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Ausgabe:

1962 Nr. 11

Spalte:

813-826

Autor/Hrsg.:

Bardtke, Hans

Titel/Untertitel:

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften 1962

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813 Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 11 814

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften

46. Qumran-Probleme im Licht einiger neuerer Veröffentlichungen

Von Hans B a r d t k e, Leipzig

Es dürfte charakteristisch sein, daß von den hier zu besprechenden
Publikationen über Qumränprobleme drei Nummern1
einen großzügigen Forschungsbericht bieten wollen, wobei
je nach der Eigenart des Autors und seiner Stellung in der
Forschung das archäologische oder das historische oder das
religionsgeschichtlich-theologische Element stärker akzentuiert
erscheint. Die beiden anderen Veröffentlichungen2 stoßen mit
kühnen Thesen in neues Land der Erkenntnis vor und fordern
zu kritisch-nüchterner Betrachtung heraus, die freilich getrieben
sein wird von der Freude an der neuen Sicht der Dinge, auch
wenn sie der selbsterworbenen Anschauung zunächst diametral
entgegengesetzt ist.

Im Jahr 1959 hat der Ausgräber von Qumrän Pater Roland
de Vaux in der Reihe der Schweich Lectures of the British Aca-
demy Vorlesungen über die Ausgrabung von Qumrän gehalten.
1961 ist der Band im Druck erschienen. Da ein abschließender
Grabungsbericht über chirbet Qumrän und die Gebäudeanlagen
von 'en feschcha noch nicht erschienen ist, kommt dieser
Vorlesungsreihe von Pater de Vaux besonderes Gewicht zu.
Nachdem 195 8 die Ausgrabungen nördlich der Feschchaquelle
zu einem Abschluß gekommen waren, stellt da6 Buch von
de Vaux einen wissenschaftlichen Rechenschaftsbericht dar, der
in dem gleichen Jahr gehalten worden ist, in dem der vorläufige
Grabungsbericht über die 'en-feschcha-Gegend erschien3.

Die Vorlesungsreihe ist methodisch meisterhaft aufgebaut.
F-Tst handelt de Vaux die reinen archäologischen Befunde ab in
der Reihenfolge der Grabungen, also erst die Grabung auf
chirbet Qumrän, dann die Forschungen in der Umgebung der
ehirbe, wozu die Begräbnisplätze, die Höhlen und die 'en-
feschcha- Gegend gerechnet werden. Aus den ausführlichen Darlegungen
wird auf S. 69 f. ein sehr vorsichtiges und in dieser
Vorsicht überzeugendes Ergebnis gewonnen. Während rund
zweier Jahrhunderte hat auf der Mittelterrasse, in den Höhlen
und in der 'en-feschcha-Gegend eine Gemeinschaft, die nicht
viel mehr als zweihundert Mitglieder zählte, gelebt. Diese
Gemeinschaft war organisiert, wie es die Gebäudeanlagen, das
Wasserversorgung6system, die Anzahl der gemeinsamen Räume
und die regelmäßige Anlage des Begräbnisplatzes ausweisen,
h. diese Gemeinschaft lebte in einer alle bindenden festen

') Vaux, R. de, O. P.: L'Archeologie et les manuscrits de Ia
Wer Morte. London: Oxford University Press publ. for the British
Acadcmy 1961. XV, 107 S., 38Taf., 4 Faltpl. gr. 8° = The Schweich
Lectures of the British Academy, 1959. (Die große Anzahl von
'afeln bietet eine Reihe prächtiger und seltener Aufnahmen von
Qumrän einschließlich wertvoller Grundrißzeichnungen und einer vergleichenden
Keramiktafel, auf der die Keramik der Höhlenfunde, der
enirhet Qumrän und der Bauanlagen bei 'en feschcha in glänzender
diaraktcristischer Auswahl gegeben i6t.)

"ernpel, Johannes: Die Texte von Qumrän in der heutigen Forschung
. Weitere Mitteilungen über Text und Auslegung der am Nord-
*estendc des Toten Meeres gefundenen hebräischen Handschriften.
Göttingen: Vandcnhoeck & Ruprecht 1962. 94 S. gr. 8° = S.-A. aus
Nachrichten der Akademie d. Wissenschaften in Göttingen, I. Philol -
«•t. Klasse, Jg. 1961, Nr. 10.

JLeremias, Joadiim: Die theologische Bedeutung der Funde am
Toten Meer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1962]. 28 S. 8° =
Vortragsreihe der Nicdersächs. Landesregierung z. Förderung d. wiss.
Forschung in Niedersachsen, hrsg. i. Auftr. d. Niedersächs. Minister-
Präsidenten, H. 21.

s) R o t h, Cecil: The Historical Background of the Dead Sea
«rolls. Oxford: Blackwell 1958. VIII, 87 S._ 8°.

!lengstorf, Karl Heinrich: Hirbet Qumran und die Bibliothek vom
Toten Meer. Stuttgart: Kohlhämmer [i960]. 81 S. gr. 89 = Studia
uelitzschiana. Abhandig. u. Texte a. d. Institutum Judaicum Delitzschi-
an"m. Münster, hrsg. v. K. H. Rengstorf, Bd. 5.

*) Fouilles de Fcshkha. Rapport preliminaire, RB LXVI, 1959,
*25 —255. Siehe dazu meinen ausführlichen Bericht in ThLZ 1960,
274: „Zwischen chirbet Qumrän und 'en feschcha".

Lebensordnung, die sicher die Arbeitspflicht einschloß. Darauf
weisen die Werkstätten, die Wasseranlagen und die mögliche
landwirtschaftliche Nutzung der Umgebung. De Vaux wagt auf
Grund des archäologischen Befundes noch einen Schritt weiterzugehen
. Er schließt aus der Einzigartigkeit der Bestattungsart,
aus dem großen Speisesaal, aus den sorgfältig bestatteten Resten
der Mahlzeit, daß die Sekte religiösen Charakter trug und
bestimmte Riten beobachtete (S. 69 f.).

Erst nach diesen beiden ausschließlich dem archäologischen
Befund gewidmeten Abschnitten setzt de Vaux seine Ausgra-
bungsergebnisse4 zu den aufgefundenen Texten in eine vorsichtige
Beziehung. Diese Beziehung ermöglicht die historischen
Aussagen. Dabei darf sogleich kräftig hervorgehoben werden,
daß de Vaux auf S. 80 ausdrücklich betont, Inschriften auf
Ostraka und Krügen seien auf chirbet Qumrän gefunden worden
, und diese Inschriften stimmten paläographisch überein mit
den kurzen Inschriften auf einem Krug der Höhle 4, auf einem
Krug der Höhle 7 und auf einem Ostrakon der Höhle 106. Der
Zusammenhang der Handschriften aus den Höhlen mit der
Siedlung auf der Mittelterrasse von Qumrän, chirbet Qumrän,
kann also nicht mehr bestritten werden. Ferner erwähnt de Vaux
die physikalisch - chemische Untersuchung nichtbeschriebener
Manuskriptfragmente, die in den Laboratorien der Universität
zu Leeds" durchgeführt wurde. Sie erstreckte sich vergleichsweise
auch auf Fragmente von aramäischen Dokumenten des 5. Jahrhunderts
und auf solche aus den Höhlen des wädi murabba'ät.
Das Ergebnis war deutlich die zeitliche Zwischenstellung der
Qumränfragmente zwischen den Dokumenten des 5. Jahrhunderts
und denen des wädi murabba'ät. Im Zusammenhang mit
den archäologischen Ergebnissen legt de Vaux also den historischen
Rahmen, in dem die Manuskripte für echt erklärt und
interpretiert werden müssen, zwischen der zweiten Hälfte des
zweiten Jahrhunderts v. Chr. und 68 n. Chr. fest7.

Freilich bedarf es nun doch der Frage, ob der Ausgräber an
seinen eigenen archäologischen Ergebnissen bisher etwas geändert
oder modifiziert hat. Da die Grabungsbefunde wiederholt
sehr abweichend gedeutet worden 6ind, ist diese Frage besondere
wichtig". Tatsächlich liegt eine leichte Modifizierung
seiner Deutung der Periode Ia vor. Während er sie früher unter
Johannes Hyrkanus 135—104 v.Chr. beginnen ließ, gibt er
jetzt die Möglichkeit zu, daß sie unter einem Vorgänger des

*) Die archäologischen Ergebnisse für die vorexilische Zeit bleiben
hier uncrörtert. Wichtig ist, daß S. 47 de Vaux das israelitische Gebäude
in der Küstenebene für älter hält als die israelitische Siedlung
auf der Mittelterrasse. Nach dem keramischen Befund können beide
Bauanlagen nicht gleichzeitig errichtet worden sein. Die Bauanlage der
Küstenebene wird von dem Ausgräber in das 9. Jahrhundert v. Chr.,
Zeit Josaphats, datiert (S. 73). Die Grenzmauer, die de Vaux früher
(RB LXIII, 1956, 576) „möglicherweise" (possible) für israelitisch erklärte
, bezeichnet er jetzt als vermutlich (probable) israelitisch und
vergleicht sie mit ähnlichen Mauern in der Buke'a und im Negeb
(S. 48). Er hebt aber zugleich hervor, daß diese Mauer nach Süden
verlängert worden ist in einer anderen Bauweise, die auf die Qumrän-
gruppe hinweist. Die Aufgabe der Mauer war Trennung der Kulturen
in der Küstenebene von der vom Räs-feschcha-Paß kommenden Straße.

*) S. 80. In dieser Präzision bisher noch nicht herausgestellt.

°) S. 76 f. Eß handelt sich um die Methode der Retraktions-
messung von Fasern unter bestimmten Temperaturen. Je älter das betreffende
Lederstück ist, um so niedriger ist die Temperatur, die die
größtmögliche Retraktion herbeiführt. Vgl. J. Allegro, The People of
the Dead Sea Scrolls, 1959=; Bild 68.

7) S. 104. Das schließt da6 Vorhandensein älterer Handschriften
z. B. biblischer Manuskripte nicht aus, wie das Beispiel von 4QSam°
(vgl. Handschriftenfunde II, 100) zeigt.

8) Es sei verwiesen auf den Aufsatz von de Vaux, Les manuscrits
de Qumrän et l'archeologie (RB LXVI 1959, 87—110). Hier setzt sich
de Vaux mit Zeitlin, Dussaud, Teicher, Kahle, Driver, Lacheman, Del
Medico auseinander. Die einzelnen Vorschläge sind zu bekannt, um 6ie
hier noch einmal aufzuführen.