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1962 Nr. 8

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Systematische Theologie: Ethik

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 8

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sprechen zu können" (S. 14). „Die Wirklichkeit des Seins entspricht
der Wirklichkeit Gottes und dem Handeln mit seiner Schöpfung .. ."
(S. 15). „Eine Theologie der Gesellschaft hat . . . die besondere Aufgabe
, die sozialen Dämonien zu entlarven: zu zeigen, daß sie in Jesus,
dem Christus, überwunden sind, und den Weg zu weisen, wie 6ie heute
besiegt werden können" (S. 40). „Die Kirche müßte der Gesellschaft
Mut machen, daß sie Neues wagen kann, ohne der Utopie verfallen zu
brauchen, absolut gültige Formen schaffen zu können. Die Kirche kann
den Konservativismus und Revolutionarismus überwinden" (S. 51).

Wichtiger als der formale Einwand ist der erstgenannte:
L. geht das Problem der rechten Gesellschaftsordnung von der
Person — statt von der Sache — aus an (als ob allein dies ein
spezifisch theologisches Wort hierzu sein könnte). Der Mensch
darf nicht entmenscht (S. 62), nicht „entfremdet" sein (s. bes.
S. 53), er muß seine Individualität haben (S. 59 f.), und „Grundprinzip
der evangelischen Ethik" muß die „Liebe" sein (S. 12 ff.,
16, 20), freilich eine solche, die Macht nicht ausschließt (S. 19,
57, andererseits 60!) und im weitesten Sinne zu verstehen ist:

„Das Grundprinzip der Liebe ist der Schlüssel für eine bestimmte
Auffassung vom Sein, ist Antwort auf die Frage nach dem Sein, ist eine
theologische Begründung der Ontologie, auf der eine Ethik sich aufbauen
kann" (S. 13 f.), „Liebe ist Wiedervereinigung des Getrennten"
(S. 17).

Dieser Konzeption (s. bes. S. 33) steht seit Luthers sog.
Zwei-Reiche-Lehre — und heute bei Barth trotz anderen Etiketts
nicht minder — die Ansicht gegenüber: es muß echte Sachlichkeit
in den Gesellschaftsstrukturen durchgesetzt werden,
dies gewährleistet alsdann das Menschsein des Menschen. Leider
setzt sich L. mit diesem entgegengesetzten Ansatzpunkt zu einer
theologischen Gesellschaftslehre gar nicht auseinander, da er
6einen Gedankengang viel zu sehr vom Referat über Tillich bestimmt
sein läßt. Zieht er aber aus Tillich nun die Konsequenz,
dessen Korrelationsschema (Entfremdung — Heilung, 6. bes. S. 49)
auf die objektiven Strukturen der Gesellschaft zu übertragen
(nach dem Schema: Grundstrukturen der Gesellschaft — Entfremdungsstrukturen
der Gesellschaft — Die Frage nach den heilenden
Strukturen, vgl. S. 10; bzw. „Einheit — Trennung - Wiedervereinigung
", S. 25), dann kann man diesen Hegelianismus (vgl.
S. 10 u. 17) nur in der Weise durchführen, daß man — wie am
konsequentesten im Marxismus, vgl. S. 26 u. 32 — objektiv-sachliche
Kräfte, eine objektive Dynamik und Dialektik bzw. objektive
Widersprüche in den Dingen selbst aufweist, aber nicht so:
daß man die Dialektik mancher Predigten (der Verzweiflung die
Versöhnung korrespondieren zu lassen) oder den Prozeß einer
Psychotherapie ejnfach ins Große und Kollektive hinausprojiziert:
d i e Gesellschaft sei „desintegriert" und müsse geheilt werden
(S. 33 u. 37), ihre Situation sei „analog der des einzelnen Menschen
", von Gott geschaffen, entfremdet bzw. gefallen und zu
erlösen (S. 10). Entfremdungen in den Dingen selbst können nur
durch sachliche Maßnahmen, aber nicht durch „Liebe" geheilt
werden. Nur wenn die Theologie eine Möglichkeit findet, von der
Sache aus mitzureden, gibt es eine „Theologie der Gesellschaft",
aber nicht dadurch, daß man den neutestamentlichen Begriff der
Liebe zu einem Grundprinzip der Ontologie erhebt und die
Korrelation von Sünde und Erlösung (abgesehen noch von der
Fragwürdigkeit, hier überhaupt ein Korrelatverhältnis zu sehen)
zu einer Dialektik in den gesellschaftlichen Strukturen .entfremdet
'.

Berlin Hans-Georg F ri t z seh e

Bennett, John C: The Debate on the Nuclear Dilemma.

Theology Today 18, 1962 S. 412-421.
Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung.

• Kirche in der Zeit 17, 1962 S. 189—193.
Härder, Günter: Der Christ und die Obrigkeit.

Junge Kirche 23, 1962 S. 220—226.
Lee, Robert: Religion and Leisure in American Culture.

Theology Today 19, 1962 S. 39—58.
Reiss, Heinrich: Recht und Grenze der Berufung auf das an Gottes

Wort gebundene Gewissen.

Kirche in der Zeit 17, 1962 S. 186—189.
Seilers, James E.: Love, Justice, and the Non-Violent Movement.

Theology Today 18, 1962 S. 422—434.
Ziegler, Joseph Georg: Gläubige Liebe, Freiheit im Gesetz.

Theologische Revue 58, 1962 Sp. 1—8.

GEGENWAHTSPHOBLEME

j Lacroix, Jean: Wege des heutigen Atheismus. Übers, v. H. Vor-
grimler. Freiburg-Basel-Wien: Herder [i960]. 103 S 8°. Pp.
DM 7.80.

Hier wird uns in einem schmalen Bändchen eine äußerst
gedrängte und inhaltsreiche Analyse des modernen Atheismus
in Frankreich vorgelegt. Die französische Ausgabe erschien
unter dem Titel Le Sens de l'Atheisme Moderne 1958 in Paris
und enthielt dTei Essays, deren erster dem Band den Titel
gab, deren zweiter „Moral ohne Sünde" und deren dritter
! Traditionalismus und Rationalismus behandelte. Der dritte ist
j in der deutschen — hier zu besprechenden — Ausgabe fortgelassen
. Das primäre Ziel des Verfassers ist nicht Diskussion mit
: dem Atheismus, sondern der Versuch, den Atheismus zunächst
zu verstehen, wie er sich selbst versteht, — ein 6ehr nötiges
Unternehmen. Beachtenswert, daß die Schrift das Imprimatur
der röm.-kath. Behörde trägt. Die elegante Form und die geistvollen
Formulierungen bezeugen die Verwurzelung in der französischen
Tradition. Wir beschränken uns auf den Titelessay,
weil in ihm bereits der entscheidende Gedanke des Essays über
Moral ohne Sünde enthalten ist; dort wird dann nur eine genauere
Auseinandersetzung mit dem gleichnamigen Buch von
A. Hesnard (1954) über die Probleme von Schuld, Schuldbewußtsein
und Sünde im Leben des Menschen ohne Gott
geboten.

Die Beschränkung der Analysen auf Frankreich tun ihrer
allgemeinen Geltung nach Meinung des Rezensenten keinen

J Abbruch, zumal auch für Frankreich der Rückgriff auf K. Marx
nicht zu vermeiden ist. Reichlich zitierte Belege aus einer Umfrage
in Frankreich 195 5 zwingen zu einschneidenden Feststellungen
: „Gott" interessiert nicht, die Gottesidee erübrigt
sich, selbst für Christen spielt sich die Realität des Lebens nicht

I in der Kirche, sondern in der Fabrik ab, auch bei ihnen ist
echter Gottesglaube weithin ausgelöscht. Das Facit: „Der moderne
Atheismus ist nicht mehr ein Punkt, zu dem man gelangt
, sondern ein Punkt, von dem man ausgeht" (S. 15). A. ist
ein System gelebter Werte, nicht eine abstrakte Konzeption,
er hat den Weg zum Humanismus als der Übernahme der
vollen Verantwortung des Menschen für den Menschen freigelegt
.

1. Der wissenchafthehe Humanismus. Die Wissenschaft.
I einst eine Art Zugang zu Gott, jetzt selbstgenügsam und in
j 6ich bleibend, hat den „Gott der Erklärung" zerstört. „Was

immer die Naturwissenschaft findet, ist niemals das, was wir
Gott nennen werden" (23). Der Wissenschaft geht es ganz und
gar um die Welt und den Menschen, der als — vielleicht nur
methodologischer — Atheist die Verantwortung für die Welt
und den Menschen übernimmt, ohne Gottes zu bedürfen.

2. Der politische Humanismus. „Alle, die mir von Gott
reden, wollen nur an meinen Geldbeutel oder mein Leben"
hat Proudhon gesagt. Heute ist die Masse an die Produktion
hingegeben, dadurch mit der Materie verbunden und so „von

| Natur aus atheistisch" (33). Der Bruch zwischen K. Ma rx und
Hegel liegt genau an der Stelle, an der Marx in der Umformung
der Welt statt im Begreifen das Genüge des Menschen findet.
Dazu kommt, daß „Gott" den Menschen vom Menschen trennt.
Darum ist die Aufhebung der Religion die Befreiung zum
Humanismus. „Mit dem Marxismus wird der Atheist zum Menschen
dieser Erde" (43).

3. Der moralische Humanismus. Moderner A. ist Behauptung
der Freiheit und Anspruch der Verantwortlichkeit. Marxist
und Existentialist (Sartre) bejahen mit der Absage an die
Theologie die Anthropologie. Dabei werden Begriffe wie Sünde
und Schuld ausgemerzt: „Moral ohne Sünde". A. ist der Anspruch
auf Unschuld (49). „Die Hypothese ,Gott' muß eliminiert
werden, weil sie nicht eine Hilfe, sondern ein Hindernis
ist bei der Entzifferung der Bedeutung, die in den zwischenmenschlichen
Geschehnissen liegt" (53/54). In diesem Zusammenhang
meint der Verf., es gäbe auch eine atheistische Mystik,

j in der sich der Mensch durch immanentes Schöpfertum bestimmt
.