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Ausgabe:

1962 Nr. 1

Spalte:

45-51

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Paul

Titel/Untertitel:

Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze ; III 1962

Rezensent:

Sproemberg, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 1

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KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Lehmann, Paul: Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen
und Aufsätze. I (unveränderter Nachdruck von 1941):
VIII, 412 S.; II: VIII. 299 S.: III: 309 S. Stuttgart: Hiersemann
1959/60. gr. 8°. I u. II: Lw. DM 96.-; III: Lw. DM 48.-.

Die wissenschaftliche Leistung des größten Schülers Ludwig
Traubes, der 6eit fast 40 Jahren an der Universität München
wirkt, ist von der Fachwissenschaft längst anerkannt. Darüber
hinaus i6t es aber viel zu wenig bekannt, wie bedeutsame Anregungen
seine oft sehr speziellen Aufsätze für die verschiedensten
Wissenschaften und nicht zuletzt auch für die Theologie bringen.
Daher ist es 6ehr zu begrüßen, daß nunmehr eine große Anzahl
seiner Arbeiten, die schwer zugänglich waren, in Sammelbänden
neu gedruckt worden ist. Der erste Band ist ein Neudruck der
1. Auflage von 1941, die vergriffen oder vernichtet ist. Ihm ist
eine Liste der Veröffentlichungen Lehmanns von 1905—1941 beigegeben
. Im Vorwort zu Bd. II wird bemerkt, daß Aufsätze ausgewählt
wurden, die für Philologie, Geschichte und Theologie
von Interesse sind. Mit geringen Ausnahmen sind die Arbeiten
in der ursprünglichen Form ohne Nachträge abgedruckt worden.
Da aber der Verfasser eine zumindest auf deutschem Boden unerreichte
Kenntnis gerade der kirchlichen Literatur des Mittelalters
besitzt, so mag es gerechtfertigt sein, auch die älteren
Arbeiten in Kürze zu besprechen. Seinen Standpunkt hat der
Verfasser wie folgt dargelegt: „Der Erforschung des abendländischen
Mittelalters haben seit meiner Studentenzeit bis auf den
heutigen Tag meine gelehrten und lehrenden Bemühungen gedient
. Der Codex und die Bibliothek haben mich niemals nur um
ihrer selbst willen beschäftigt, sondern stets als Ausdruck, Träger
und Vermittler des geistigen Lebens der Vergangenheit.
Auch im heutigen technisierten Deutschland hat die Besinnung
auf die kulturellen Bedingungen, Leistungen und Schöpfungen
des europäischen Mittelalters ihre große Bedeutung." Daher stellt
eT an die Spitze der Aufsätze eine programmatische Arbeit „Aufgaben
und Anregungen der lateinischen Philologie des Mittelalters
". Von dieser sagt er, daß es ihr Ziel sein müsse, die
literarische Kultur des abendländischen Mittelalters zu erforschen.
Zunächst beschäftigt er sich mit der Geschichte der Schrift von
der karolingischen Minuskel bis zu der der Humanisten, bemerkt
aber dazu: „Diese Arbeiten sollen dem Eindringen in das vielgestaltige
Land des mittelalterlichen Buchwesens, der historischen
Handschriftenkunde und der Bibliotheksgeschichte dienen."

Bei der Sprachkunde bemerkt er, daß im Mittelalter das Latein
bei den verschiedenen Völkern in den verschiedenen Ländern
besondere Färbungen angenommen hat. Dabei kommt er
namentlich auf die Rolle der Angelsachsen und Iren zu sprechen.
Noch immer wird bei der Quellenanalyse nicht genügend Wert
darauf gelegt, Rückschlüse von dem lateinischen Sprachgebrauch
auf die Herkunft des Verfassers zu ziehen. Dann wird die Frage
nach der Bedeutung einzelner Länder, Völker, Personen und
Kulturzentren für die Überlieferung heidnisch-antiker und christlicher
Texte gestellt. Diese Zusammenhänge und Ausstrahlungen
haben für die Verbreitung der Kultur großen Wert gehabt, und
man wird sie auch mit den Handelswegen in Verbindung bringen
müssen. Schon die Mission war auf diese angewiesen.

In dem zweiten berühmten Aufsatz über „Mittelalter und
Küchenlatein" findet sich eine grundsätzliche Auseinandersetzung
über Begriff und Namen des Mittelalters. Schon 1928 hatte der
Verfasser sich gegen die alte Auffassung gewandt, daß der Begriff
des Mittelalters auf den Hallenser Professor Cellerarius, f 1707,
zurückgeht. Vielmehr taucht die Dreiteilung der Geschichte und
der Begriff „medium aevum" bereits im 14. Jahrhundert auf und
hat auch dort schon eine lange Vorgeschichte. Dabei bringt der
Verfasser wesentliche Ergänzungen zu dem berühmten Aufsatz
des niederländischen Historikers Huizinga, der 1921 erschienen
ist1. Im übrigen ist die Dreiteilung alt, sie begegnet schon im
AdleTgesicht des 4. apokryphen Esra-Buches. Die Theologen des
Mittelalters sprechen vom Zeitalter des Vaters und des Sohnes

*) Een schakel in de ontwikkeling van den term middeleeuwen?:
Mededeelingen der Koninkl. Akademie van wetenschappen, afdecl.
letterkunde. deel 53, Ser. A no. 5 (Amsterdam 1921).

und des Heiligen Geistes. Jene kirchliche Richtung, die vor der
Weltkatastrophe noch eine „aetas aurea" prophezeite, wie das
z. B. bei Joachim von Fiore der Fall war, ist in diesem mittleren
Zeitalter herausgearbeitet worden2. Diese Probleme der Periodi-
sierung sind auch heute von großem Belang und sind bekanntlich
viel diskutiert worden.

Dann beschäftigt er 6ich mit der Geschichte de6 Ausdrucke«
„Küchenlatein", wobei er sich dagegen wehrt, das Mittellatein
so abschätzig zu behandeln. Noch stärker kommt dies im nächsten
Aufsatz „Vom Leben des Lateinischen im Mittelalter" zum Ausdruck
, in dem er die große sprachliche Leistung de6 Mittellateins
würdigt. Das Lateinische, so sagt er, hat im Mittelalter nur in
den Sphären höherer Bildung existiert, wobei man vielleicht
mehr betonen müßte, daß bis in das 13. und 14. Jahrhundert ein
absolutes Bildungsmonopol der Kirche bestand, das eben auf
dem Gebrauch des Lateinischen als einer den Laien und den
breiten Massen unverständlichen Sprache beruhte.

Besonders betont er die Bedeutung des Lateinischen am
Hofe Karls des Großen, ein Thema, das er auch in den weiteren
Aufsätzen von verschiedenen Seiten behandelt hat. Die Ausdehnung
des fränkischen Reichs hat die Anwendung des Lateinischen
gleichsam als Reichssprache begünstigt. Die Umwandlung
zum Imperium ist auch auf literarischem Gebiet wirksam geworden
. Man könnte vielleicht die schöpferische Leistung des
Mittellateins noch mehr betonen. Der Verfasser hat die Scholastik
mit ihren neuen Begriffsdefinitionen herausgestellt. In der
Tat ist hier durch die neuen Definitionen auf dem Gebiet der
Philosophie und Theologie das Lateinische ein Instrument gewesen
, das einen weitreichenden Einfluß geübt hat und sich als
sehr lebenskräftig gezeigt hat. Das gilt auch für das Recht und
die Verfassung. Dabei handelt es sich nicht nur um Anwendung
römischer Rechtsgrundsätze und dialektischer Methoden, sondern
um den Einbau neuer Rechtsbegriffe wie etwa „beneficium"
oder „communitas" und anderereits „feudum" und „treuga",
um nur einige Beispiele anzuführen. Das Mittellatein gehört in
die Reihe der Lebenden, weil es fähig war, der internationalen
Verständigung zu dienen, noch mehr aber den gegen die Antike
völlig veränderten Verhältnissen des Mittelalters weitgehend
und lange entsprechende Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen.

Der folgende Artikel über „Literaturgeschichte im Mittelalter
" beginnt mit der Erklärung, daß eine Literaturgeschichte in
moderner Form, die also die einzelnen Erscheinungen nach ihrem
Ideengehalt und ihrer Kunstform würdigt, das Mittelalter nicht
gekannt hat. Bestimmt ist diese Gattung der mittelalterlichen
Literatur durch das Werk des Hieronymus „De viris illustribus".
Schon dieses enthält nur kurze, zeitlich geordnete biographischbibliographische
Artikel. Der Verfasser verfolgt auf Grund seiner
außerordentlichen Spezialkenntnisse alle Arbeiten in dieser Richtung
biß zum Ausgang des Mittelalters. Die Anregung, ein corpus
der mittelalterlichen Literaturgeschichte zu schaffen, die er 1912
äußerte, ist sehr dankenswert, denn dadurch würde in der Tat
eine wichtige Vorarbeit für die mittelalterliche Bildungsgeschichte
geleistet werden. In der „Einteilung und Datierung nach Jahrhunderten
" wird wiederum die Periodisierung des Mittelalters
angeschnitten. Dabei ergibt 6ich, daß die Antike eine feste Rechnung
nach Jahrhunderten nicht gekannt hat. Auch im Mittelalter
ist der Begriff „saeculum" nicht als chronologischer Fachausdrude
nachzuweisen. Auch hier spielt der kirchliche Brauch, und zwar
das „Anno 6anto", das die Kurie seit 1300 einführte, eine große
Rolle. Die Einteilung des Geschichtsstoffs nach Jahrhunderten ist
zuerst bei den „Magdeburger Centuriatoren" im 16. Jahrhundert
nachzuweisen und ist dann epochemachend geworden.

Eine Betrachtung über „Mittelalterliche Beinamen und Ehrentitel
" geht wieder von Karl d. Gr. aus, wobei er römisch-byzantinisches
Vorbild annimmt. Hauptsächlich aber beschäftigt er sich
mit den Ehrentiteln mittelalterlicher Kirchenlehrer, die in Listen
der „Doktoren" zusammengefaßt wurden, von denen er aus
Handschriften des 15. Jahrhunderts eine neue Liste veröffent-

J) Vgl. P. E. H ü b i n g e r, Spätantike und frühes Mittelalter.
Ein Problem historischer Periodenbildung, Darmstadt 19 59, mit reicher
Literatur. Neuerdings hat B. Töpfer, Die Entwicklung diiliastischer
Zukunftserwartungen im Hochmittelalter, eine Habilitationsschrift vorgelegt
.