Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1962

Spalte:

55-58

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Das Erbe des 19. Jahrhunderts 1962

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

55

Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 1

und der Zusammenhang zwischen Christi geistlicher Herrschaft
und seiner Herrschaft über die Welt vom eschatologischen Gesichtspunkt
her, d. h. im Hinblick auf Christi zukünftige Herrschaft
. Der Verfasser weicht dieser Konfrontation in gewissem
Grade durch seine Disposition aus, indem er zuerst von
Christi Anteil an Gottes allgemeinem Regiment über die Welt
spricht und danach von Christi geistlicher Herrschaft. Der
Verfasser neigt dazu, diese beiden „Herrschaften" ganz einfach
nebeneinander zu stellen (siehe z. B. S. 152).

Hierauf beruht es auch, daß ziemlich große Partien der Darstellung
einigermaßen uninteressant werden: daß Gott, wenngleich
verborgen, über seine Schöpfung herrscht, und daß Christus
durch den Glauben über die Seinen herrscht — darauf braucht
man bei dem heutigen Stand der Lutherforschung nicht viele Seiten
oder WA-Zitate zu verschwenden. Dieser Eindruck verstärkt
«ich dadurch, daß der Verfasser sich in diesem Punkt auf keine
nennenswerte Diskussion mit der Luther-Literatur einläßt, was
er übrigens im Vorwort selbst bedauert. Aber natürlich tritt die
hier angedeutete Problematik in der Abhandlung hervor, besonders
im 5. Kap., wo der Verfasser die Frage der Handlungsweise
des Christen in den weltlichen Ordnungen erörtert. Die Darstellung
ist hier nicht ganz eindeutig. S. 141 sagt der Verfasser z.B.:
„Ebenso wie Luther hier ganz allgemein vom Evangelium her zu
den Fragen der Wirtschaft Stellung genommen hat, hat er auch
zu einer besonders wichtigen Wirtschaftspraxis vom Evangelium
her sich geäußert, nämlich zur Zinswirtschaft." Das Problematische
liegt in diesem Fall in den Worten „vom Evangelium her",
welche — und das ist wesentlich — nicht als ein neues, höheres
Gesetz aufgefaßt werden dürfen, das vom Evangelium und Glauben
her einem weltlichen Gebiet auferlegt wird und das Berechtigte
in der weltlichen Eigengesetzlichkeit antastet.
Richtig drückt der Verfasser die Sache auf S. 133 aus: „ . .. die
im Christen durch die geistliche Herrschaft Christi geschaffene
Herzenseinstellung (befähigt) nicht zu einem über das Gebot
Gottes des Schöpfers hinausgehenden Gehorsam, sondern bewirkt
nichts anderes als eben den rechten Gehorsam gegen das Gebot
des Schöpfers und Erhalters". Die Verbindung zwischen dem in
der Schöpfung und dem in der Erlösung Gegebenen im Handeln
des Christen in den weltlichen Ordnungen ist außerordentlich
wesentlich, aber auch sehr schwer fixierbar. Sie hat natürlich mit
der Dialektik von Gesetz und Evangelium zu tun, dürfte aber
auch für die Auffassung von der Einheitlichkeit im
Begriff der Königsherrschaft Jesu Christi größte Bedeutung haben.

Der Wert der Forckschen Arbeit liegt unter anderem darin,
daß sie einen neuen Beitrag zu einer Debatte liefert, die von
großer Wichtigkeit ist und deshalb fortgeführt werden muß.

Lund/Schvvcdeii OlofSundby

P h i 1 i p p i, Paul: Luther — und die Diakonie in der Kirche.
Die Innere Mission 51, 1961 S. 148—1 53.

KIRCH EIS GESCHICHTE: NEUZEIT

xjVvSchneemcIcher, Wilhelm [Hrsg.]: Das Erbe des 19. Jahrhunderts.

Referate vom Deutschen Evangelischen Theologentag 7.—11. Juni
1960 in Berlin. Berlin: Topelmann 1960. VII, 89 S. gr. 8°. Lw. DM 9.80.

Von den drei Hauptreferaten des Theologentages 1960 in
Berlin auch Fernerstehenden einen Eindruck zu vermitteln — wie
es wohl der Sinn einer Rezension des genannten Buches sein
muß —, ist keine ganz leichte Aufgabe. Wir können ihr nur so
nachkommen, daß wir bewußt vergröbernd auf die Grundgedanken
der Vorträge zu führen versuchen, andererseits — als Korrektiv
gegen mögliche Verzeichnungen — mehr als üblich einige
u. E. entscheidende Stellen zitieren.

Rudolf Hermann : Systematisch bedeutsame Motive aus
der Theologie des 19. Jahrhunderts.

Im Bereich der Theologie begegnet es nicht selten, daß das
Nachlesen eines gehörten Vortrages, der als gesprochenes Wort
die Hörer in seinen Bann zog, arg enttäuscht. Ganz anders bei
Rudolf Hermann, dessen Vortrag man gelesen haben muß,
wenn man ihn in seinem ganzen Reichtum ausschöpfen will. —

Hermann steht dem Versuch kritisch gegenüber, die Theologie
des 19. Jahrhunderts einheitlich zu charakterisieren
oder gar zu bewerten (von A b Wertung ist selbst bei Barth nicht
mehr die Rede). Sinnvoller erscheint Hermann, an Einzeldenkern
bedeutsame Motive aufzuweisen. Aus der Reihe der besprochenen
Theologen — einsetzend mit Schleiermacher und über Ritsehl,
Nitzsch, Hairless u. a. bis zu von Hofmann führend — erscheinen
dem Rezensenten besonders beachtlich Hermanns Ausführungen
über D. F. Strauß, R. Rothe sowie J. von Hofmann.

Strauß' Christologie sei von 6einer Voraussetzung aus,
die Gottheit Christi in der Idee eines heiligen Menschentums
statt im — geschichtlichen — Gegenüber zu allem bloß Menschlichen
zu suchen, konsequent.

„Man muß eben die Einzigkeit Jesu Christi, daß er Gottes Bild in
singularem Sinne ist, nicht auf dem Felde heiligen Menschentums suchen,
. . . sondern auf dem eigentlichen Felde des Einmaligen, nämlich dem
des geschichtlichen Geschehens. Man muß ihn als Gottes eigenes Eintreten
in die Zeit verstehen . . . Dann ist er die erfüllte Zeit, an der wir
Grund und Sinn der zeitlichen Einmaligkeit erst voll erfassen" (S. 9).
Sonst gibt es keinen „Einwand gegen dessen vielzitierte These, daß die
Idee es nicht liebt, ihre Fülle in ein Individuum auszuschütten" (S. 10).

Auf ein anderes gewichtiges Problem führt die Frage, ob
Offenbarung nur Inspiration (subjektive Deutung) oder auch objektiv
in der .heiligen' (oder vielleicht in jeder) Geschichte wirkende
Manifestation ist. Beides wollte R. R o t h e in Geltung
sehen.

„Die Geschichte selber, im Sinne der Geschehnisse, wäre also größer
, sozusagen der Wirklichkeit stärker eingemeißelt, als ihre Deutungen
, auch als ihre unmittelbaren Deutungen selbst in der Bibel — das
scheint mir ein wichtiger und fruchtbarer Gedanke zu sein. Und müßte
es wirklich einen Schaden bedeuten, wenn mit dadurch einer einseitigen
Throninhaberschaft des .Wortes', des ,Kerygmas', des .Zeugnisses
' in der Theologie entgegengetreten wird?!" (S. 11).

Hermanns Intention wird noch klarer, wenn er sich gegen
die Meinung (besonders seit Kierkegaard) wendet: der Inspiration
als Offenbarung könne auf Seiten der objektiven Wirklichkeit
nur Verborgenheit und Ärgernis entsprechen.

„Kierkegaard . . . betont bekanntlich stark das Paradoxon und gaf
das .Ärgernis', auf das der Mensch, anstatt Gott zu begreifen, stoße,
wie Abraham auf dem Weg nach Morija. Erst recht muß im Hinblick auf
die Niedrigkeit Christi von Verborgenheit gesprochen werden. Nur darf
Verborgenheit nicht zum eigentlichen Kennzeichen von .Offenbarung'
oder zu einer Art von Alternativwort zu ihr erklärt werden. Das Wort
.Ärgernis' erscheint mir in der Bibel als viel stärker abgewehrt denn bejaht
. Und ist es wirklich unberechtigt zu fragen, ob bei einer Dialektik
der Paradoxie die Gefahr beschworen ist, daß die, sei es auch als heilige
Pflicht empfundene, Negation zum Motor des Heils erhoben
wird?" (S. 13).

Auch für von Hofmann war — in seiner typologischen
Deutung der Geschichte Israels — das eigentlich Wichtige: Heilsgeschichte
und Weltgeschichte nicht auseinanderklaffen zu lassen,
zumal „der Gedanke einer Universalgeschichte ja anerkanntermaßen
weithin der Bibel verdankt wird" (S. 19). Offenkundig
will Hermann dem wehren, daß der heutige Grundsatz, daß Gott
nicht aus der Geschichte erkannt werden könne, dahin überspitzt
wird, daß die Geschichte als solche nur gottloses und christusfeines
Chaos sei. Das heißt zugleich, daß das heute so wichtig
genommene Betonen der historischen Faktizität des Christusereignisses
zur Konsequenz hat, es nicht von der Geschichte im
ganzen zu isolieren, sondern nun doch eine gewisse Einordnung
in deren Verlauf zu versuchen.

So im Zusammenhang der Ausführungen über von Harless: „Mit
jener Tatsächlichkeit ist aber natürlich nicht bloß gemeint, daß da in
Palästina etwas passiert ist, sondern daß die Faktizität von Gesetz und
Evangelium im .Wesenszusammenhang mit der in sich einheitlichen Erziehung
des Menschengeschlechts' steht (Chr. Eth. . . .) — Damit ist
auch der Volksgeschichte Israels eine Aufgabe im Dienste des Göttlichen
Universalismus zugesprochen. Sie allein zeigt uns, worin von jeher Gottes
Gemeinschaft mit uns besteht, nämlich darin, daß sie ebensosehr die
,eines fordernden als eines gewährenden Gottes' ist" (S. 1 8 f.).

Daß sich in der Geschichte freilich auch die Sünde gleichsam
verobjektiviert, dazu folgender Satz aus der Besprechung
Nitzschs, der uns zugleich Hermanns Grundintention auszusprechen
scheint:

„Das Heidentum denkt Nitzsch als ideell der Wahrheit nicht
fern. Aber es finde keinen Ausgleich zwischen Idee und Geschichte, de