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Ausgabe:

1962 Nr. 8

Spalte:

618-619

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Maritain, Jacques

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Toleranz 1962

Rezensent:

Schott, Erdmann

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 8

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gewerbliche und modernistische Auffassung. „Eine echte Erneuerung
des Kirchenbaus", so erklärt er, „beginne ganz aus den
Menschen heraus, die wieder Gemeinde werden und aus sich
selbst eine neue, ganz in den Menschen verhaltene Bildhaftig-
keit der Urgestalten hervorbringen, in denen das Volk zu seinem
eigenen Symbol werde" (S. 77).

Die Verschiedenartigkeit der Grundrisse und Aufrisse, die Sdi.
schuf, zeigt sein ständiges Ringen um eine rechte Gestaltung. Es ist
bemerkenswert festzustellen, in welcher Weise er hierbei altchristliche
und frühmittelalterliche Raumgestaltungsprinzipien anwandte, ohne
sich dessen voll bewußt zu sein. In seinen Ausführungen über die Gestaltung
der Kirche Maria Königin in Frechen schreibt Sdi.: „Man
erinnert die Deutung, die der mittelalterliche Liturgiker Durandus
dem Kirchengebaude gab, daß es Christus am Kreuz darstelle, und
findet, daß er der Wahrheit viel näher war, als er vielleicht 6elber
wußte, denn die Gemeinden haben nicht nur die Kraft, Wir-Formen
als ihren höheren Leib hervorzubringen, sondern diese Formen gehören
auch in den Gestaltungsbercich des menschlichen Körpers"
(S. 196). Der Rezensent erlaubt sich, hierzu auf eine eigene Untersuchung
über das altchristliche und das frühmittelalterliche Kirchengebäude
hinzuweisen'. Daraus geht hervor, daß Durandus in einer
ununterbrochenen Tradition stand und sich der von Seh. charakterisierten
Sinndeutung demnach vollauf bewußt war. So schreibt der
Benediktinermönch Candidus über die Michaeliskirche zu Fulda (geweiht
822) in der Biographic ihres Erbauers, des Abtes EigiP, daß
man dieses Gebäude, „ohne den Glauben zu verletzen, als Gestalt
Christi und der Kirche bezeichnen könne" (salva fidc. Christi et Ecclc-
siae puto praesignari posse figuram). Wenn Sdi. über die Wir-Formen
der Gemeinden als ihren höheren Leib Betrachtungen anstellt, werden
wir an die vielen mittelalterlichen Zeugnisse erinnert, wonach das
Kirchengebäude die geistige Kirche, die heilige katholische Kirche,
darstelle. Aus der Zahl dieser Zeugnisse seien folgende drei ausgewählt
: Hugo von St. Victor (1097—1141) schreibt:'1 „Die Kirche,
in der das Volk zusammenkommt, um Gott zu loben, ist ein Bild
rder heiligen katholischen Kirche, die in den Himmeln aus lebendigen
Steinen erbaut wird" (Ecclesia, in quam populus convenit ad laudan-
dum Deum. significat Ecclcsiam sanetam catholicam, quae construi-
tur in coelis vivis lapidibus). Thomas von Aquino (1225—1274) erklärt
:* „Das Haus, in dem das Sakrament zelebriert wird, bildet die
Kirche ab und wird Kirche genannt" (Domus, in qua sacramentum
celebratur. ecclcsiam significat et ecclesia nominatur). lind der von
Seh. erwähnte Durandus <-f 1 3 3 3) sagt:5 „Die materielle Kirche bildet
die geistige ab" (Ecclesia autem materialis spiritualem designat). Und
wenn Sdi. (S. 322) schreibt, es scheine so. „als werde die Baukunst
ihren Weg einsam fortsetzen müssen, und als werde sie sich dabei auf
nichts verlassen dürfen als auf ihre Fähigkeit, die ganze Welt in ihrem
eigenen wortkargen Bau zu enthalten, und auf das, was ihr an
Rroßen, bedeutungstiefen, heiligen Bildern audh heute noch — oder
heute schon wieder — beratend beisteht", dann fühlen wir uns an
Aussagen in der fälschlicherweise dem Georg von Arbela zugeschriebenen
ncstorianisdien Expositio officiorum ecclesiae erinnert, in der
« bei der Beschreibung des Kirchengebäudes heißt: „Das Schiff bedeutet
die ganze Erde."8

Wir verstehen beim Lesen des von Sch. verfaßten Buches,
Was er mit dem Satze meint, „daß Baukunst bewohnbare Bilder
zu schaffen habe" (S. 252), und zugleich fordert, daß diese „Bilder
genau sein müssen. Sie müssen zutreffen wie wissenschaftliche
Begriffe" (ebda.). „Ein solches Bauwerk ist eine große theologische
Gestalt. Daß es sich um ein Kunstwerk handelt, das in
Freihe it zu schaffen ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß
diese Gestalt nach den Kriterien »richtig« und »falsch« zu beurteilen
ist.

Sch. hat dieses Buch verfaßt, damit andere aus seinen Erfahrungen
und Erkenntnissen lernen. Wir sind überzeugt, daß es

') A. Weckwerth. Das altchristliche und das frühmittelalterliche
Kirchengebäude — ein Bild des „Gottesreiches", in: Zeitschrift für
Kirchcngeschichte, Bd. 69 (1958) S. 26—78.

) Candidus von Fulda, Sancti Eigilis vita (Migne, Patrologia
Latina, Bd. 105, S. 382—402).

*) Miscell. 2,1. 4,2 seqq. — J. Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes
und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters,
Freiburg i. Br. 1902, S. 106, Anm. 1.

*) Summa theol. 3. q. 83, a 3 ad. 2.

s) Rationale divinorum officiorum, 1,1 n. 2.

") Alfons Maria Schneider, Liturgie und Kirchenbau in Syrien
(~ Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen,
phil.-hist. Klasse. Jahrg. 1949, Nr. 3), S. 52.

diesen Zweck erfüllen wird, und dürfen beglückt sein, daß der

Heimgegangene uns vor seinem Tode noch dieses Werk geschenkt
hat.

Cuxhaven Alfred W e ck w e r t h

A g n e 1 1 o, Santi Luigi: Iscrizioni cemeteriali inedite di Siracusa.

Rivista di Archeologia Cristiana XXXVI, 1960 S. 19-42.
Beyer. Oskar: Expressionismus und religiöse Bildgestalt.

Kunst und Kirche XXV, 1962 S. 20—27.
Brinktrine, Johannes: Qui Filius diceris et Pater inveniris. Eine

sabellianische Katakombeninschrift?

Theologie und Glaube 52, 1962 S. 121 — 123.
F e r r u a, Antonio: La catacomba di Paliano.

Rivista di Archeologia Cristiana XXXVI, 1960 S. 5—18.
— Giovanni Zaratino Castellini e l'epigrafia palcocristiana.

Rivista di Archeologia Cristiana XXXVI, 1960 S. 73—104.

Halaski. Karl: Was beim Bau reformierter Kirchen bedacht werden
sollte.

Kunst und Kirche XXV, 1962 S. 14—20.
Maares, Rudolf: „Kirche und abstrakte Malerei".

Kunst und Kirche XXV, 1962 S. 27—29.
Söhngen, Oskar: Von der Verantwortung der bauenden Gemeinde.

Kunst und Kirche XXV, 1962 S. 3—7.

T a v a n o, Sergio: II recinto presbiteriale nelle aule Teodoriane di
Aquileia.

Rivista di Archeologia Cristiana XXXVI, 1960 S. 105—121.
Wessel, Klaus: Frühbyzantinische Darstellung der Kreuzigung Christi.
Rivista di Archeologia Cristiana XXXVI, 1960 S. 45—71.

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Maritain, Jacques: Wahrheit und Toleranz. (Aus d. Engl, übers.).
Mit einem Nachwort über Jacques Maritain und die Politik von
P- M. Engelhardt. Heidelberg: Kerle [i960]. 69 S. 8° = Thomas im
Gespräch, 4. Kart. DM 3.80.

M. vertritt die These: Toleranz ist „Demut in Verbindung
mit Glauben an die Wahrheit" (6). Er wendet sich sowohl gegen
die „Absolutisten, die die Wahrheit gern durch Zwang aufdrängen
möchten" (13) wie gegen die „Theoretiker, die Relativismus
, Unkenntnis und Zweifel als notwendige Bedingung
gegenseitiger Toleranz hinstellen" (14). „Nur dann besteht
wirkliche und wahrhafte Toleranz, wenn ein Mensch von einer
Wahrheit oder von dem, was er dafür hält, fest und absolut
überzeugt ist und zugleich den Leugnern dieser Wahrheit das
Recht zugesteht, ihm zu widersprechen und ihre eigene Meinung
zu sagen" (15).

In der Philosophie gibt es zwar keine Toleranz zwischen
den Systemen, wohl aber zwischen den Philosophen. Zwischen
philosophischen Systemen kann intellektuelle Gerechtigkeit bestehen
, aber zwischen den Philosophen ist darüber hinaus
• ■eine Art von Zusammenarbeit und Gefährtenschaft möglich"
(22) auf Grund intellektueller Nächstenliebe, welche im andern
„den Gedanken und den Intellekt als solchen" liebt, um
„herauszufinden, welche Wahrheiten durch diesen Intellekt mitgeteilt
werden . . . und diese Wahrheiten gleichzeitig von den
Irrtümern zu befreien .. . und . .. wieder in eine vollkommene
Systematisierung einzufügen" (23). Daß M. um das Problematische
dieser Art von Zusammenarbeit weiß, deutet er an, indem
er fortfährt: „Wir lieben auf diese Weise die Wahrheit
mehr als wir unsere Gefährten in der Philosophie lieben".
Religiöse Toleranz möchte M. als „Gefährtenschaft der Glaubenden
" verwirklicht sehen (27). Die Kirche hat das Recht,
„Irrtümer zu verurteilen, die dem ihr anvertrauten göttlichen
Offenbarungsgut entgegenstehen" (30). Aber wir haben nicht
das Recht, den Irrenden zu verurteilen. „Was jeder einzelne vor
Gott ist, weiß weder der eine noch der andere" (34). Ob auch
die Kirche nicht, wird von M. nicht gefragt, bleibt bei ihm mithin
offen. Aber im Blick auf die Seligsprechungsprozessc scheint
die Kirche mindestens nach der positiven Seite hin zu wissen,
was der einzelne vor Gott ist?! Jedenfalls ist echte religiöse
Toleranz „nicht .über-dogmatisch', sondern .übersubjektiv' "
(42).

Im Nachwort gibt Paulus M. Engelhardt OP eine gute und
aufschlußreiche Würdigung J. M.s. Im Ganzen ein wertvoller