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Ausgabe:

1962 Nr. 10

Spalte:

733-740

Autor/Hrsg.:

Krodel, Gottfried G.

Titel/Untertitel:

Fragen an ein katholisches Erasmusverständnis 1962

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 10

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Einige Punkte aus den Darlegungen Uhsadels möchte ich
besonders hervorheben und unterstreichen: Bei aller Nüchternheit
in der Frage, wie weit unsere heutigen landeskirchlichen
Gemeinden überhaupt in der Lage sind, die Institution der
Einzelbeichte wieder mit Leben zu erfüllen, wagt Uhsadel doch
zu sagen (S. 34), „daß viel mehr möglich ist, als der Unerfahrene
meint". Dabei wehrt sicli Uhsadel gegen die Verfehmung psychologischer
Fragestellung und der fruchtbaren Nachbarschaft mit
der Psychotherapie, gegen die Unterschätzung konkreter menschlicher
Beratung und Führung, die neben dem verbindlichen
Wort der Absolution als eine Form der brüderlichen Liebe
durchaus ihr legitimes Recht hat, und ebenso gegen die pauschale
Verwerfung des richterlichen Aspektes (S. 52 f.), da ja
die Beichtenden „ein klares Urteil in brüderlicher Liebe suchen,
das unter Umständen auch einmal ein eindeutiges Nein sein
kann, mit dem die Absolution verweigert werden muß".

Mit dem größten Nachdruck mache ich mir die Forderung
zu eigen, daß die Einzelbeichte, ehe sie in unseren Gemeinden
angeboten und empfohlen werden könnte, an den Stätten der
Ausbildung der Pfarrer, an den Predigerseminaren praktiziert
werden müßte. Es ist eine nicht länger zu verantwortende Gefährdung
ebenso der Pfarrer wie der Gemeinden, wenn man
Pfarrer in der Ordination doch auch mit diesem Dienst, Beichte
2u hören, beauftragt, ohne daß sie selber auf diesen Weg gewiesen
werden und die Hilfe, welche privata absolutio gerade
gegen die Gefahren des geistlichen Amtes gewähren kann, an
s'ch selber erfahren haben. Aber es hat keinen Sinn, diese an
sich so selbstverständliche Forderung immer wieder theoretisch
zu erheben, wenn unsere Kirchenbehörden nicht den Mut haben,

von dieser Erkenntnis bei der Zurüstung zur Ordination einen
entschlosseneren Gebrauch zu machen. — Von dem „Beichtgeheimnis
" redet Uhsadel leider nur in einem kurzen Abschnitt
(S. 46 f.), sagt allerdings mit gutem Recht, „daß das Beichtgeheimnis
auch von den Beichtenden verletzt werden kann".
Darüber müßte wohl noch ausführlicher gesprochen werden.
Die Achtung des Beichtgeheimnisses müßte auch in der Zurüstung
künftiger Pfarrfrauen eine erhebliche Rolle spielen, und
es müßte ganz allgemein der Kampf gegen ein zuchtloses
Mitteilungsbedürfnis und gegen eine Geschwätzigkeit im Dienst
persönlicher Eitelkeit (auf Seiten des Pfarrers ebenso wie des
Beichtenden) geführt werden.

Und wenn man sich schon einmal von bestimmten Mode-
irrtümern so sehr frei macht, wie es Uhsadel getan hat, könnte
vielleicht doch über die seelsorgerliche Lebenshilfe, die die
Einzelbeichte gewähren kann, und 6elbst über die „Werke"
etwas positiver geurteilt werden, die zwar gewiß nicht als
opera satisfactoria vor Gott irgend etwas wieder gut machen
können, die aber sehr wohl als Zeichen ernstlicher Absage an
bestimmte Sünden nicht unterschätzt werden dürften.

Aber jedenfalls: Wir sind hier, in der Schrift von Uhsadel,
auf dem Boden wirklicher menschlicher Nöte und Anliegen,
konkreter menschlicher Schwierigkeiten und ebenso konkreter
möglicher menschlicher Hilfe im Lebensbereich der Kirche,
während das Buch von Anciaux zeigt, daß wir alle solche heilsamen
Wege nur in betontem Abstand von dem römisch-
katholisch verstandenen sacramentum poenitentiae beschreiten
können.

Die Erasmusforschung beschäftigt sich immer wieder von
neuem mit dem Problem „Erasmus und die Reformation". Die
spannungsgeladenen, ereignisreichen Jahre von 1517 bis 1525
stehen dabei im Mittelpunkt des Interesses (S. 3). Jedoch der
••späte" Erasmus, d.h. sein Verhalten zur Reformation nach dem
Willensstreit, dem endgültigen Wort zur Reformation', ist noch
wenig bekannt. Und das gilt nicht nur für sein Verhältnis zur
Reformation, sondern auch für 6cin Leben und Denken im allgemeinen
". Neben dem späten Erasmus ist es vor allem seine
Theologie, die noch auf ihre Erarbeitung wartet. Unzählige
Arbeiten sprechen zu einzelnen Punkten4, aber ein Versuch der
Stoß angelegten Zusammenschau ist noch nicht unternommen'.

K. H. Oelrich wählt den späten Erasmus und seine Stellung
Zl'r Reformation zum Thema seiner Darstellung'; damit will er

'** l) Oelrich, Karl Hein;: Der späte Erasmus und die Reforma-
t,.°n- Münster/W.: Aschendorff [l961J. XI, 166 S. pr. 8° = Rcforma-
i|°nsgcschichtlichc Studien u. Texte, hrsg. v. H. Jedin, H. 86. Kart.
UM 14.60.

") K. A. Meissinger, Erasmus von Rotterdam (Veröffentlichungen
des Instituts f. Rcformationsforschung München. 1. Berlin: A. Nauck
Co., II. 194g), S. 334: cf. Oelrich, op. cit. S. 3 f.
*) Zur neueren Erasmusforschung cf. W. Kaegi, „Erasmica",
b*wei2. Zs. f. Gesch. 7 (1957) — Oelrich. op. cit. S. 2 ff.
, *) Z.B.: J. Lortz, „Erasmus — kirchengeschichtlich". Aus Theo-
*?^e und Philosophie. Festschr. f. F. Tillmann, ed. T. Steinbüchel 0.
' Müncker (Düsseldorf: Patmos Verlag. 1950). — M. Engelbert, „Zum
begriff der theologischen Unklarheit im Humanismus", Festgabe Joseph
Lo»2. Hrsg. von E. Iserloh und P.Manns. Baden - Baden 11958].
~, Chr. Dolfcn, Die Stellung de« Erasmus von Rotterdam zur
plastischen Methode (Thcol. Diss. Münster, 1936). - H. Schlingen-
^cPcn. „Erasmus als Exeget. Auf Grund seiner Schriften zu Matthäus",
I s- f- Kirch.pcsch. 48 (1929). — E. V. Teile, Erasme de Rotterdam et
.e ScPtiemc Sacrement (Genf, 1954). — A. Hyma, „Erasmus and the
""onient of Matrimony", Arch. f. Rcforrnationsgesch. 48 (1957). -
Krodcl, Die Abcndmahlsleh re des Erasmus von Rotterdam und 6einc
Dcl,l|ng am Anfang des Abcndmahlsstreitcs der Reformatoren (Theol.

'^Erlangen, 1955; Masch, sehr.),
r ) Ein erster Versuch findet sich in: A.Auer, Die vollkommene
dcommiskeit des Christen nach dem Enchiridion militis Christian!
s Erasmus von Rotterdam (Düsseldorf: Patmos Verlag, 1954).
> Cf. Anm. 1.

Fragen an ein katholisches Erasmusverslandnis1

Von Gottfried G. K r o d e 1, Moorhead/Minnesota

die notwendige Ergänzung zum Erasmusbild liefern, das, nach
seiner Meinung, einseitig, nämlich vom frühen Erasmus her, gesehen
wird (S. 3, 5 f.).

In Kap. 1 zeigt Verf. die „Perspektiven des Beobachters". Die
Stellung des späten Erasmus zur Reformation war begründet durch
seine direkten und indirekten Berührungen mit der reformatorischen
Bewegung im oberdeutschen Gebiet und durch die Beziehungen, die
*r zu den oberdeutschen Reformatoren und zu Luther hatte. Die Entwicklung
der Reformation in Basel (S. 12 f., 59 f.), die Erasmus am
eigenen Leibe erleben mußte, sowie das Wirken Oecolampads, Zwing-
lis, Bucers, Luthers und ihrer Anhänger, ließen in Erasmus das ver-
nidnende Urteil heranreifen: die Reformation ist Revolution (S. 51 f.)/
Erasmus stützte sich dabei auf die Wirklichkeit der Reformation, wie
er glaubte, sie sehen zu müssen. Verf. sieht die Möglichkeit, daß sich
das erasmische Bild der Reformation und deren Realität nicht decken,
geht aber dieser Möglichkeit nicht nach; er betont jedoch, daß das
Urteil des Erasmus stark subjektiv gefärbt war. „Person]iclie, allzumenschliche
Momente spielen eine nicht zu übersehende Rolle" (S. Ii
52). Erasmus hatte aber kein Interesse am beanspruchten Wollen der
Reformatoren oder an der reformatorisdien Wahrheit selbst; sein Blick
war durchaus empirisch auf Tatsadien gerichtet und nicht auf Glaubenssätze
(S. 10, 35, 51 f., 80f., 100 f., 112 f., 118ff.); die Abendmahlsfrage
war, nach Oelrich, die große Ausnahme (S. 100, 118 ff.). Das
Werk der Reformatoren war für Erasmus in erster Linie Summe von
realen Geschehnissen und nicht Verkündigung einer Glaubensüberzcu-
gung (S. 51). Auf Grund der Ereignisse entwickelte Erasmus gewisse
Motive, die seine Kritik und die daraus gezogene prinzipielle Ablehnung
der Reformation untermauerten. Diese Motive sind in den folgenden
zwei Kapiteln dargestellt. Verf. arbeitet zwei Gruppen heraus:
eine Gruppe von Motiven, die die Reformation mehr nach ihrem
Äußeren kennzeichnet (Kap. 2. „Die Kritik an der Reformation. A. Die
Reformation als Revolution"), und eine zweite Gruppe von Motiven,
die die Reformation mehr nach ihrem Inneren kennzeichnet (Kap. 3.
„Die Kritik an der Reformation. B. Wirkungen und Resultate").
Erasmus kritisierte den radikalen reformatorischen
Änderungswillen und seine Verachtung des bestehenden
Rechtszustandes (S. 53 ff.). Daneben betonte er besonders
die Radikalisierung der Reformation, eine
Entwicklung, für die er Alt- und Neugläubige gleichermaßen verantwortlich
machte (S. 62 ff.), und verwarf den falschen Weg, den die
Reformatoren beschritten; für Erasmus stellten sie sich in Gegenatz
zu den legitimen Autoritäten und versuchten,
ihre Lehre durch Unruhen und Krieg (Bildersturm, Bauernkrieg, Zwing-