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Ausgabe:

1962 Nr. 10

Spalte:

767-768

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Deppermann, Klaus

Titel/Untertitel:

Der hallesche Pietismus und der preussische Staat unter Friedrich III. (I.) 1962

Rezensent:

Moltmann, Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 10

768

Werk ist die ständige Benutzung der Literatur des 18. und beginnenden
19. Jahrhunderts, von der der Verfasser eine Liste gibt.
Viele Bücher und Zeitschriften sind in Deutschland kaum zugänglich
. Das Register ermöglicht eine fruchtbare Benutzung des Buches
. So wird dieses Buch auch in Deutschland mit Dank begrüßt
werden. Es soll allerdings nicht verschwiegen wenden, daß
manche Ausführungen des Buches kritischer und 6traffer sein
konnten. Seltsam muten uns manche Überschriften an, wie: Fat
Bulls of Bashan, Sennacherib's Army: The Rally round the
Altar, Stan's Grand Instrument u. a.

Berlin Walter D el i u s

Deppcrmann, Klaus: Der hallesdie Pietismus und der preußische
Staat unter Friedrich III. (L). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
[1961]. 188 S., 1 Porträt, gr. 8°. DM 14.80.

Diese Untersuchung eines Historikers aus der Schule
G. Ritters und C. Hinrichs gilt der Klärung jener merkwürdigen
Allianz zwischen preußischem Absolutismus und halleschem Pietismus
, die für die Überwindung der konservativen Herkunftsmächte
in ständischer Gesellschaftsordnung und orthodoxem
Kirchentum und für das Aufkommen einer neuen bürgerlichen
Welt- und Lebensauffassung in Deutschland so bedeutsam
wurde. Wenn sich heute zunehmend die Erkenntnis der tiefen
Verflochtenheit zwischen theologischen Entscheidungen und
politisch-sozialen Verhältnissen durchsetzt, so muß diese Arbeit
als vorbildlich für deren historischen Aufweis bezeichnet werden
. Der Verf. unterstellt methodisch nicht eine „Ableitung"
des Pietismus aus dem Absolutismus und dem Merkantilismus,
sondern spricht von „Verknüpfungen" und „Bündnissen", dem
Worte Rankes entsprechend von den „Allianzen, die sich in der
Geschichte binden und lösen". Er gewinnt dadurch einen offenen
Blick für die vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen Potsdam
und Halle.

Die Klärung folgender Fragen hat sich der Verf. zur Aufgabe
gesetzt: 1. In welchen Zielen stimmten Pietismus und
Absolutismus überein? 2. In welchen Stücken war das Programm
Speners und ' Franckes politisch und sozial „zeitgemäß"? —
Welche Folgen hatte die Allianz Franckes mit dem preußischen
Staat, seine Privilegierung usw., für die geschichtliche Gestalt-
werdung pietistischen Geistes? Was bedeutet diese Allianz für
die Entwicklung der Gesellschaft vom Feudalismus zum Bürgertum
in Deutschland? —

Der Verf. beginnt seine ausgezeichneten Detailstudien, die
viel unbekanntes Material verarbeiten, mit einer gerafften Schilderung
der Verhältnisse in deutschen Ländern nach dem 30jähri-
gen Krieg. Die hinterlassene gesellschaftliche Situation ist, abgesehen
von Verarmung, Verwüstung und Entvölkerung, bestimmt
durch einen Niedergang des Bürgertums, einen neu erstarkten
Feudalismus und durch die innere Aushöhlung der
Zunftordnungen durch staatlichen Merkantilismus. Die lutherische
Orthodoxie, die geistliche Stütze der alten Stände-
OTdnung, gerät durch die von ihr nicht gemeisterte neue Geschichtserfahrung
und durch die von jener hervorgerufenen
mystischen, antihierarchischen und chiliastischen Laienbewegungen
in ihre Existenzkrisc. Der preußische Staat ist aus inneren Gründen
auf eine neue Toleranzpolitik angelegt und gewinnt durch
eine merkantilistische Wirtschaftspolitik an Macht gegenüber
den Landständen. Diese Umstände machen es verständlich, warum
der Berliner Hof zum Sammelplatz von Schern, Grüblern
und Enthusiasten (Arnold, Petersen, Dippel u.a.) wird, zu denen
wiederum Spener und Francke umstrittene Beziehungen pflegen.

In einem 2. Teil 6tellt der Verf. unter dem Titel „Reich
Gottes und Welt bei Ph. J. Spener" dessen Sozialanschauungen
dar. Dieser Abschnitt ist ein kleines Meisterstück, das in der
Spenerforschung seinen Platz finden wird, zumal die Ergebnisse
ständig an sozialgeschichtlichen Erhebungen geprüft werden.
Der 3. Teil ist dem Bündnis zwischen preußischem Staat und
halleschem Pietismus gewidmet und behandelt die Wechselwirkungen
, Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Mächte.
Hier wird aus den Quellen das Material zur Beantwortung der
eingangs gestellten Fragen erarbeitet.

Fassen wir die Ergebnisse nach Deppermann zusammen:

Der Pietismus ist als „zweite protestantische Reformation"
gegenüber der Orthodoxie die erste Bewegung, der wieder gelingt
, — trotz innerer Neigung zur Exklusivität — in alle
Bevölkerungsschichten einzudringen. Seine geschichtliche Wirkung
verdankt er in Deutschland der Privilegierung durch Preußen
, das den vielfach wirren Geistern der ersten Generation
Asyl bot und einen großen Teil der Bewegung aus der separatistischen
, quietistischen und weltverneinenden Haltung zur geschichtlichen
Gestaltung verhalf. In den Franckeschen Stiftungen
in Halle gewann der Pietismus sein Organisationszentrum. Der
Pietismus bezahlte die staatliche Protektion im Kampf gegen
die Anfeindungen seitens der Landstände und der Orthodoxie
mit der Preisgabe seiner ursprünglichen Bestrebungen, den
Zusammenhang von Staat und Kirche durch Selbständigkeit der
Einzelgemeinden zu lockern. So kam es, daß der vom Pietismus
bewirkte Sturz der Orthodoxie sich in einem protestantischen
Staatskirchentum und in einer Zentralisierung des absolutistischen
Regimentes vollendete. — Die neue merkantilistische
Wirtschaftsform des Absolutismus fand in Franckes Pädagogik
einer methodischen Lebensführung und des Ethos rastloser Arbeit
für das Reich Gottes ihre moralische Gestalt. Die Konsequenz
aus beidem war die Einebnung der ständisch differenzierten
Gesellschaft, eine Entfeudalisierung und allgemeine Verbürgerlichung
.

Die Arbeit schließt mit einem Vergleich zwischen englischem
Puritanismus, dessen späte Allianz mit dem frühen Kapitalismus
M. Weber beschrieben hat, und deutschem Pietismus,
dessen Allianz zum Sozialismus C. Hinrichs behauptete. Der Verf.
meint, daß im Gegensatz zum englischen Puritanismus die deutschen
Pietisten niemals die partikularistische Prädestinationslehre
zur Grundlage ihres Arbeitsethos gemacht hätten, da sie
stets an dem melanchthonischen Dogma von der Universalität
der Gnade festgehalten und aus diesem heraus eine Arbeitsauffassung
als „Arbeit für andere" entwickelt hätten. So interessant
diese Perspektive ist, so muß doch korrigiert werden, daß
e6 auch nach M. Weber nicht die partikularistische Prädestinationslehre
selber, sondern das reformierte Perscveranzdogma der
gratia inamissibilis war, das zur Grundlage eines Arbeitsethos
der Heiligung und Bewährung in „innerweltlichcr Askese" werden
konnte. Was Spener von Melanchthon und der lutherischen
Orthodoxie unterscheidet — der Verf. zitiert selber solche Stellen
, z. B. S. 37 — ist gerade der Übergang zur gratia inamissibilis
, wie es in seiner Unterscheidung im Sündenbegriff (Sünde
„haben" und Sünde „tun") zum Ausdruck kommt. Die lutherisch
-orthodoxe Lehre von der gratia ami6sibilis weist den Menschen
beständig auf die Buße als Rückkehr zum Wort und-
Sakrament der Kirche. Für eine Lebensauffassung nach der iirath
inamissibilis werden in pietistischer Gestalt Wort und Sakrament
äußere Stützen, und die Buße wird zur Bewährung in den
Werken. Insofern stehen sich deutscher Pietismus und englisch-
niederländischer Puritanismus doch wiederum sehr nahe. Neigungen
zum Sozialismus scheinen mir eher in einem chiliastischen
und dann säkularisierten Reich-Gottes-Begriff zu liegen,
wfie er im Dreieck von Chr. A. Crusius, Bengcl und Lessing zu
erkennen ist.

Wuppertal-Barmen Jürgen Mol t m a n n

Rotermund, Hans-Martin: Orthodoxie und Pietismus. Valentin
Ernst Löschers „Timotheus verinus" in der Auseinandersetzung mit
der Schule August Hermann Franckes. Berlin: Evang. Verl. Anst.
[1959]. 122 S. 8° = Theologische Arbeiten, hrsg. v. Hans Urner,
XIII. Hlw. DM 7.50.

Die vorliegende Veröffentlichung untersucht unter systematischen
Gesichtspunkten die Kontroverse zwischen dem letzten
bedeutenden Vertreter einer verlöschenden Orthodoxie und
Joachim Lange, der die hallische pietistische Schultheologie vertritt
, und füllt damit eine Lücke aus.

Der Verfasser macht einsichtig, wie stark Löscher in einem
Schematismus verfangen war, wodurch er oft das eigentliche Anliegen
des Pietismus einfach nicht verstehen konnte. Vieles
nimmt tragische Züge an, z.B. wenn sich Löscher bemüht, in der
Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung auf