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Ausgabe:

1962 Nr. 8

Spalte:

613-615

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Gerhard

Titel/Untertitel:

Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland 1962

Rezensent:

Beyreuther, Erich

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 8

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aus dem Staatsdienst ausscheiden mußte (1834), widmete sich
schließlich ganz der Theologie.

Die Briefe geben einen Einblick in das private Leben der
beiden Männer und in ihren Freundeskreis, zu dem u. a.
Tholuck, Stahl, Hengstenberg, Kliefoth, Petri, G. Fr. A. Strauß
gehörten. Diese Namen zeigen, daß das konfessionelle Interesse
beider weit über die Hannoversche Landeskirche hinausging.
Beide haben sich auch literarisch betätigt, wobei die schriftstellerische
Tätigkeit des Strauß umfangreicher und vielseitiger
gewesen ist. Der Briefwechsel macht das gegenseitige freundschaftliche
Interesse an ihren literarischen Arbeiten deutlich.
Er zeigt aber vor allem die lebhafte Anteilnahme an den kirchlichen
Ereignissen dieser Jahre (Trierer Rock, Ronge, Deutschkatholizismus
, Lichtfreunde, Krise im Gustav Adolfverein, Konflikt
Hassenpflugs mit den hessischen Ständen u. a.). Neben der
Gesangbuchfrage, die Strauß als Sammler von Gesangbüchern
besonders interessierte, 6teht an erster Stelle die Frage der
Union im Lichte des lutherischen Konfessionalismus. Beide
stehen der Union, den in der Loccumer Denkschrift und den
anschließenden Verhandlungen in Berlin gemachten Vorschlägen
in dieser Frage ablehnend gegenüber. Für Strauß ist eine Union
zwischen Luthertum und Calvinismus nicht denkbar, weil
,,wahre Position" nur auf der lutherischen Seite, auf reformierter
nur (wenn auch bedingte) Negation z. B. in der Abendmahlsfrage
sei. Verhandlungen scheinen ihm nur von einer schriftgemäßen
Christologie und Soteriologie aus möglich.

Die Briefe haben ihre Bedeutung für das Luthertum Hannovers
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die gute Kommentierung
, die Literaturangaben und das Register erhöhen den
wissenschaftlichen Gebrauch der Ausgabe.

Berlin Walter Delius

Kaiser, Gerhard: Pietismus und Patriotismus im literarischen
Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. Wiesbaden
: Steiner 196). VIII, 302 S. gr. 8° = Veröffentlichungen d. Instituts
f. europäische Geschichte Mainz, Abt. f. abendländ. Religionsgeschichte
, hrsg. v. J. Lortz, Bd. 24. Lw. DM 32.—.

Aus einer Dissertation über „Pietismus und patriotische
Erweckung, Studien vornehmlich zu Friedrich Carl von Mo6er,
Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Kaspar Lavater und Johann
Gottfried Herder" (München 1956) erwachsen, bietet diese durch
Heranziehung eines erweiterten Quellenmaterials umfassendere
Darstellung zu diesem Thema eine ganz wesentliche
Erweiterung unserer bisherigen Kenntnisse über die Kulturbedeutung
des' Pietismus im Hinblick auf die Entstehung der
säkularen Welt. Diese Arbeit ist deshalb so aufschlußreich, weil
sie sich auf die Entstehung und Ausprägung eines spezifisch
deutschen Nationalismus und Patriotismus an der Epochengrenze
, im Stadium der Frühromantik, konzentriert und hier
die Ausstrahlungen eines säkularisierten Pietismus, wie er sich
nach Verblassen der eigentlichen religiösen Substanz herausbildete
, überraschend scharf herauszuarbeiten vermag.

Schlüsselfiguren bilden in diesem Zeitraum zwischen dem
Ermatten des „strengen" Pietismus und der Romantik Schleiermachers
Persönlichkeiten wie Friedrich Carl von Moser, Lavater
, KIop6tock, Herder, Novalis, die sämtlich unter der Nachwirkung
des Pietismus gestanden haben. Der amerikanische
Historiker K. S. Pinson, der vor allem die Rolle des Pietismus
bei der Entfaltung des Irrationalismus, der Toleranzidee, im
deutschen Erziehungswesen, in der Literatur, bei der Emanzipation
der unteren sozialen Schichten U6w. in seiner Monographie:
Pietism as a Factor in the Risc of German Nationalism
(New York 1934) aufgezeigt und die Bedeutung desselben für
die Entfaltung des Nationalismus mehr gestreift hat, hat hier
den sorgfältigen Nachfolger gefunden. Man wird dem Verfasser
zustimmen, daß der europäische Nationalismus in seiner vollen
Ausbildung nicht ohne die religiösen Vorstellungen, wie sie für
Deutschland in den damals lebendigsten Frömmigkeitsformen
des Pietismus vorhanden waren und nun in den entstehenden
Patriotismus einströmten, verständlich ist.

Um die Mitte und zum Ende des 18. Jahrhunderts zu
fangen pictistisch gestimmte Patrioten an, den Staat im Lichte
ihres inneren religiösen Ideals zu sehen, ihn damit umzudeuten.

Aus dem konkreten Partikularstaat wird das Idealvaterland. Die
Idee einer patriotischen Erweckung entsteht, und der daraus geborene
„Nationalgeist" schafft sich eine patriotische Gemeinschaft
nach dem pietistischen Modell einer Liebes- und Glaubensgemeinschaft
. Die patriotische Liebe begründet unabhängig von
der sozialen Stellung, die der einzelne im Staatskörper einnimmt
, eine mystisdie Teilhabe an ihm. Damit tritt eine Aufwertung
der unteren sozialen Schichten ein. Die Herrscher erscheinen
als „Fürsten des Herzens" in fast überirdischem Glanz.
Die höchste Erfüllung aber findet der patriotische Dienst im
Krieg. Aus dem zinzendorfischen Blut- und Wundenkult wird
ein patriotischer, und der sterbende Patriot erlöst sein Vaterland
. So leisten der Pietismus, man wird wohl richtiger sagen:
pietistische Denk- und Erlebnisformen im Nachhall pietistischer
Nachfahren, einen entscheidenden Beitrag bei der allgemeinen
Durchsetzung der ganzen Kultur mit diesem mystisch-enthusiastischen
und gefühligen Patriotismus. Der entstehende Patriotisr
mus, der nicht aus dem Pietismus ableitbar ist, reichert sich
säkularisierte Motive des Pietismus an und formt in einer
pseudopietistischen Begriffssprache die Vorstellungswelt der bisherigen
politischen Diktion um.

Vielleicht hätte bei der Darstellung stärker, als es geschehen
ist, die ganze Komplexheit dieses Vorganges betont werden
können. Es ist nicht zu verkennen, daß der Verfasser sehr umr
sichtig vorgeht. Er stellt z. B. bei Lavater auch die dieser allgemeinen
Entwicklung konträreren Punkte heraus. Lavater vermag
, diesen Abstand besitzt er doch, bei aller tiefen und ungemein
aktivistischen Verflechtung mit dem schweizerischen
Patriotismus durch seine eigenen, im Volk weit verbreiteten
Schweizerlieder diese als eine „seiner unwürdige Art" zu widerrufen
. Wie Zinzendorf die christlichen Konfessionen, so betrachtet
auch der religiöse Patriot die Vielfalt der Völker als Offenbarung
Gottes. Er besitzt noch das feine Gefühl für eine Grenze
und protestiert gegen eine Totalisierung des Patriotismus durch
sein lebendig vorhandenes und wirksames Wissen um die durch
den Christusglauben gegebene Einheit der Völker, wie sie
Herder auf seine Weise ausgesprochen hat, daß das Christentum
diejenige Religion sei, die zugleich national und menschheitlich
lst- So hat das Erbe des Pietismus auch als kritische Funktion
gewirkt. Es werden Linien sichtbar, die nur noch ausgezogen
werden müssen. Wenn sich z. B. die Erweckungsbewegung so
schnell mit restaurativen Mächten verbindet, Thron und Altar
eine enge Verbindung eingehen, so ist das durch die vom Pietismus
überkommenen Denk- und Erlebnisformen,- die sich in
der Romantik fortsetzen, erleichtert worden. Es darf aber auch
das andere nicht verkannt werden. Wenn z. B. bei der Tausendjahrfeier
des Deutschen Reiches im Jahre 1843 eine Ineinsjchau
von Evangelium und Deutschtum, von Gott und Reich Gottes
wirkliche Orgien feierte, worauf Kurt Dietrich Schmidt ausdrücklich
hingewiesen hat, so hat das Wächteramt gegen diese
vermessene Verschmelzung von Nation und Reich Gottes eigentlich
nur- die Erweckungsbewegung ausgeübt. Gewiß hat der
Pietismus in seiner abgeschwächten und religiös verdünnten
Form die Sinngebung des spezifisch deutschen Patriotismus wesentlich
bereichert und mit gefährlichen Akzenten versehen, die
sich im 19. und 20. Jahrhundert unheilschwanger weiterentwickeln
. Er hat gewiß auch dem unpolitischen Kulturpatriotismus
, der organischen Volks- und Staatsauffassung wie dem
historischen Denken bedeutende Impulse zugeleitet. Und doch
ist diese Zeichnung nur dann zutreffend, wenn man die zugleich
wirksame kritische Funktion dieses Pietismus, der später in der
komplexeren Erweckungsbewegung aufgeht, nicht zu schwach
einträgt.

Gewisse Bedenken wird man jedoch beim 1. Kapitel über
den Barockpietismus erheben. Geht es wirklich an, das soziale
Wirken August Hermann Franckes religionspsychologisch in der
Form auszudeuten, daß es entstanden sei aus dem neuen innerlich
noch unsicheren Ich-Erlebnis, das zur Selbstvergewisserung
auf Resonanz in einem intensiven Gemeinschaftsleben angewiesen
sei oder mit den Worten des Verfassers zu sprechen, daß
aus dem extremen Subjektivismus jener „heftige soziale Trieb"
bei dem Hallenser hervorging? Wenn der Verfasser bei Lavater
davon spricht, daß er sich durch die Bibel immer wieder aus dem