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1962 Nr. 9

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 9

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sent, daß es offenbar nicht möglich war, die Äußerungen aus
der Kampfzeit zahlreicher zu Worte kommen zu lassen. Manches
wäre m. E. doch verwendbar gewesen, auch wenn es allzu
sehr die Züge des Moments trägt. Namentlich jüngere Leser
hätten darin etwas von dem Heulen des Sturmwindes einer Zeit
vernommen, deren sich die Kirche heute nicht zu schämen
braucht. Außerdem wären manche Entwickhingszüge erkennbarer
geworden. Aber auch in der vorliegenden Form rechtfertigt das
Buch seinen Titel. Denn der Atem des Kampfes ist doch in den
meisten der Arbeiten zu spüren, ohne daß dadurch die sorgfältige
theologische Überlegung zu kurz käme. Denn das wird
man von allen Beiträgen sagen dürfen: ihr Verfasser bewährt
sich in ihnen als ein an Schrift und Bekenntnis gebundener
Theologe, als ein Lehrer der Kirche, dem die wissenschaftliche
Arbeit kein Widerspruch zum Amt der Verkündigung bedeutet.
Davon zeugt u. a. besonders der in der Sammlung enthaltene
Vortrag aus dem Jahre 1959: Die historisch-kritische Schriftforschung
und ihre Bedeutung für die Verkündigung (S. 105
— 118). Ich nenne ihn als einzigen, weil ein wohl wünschenswertes
Eingehen auf die anderen, auch nur auf eine Auswahl,
den Raum ungebührlich überschreiten würde. Es sei zum Schluß
nur hervorgehoben, daß die pädagogisch-didaktische Fähigkeit
des Autors, theologische Einsichten und Erkenntnisse in einer
allgemeinverständlichen Sprache wiederzugeben, das Buch geeignet
macht, daß es auch nichttheologische kirchliche Mitarbeiter
mit Gewinn lesen können. Und das dürfte das Schönste
sein, was man der Festschrift eines Kirchenmannes wünschen
kann.

Berlin Karl Kupisch

Adolf, Helen: Visio Pacis. Holy City and Grail. An Attempt at an
Inner History of the Grail Legend. University Park/Pa.: The
Pennsylvania State University Press [i960]. XI, 217 S. m. Abb.,
5 Abb. a. Taf. 8°. Lw. $ 5.-.

Dieses Buch ist die Frucht jahrzehntelanger Studien. Es ist
das Werk einer deutsch-amerikanischen Gelehrten, deren philologische
, kulturhistorische und religionswissenschaftliche Forschungen
seit langer Zeit hohes Ansehen genießen. Im Gegensatz
zu vielen Büchern, die die Entstehung des Gral-Symbols aus
einem oder dem andern singulären Punkt erklären wollen, handelt
es sich hier um eine geistesgeschichtliche Zusammenschau
kühner Konzeption und weitesten Gesichtskreises. Der Gral wird
aufgezeigt als eines der großen mittelalterlichen Symbole, die
weit in die Vergangenheit zurückgehen und die für den modernen
Menschen wirklichkeitsnah und faszinierend bleiben.

Solche zeitgenössische Eindringlichkeit wäre nicht möglich,
wenn es sich bloß um keltisches Märchengut handelte, um eine
Übertragung östlichen Gedankengutes in die Lebensform einer
ritterlichen Gesellschaft oder um liturgisch unterbaute Juden-
bekehrungs-Propaganda, wie in jüngster Zeit von verschiedenen
Forschern behauptet wurde.

Helen Adolf schlägt gänzlich andere Wege ein. Sie vertritt
die Ansicht, daß das Gralsmotiv als solches Ewigkeitswert besitzt,
daß der Kreis der Gralsdichtungen im besonderen aber (von Chre-
tien's „Conte de! Graal" über Robert's „Joseph" zu Wolfram's
„Parzival") seine Wucht persönlicher Erfahrung, seiner Verankerung
in einer konkreten historischen Situation verdankt. Das
gibt ihm 6eine Wirklichkeitsnähe. Und die Ähnlichkeit jener
Situation mit unserer eigenen erklärt, warum dieses Symbol für
uns so lebendig ansprechend ist.

Chretien's Werk ist kein politischer Schlüsselroman. Aber
Viele seiner Einzelzüge müssen und können aus politischer Tagesgeschichte
jener Jahre erklärt werden, da das heilige Grab erst
bedroht war und dann verloren ging. Zum Beispiel: der kranke
König ist wahrscheinlich der leprakranke Balduin IV; das Vorbild
des zögernden Perceval ist Graf Philipp von Flandern, der
es ablehnte, in gefährlichster Stunde die Beschützung des heiligen
Grabes zu unternehmen. Zahlreiche Wendungen und Gedankengänge
sind dem apostolischen Briefe „Cor nostrum" entnommen
, den Papst Alexander III. als Aufruf zur Verteidigung des
heiligen Landes ,,An alle Fürsten" erlassen hatte. Die Fürsten
blieben taub. Nur der Dichter nahm den Ruf auf.

Aber in eigenartiger Weise. Chretien's Dichtung, zeigt Adolf,

will Kreuzzugspropaganda sein. Der Gralskelch ist für ihn ein
Symbol des heiligen Grabes — nach dem Grundsatz: Gral gleich
„Kelch"; Kelch gleich „heiliges Grab"; alle drei Formen — Verlebendigungen
der lebenspendenden Macht der Gottheit, der Anfang
der Auferstehung —, und das Grab, Jerusalem, muß um jeden
Preis gerettet werden. Aber Chretien steht im „Kräftefeld"
seiner. Zeit, das „Ereignisse wie Literatur" bestimmt. Seine Intuition
weiß, daß das bedrohte heilige Grab verloren ist. Darum
schafft er für seine „kranke Gesellschaft", die alle Stützen verlieren
muß, das unverlierbare Symbol, das aller Bedrohung entrückt
ist, weil es nicht mehr magischer Fetisch sein will.

Das ist die große „Wende", die sich in diesen Jahren vollzog
, da alle Festen wankten, da das irdische Jerusalem fiel, das
doch als „Leiter" zur himmlischen Seligkeit für das Kreuzheer
solche Wichtigkeit hatte; da das heilige Grab verloren ging und
endlich auch das heilige Kreuz. So mußte an die Stelle des
„irdischen Jerusalem" das „himmlische Jerusalem" treten, an die
Stelle politischen Besitztums die „Visio Pacis".

Als das Kreuzheer auszog, war seine Frömmigkeit auf drei
Punkten fundiert, die niemand in Frage gezogen hätte: Der
Mensch kennt Gottes Willen (Deus vult); Gott steht an der
Spitze der feudalen Pyramide, er ist der Oberste Lehnsherr, und
als solcher verlangt er vom Menschen Waffendienst, wie er als
Oberster Lehnsherr zum Schutz seiner Mannen und seiner Länder
verpflichtet ist; und zum dritten, diese Hilfe kommt dem
Menschen sichtbarlich handgreiflich in politischem und persönlichem
Erfolg, durch magische Mittel, Reliquien oder den Besitz
heiliger Stätten. Aber als die Kreuzzüge zum Abschluß gekommen
waren, war diese Frömmigkeit unmöglich geworden. Sollte der
Mensch nicht in Verzweiflung verfallen, mußte er lernen, sich in
Verinnerlichung seinem Gotte zuzuwenden. Er mußte es ertragen
lernen, daß er Gottes Willen nicht weiß, daß Erfolg nicht immer
frommes Wollen krönt, daß „Munsalvaesche", das Symbol erlösten
Lebens, in „fernem Lande" ist, „unnahbar euren Schritten
". Aber Erlösung und ewiges Leben sind nicht verloren, obgleich
die heiligen Stätten verloren sind, denn im Symbol sind
sie ewig bewahrt.

Das war die Botschaft der Dichter des Gralskreises in der
Zeit fürchterlicher Not. Aber mit dieser Wendung von dem
„Fetischhaften" zum Symbol folgen sie einer Jahrtausende alten
Tradition. Um nur einige der Punkte herauszuheben, auf die
Helen Adolf in dem zweiten Teil ihres Buches eingeht — leider
viel zu kurz —, sei daran erinnert, daß schon das Buch Hiob vielleicht
, ja, wahrscheinlich, die Reaktion auf eine politische
Niederlage ist. Die Apokalypse Johannes mag Ähnliches erstrebt
haben. Augustins „De Civitate Dei" entstand unter dem Eindruck
des Falles Roms. Und wenn die große Linie der Vergeistigung
in die Gegenwart extrapoliert wird, begegnet man den
großen Dichtern von Klopstock und Kleist bis zu Kafka und Camus
. Helen Adolf sieht in K, der so vergeblich und ungeschickt
den Zugang zum Schlosse des Grafen West-West sucht, und vor
dem die Einwohner des Schlosses solche Furcht zeigen, den Verstand
, den Landvermesser, den Vertreter des Positivismus und
mechanistischer Anschauung. In dem „Prozeß" sieht sie eine
moderne „Jedermann"-Geschichte. Rudolf Niebuhr's Auffassungsweise
gibt viel zu denken. Camus' „Die Pest" wird herangezogen
. Vor allem aber Richard Wagners Weiterführung des
Gralsgedankens. Der Gral ist ein Komplex von Symbolen. Das
erklärt seine schillernde Vielfältigkeit; das erklärt seine faszinierende
Wirkung.

Aus dieser Erneuerung der Frömmigkeit schöpfte das
Christentum der feudalen Gesellschaft die Kraft weiter zu existieren
. Nicht mehr als Lehnsherr, als der Schöpfer stand Gott
dem Menschen gegenüber. Was der Mensch ihm schuldete, nannte
Chretien „charite", Joseph „amor", Wolfram „Treue". Und
Wagner mahnte „durch Mitleid wissend". Es wäre zu wünschen,
daß Helen Adolf, die Fäden dieses Werkes aufnehmend, eine
umfassendere Darstellung der angeschnittenen Probleme folgen
ließe, als es hier möglich war.

Chicago Marianne Beth

zur Nie den, Ernst: Wirkform des Protestantismus.
Deutsches Pfarrerblatt 62, 1962 S. 169—173.