte sich
erst später entfaltete. Die Spannungen und bis zur Feindseligkeit
sich steigernden Gegensätze der nationalsozialistischen
Zeit sind vom Verf. nur kurz angedeutet (S. 120 und 127 f.).
Es sagt aber doch genug, wenn über die systematische Disziplin
geurteilt wird, daß sie nach ihrer geistigen Potenz und
theologischen Bedeutung seit Gründung der Fakultät niemals
so stark zurückgefallen war wie im letzten halben Jahrzehnt
vor dem Ende des zweiten Weltkrieges. Mit Recht hebt Elliger
hervor, daß keine der deutschen theologischen Fakultäten einen
so radikalen Neuanfang machen mußte wie die Berliner, war
doch im Herbst 1945 von 9 planmäßigen Lehrstellen keine
einzige mehr besetzt. Daher mußte die Wiederherstellung eines
geordneten Lehrbetriebes der Fakultät von Anfang an wichtiger
sein als die Herausarbeitung einer besonderen Eigenart
(vgl. S. 135 f.). Diese Eigenart hatte 6eit Gründung darin bestanden
, daß hervorragende tüchtige Männer jung nach Berlin
berufen wurden und bis an ihr Lebensende jahrzehntelang verblieben
. Kein geringerer als Adolf v. Harnack hat das hervorgehoben
. Andererseits wurden bewährte Gelehrte gelegentlich
in so vorgerückten Jahren nach Berlin berufen, daß es zu
nachhaltiger Wirkung nicht mehr kam. Es wäre nun noch besonders
reizvoll, an dieser Stelle einen Überblick bedeutender
Theologen zu geben, die in Berlin studierten und promovierten
und sich habilitierten, um später auf deutschen Lehrstühlen
wirkungsvoll zu vertreten, was sie in Berlin gelernt hatten.
Aber diesen Nachweis kann sich der interessierte Leser aus dieser
gehaltreichen Darstellung selbst erarbeiten. 150 Jahre
Fakultätsgeschichte sind, gemessen an Fakultäten wie Leipzig,
Rostock oder Greifswald, nicht viel.

Täuscht nicht alles, so hat die Berliner Fakultät ihre notvolle
Übergangszeit soeben hinter sich gebracht, um sich unter
den gegenwärtigen Verhältnissen aus ihrem wissenschaftlichen
Nachwuchs einen verjüngten Lehrkörper heranzubilden, der
neben strenger wissenschaftlicher Fachforschung auch bereit ist,
sich mit Gegenwartsproblemen auseinanderzusetzen und an der
Aufgabe der Erziehung der Studenten zu beteiligen.

Berlin Erich Fascher

Merz, Georg: Wege und Wandlungen. Erinnerungen aus der Zef
von 1892 — 1922. Nach seinem Tode bearb. von Johannes Merz-
München: Kaiser 1961. 261 S., 7 Taf. 8°. DM 9.80; Lw. DM II-«0'
Wer dieses Buch liest, das Pfr. Johannes Merz, der Sohn
von Georg Merz, zusammengestellt hat, wird es sehr bedauern,
daß G. Merz den Plan nicht ausführen konnte, den er sich für
die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Lehramt vorgenommen
hatte. Die Arbeit an seinen Lebenserinnerungen 6teckte erst ifl
den Anfängen, als er durch einen plötzlichen Tod abberufe"
wurde. Um so mehr gebührt dem Herausgeber und der FamiÜc