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Ausgabe:

1962 Nr. 8

Spalte:

596-599

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schoeps, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Israel und Christenheit 1962

Rezensent:

Thieme, Karl

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 8

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doch in den Quellen bezeugt (78 f.). Katz stellt aber ausdrücklich
fest: ,,We have no account of the mental process by which
any proselyte arrived at his decision" (79). — Cap. VII (82—92)
behandelt dann das zahlreich vorkommende Phänomen des Martyriums
als ultima ratio im Falle direkt oder indirekt von der
Kirche erzwungener Apostasie. — Cap. VIII (93—105) beschreibt
die Figur des dem Märtyrer nahekommenden Hasid (des exemplarisch
Frommen) nach dem Sefer Hasidim (um 1210) und dem
Sefer Miswoth Gadol (nach 1240) des R. Moses von Coucy,
dessen Moralforderungen aber eher an eine geistige Elite als an
die Masse der Juden gerichtet waren (98). „The Hasid is, perhaps,
best characterised by this combination of spirituality and reli-
gious and ethical spontaneity" (94). — Cap. IX (106—113) behandelt
an Hand des durch einen Apostaten erzwungenen Pariser
Religionsgesprächs von 1240—42 den Typ des Disputanten,
dem vergeblich an Duldung durch den mächtigen kirchlichen
Widersacher gelegen war. Hier kommen dann die sieben noa-
chidischen Gebote als Gesprächsbasis jüdischerseits ins Spiel.
Hierzu vgl. mein „Jüdisch-Christliches Religionsgespräch in
19 Jahrhunderten", cap. 4, jetzt in 3. Aufl. unter dem Titel
„Israel und Christenheit", Frankfurt 1961, 72 ff.

Hochinteressant ist das cap. X (114—128), das den Sonderfall
des provencalischen Talmudkommentators R. Menachem Ha-
Me'iri (gest. 1315) behandelt, der zur rationalistischen Schule
der nachmaimonideischen Epoche gehört. In seinem aus Gesprächen
mit einem christlichen Gelehrten herausgewachsenen Buch
Hibbur ha-Teschuwah (ed. A.Schreiber, New York 1950) hat er
den Terminus 'ummoth ha-geduroth be-darekhej ha-dathath
(Völker, die nicht von den Wegen der Religion abgewichen
sind) geprägt. Bekanntlich hatte ja schon Maimonides (Moreh
nebukhim III, 54 u.ö.) Christentum und Islam als Derivatformen
des Judentums angesehen, die trotz ihrer Amalgamierungen mit
paganen Elementen die messianische Zeit vorbereiten sollen.
Diese Position wird nun von Ha-Me'iri ausgebaut, der die Existenz
von Rechtsinstitutionen bei den christlichen Völkern als
positiven Beweis für einen gemeinsamen Glaubensgrund ansieht
(121). Infolgedessen wird ihm der ganze Komplex der — Offenbarung
und Prophetie vorausliegenden — Theologia naturalis
aktuell resp. jüdisch ausgedrückt des „Noachidismus". Ha-
Me'iris Schriften waren freilidi wenig verbreitet und von geringem
Einfluß, dennoch ist er — übrigens war er Augenzeuge
des französischen Pogroms von 1 306 — als ein früher Vorläufer
der Aufklärung anzusehen.

Der dritte Teil des inhaltsreichen Buches (From Exclusiveness
to Tolerance) beginnt mit zwei Abschnitten, die die Verhärtung
der Positionen im jüdischen Spätmittelalter (16. —18. Jahrhundert
) als der Zeit der eigentlichen Ghettoisierung beschreiben
(131—155). Hinsichtlich der jüdisch-christlichen Beziehungen
läuft alles in traditionellen Bahnen, nur daß der Gesichtspunkt
der klugen Anpassung an die politischen Machtverhältnisse die
früher lebhafteren Umweltinteressen dominiert. Für Apostasie
zum Christentum kommen nach Meinung der führenden Rabbi-
nen nur materielle Interessen in Betracht (143—146); „in our
period Christianity had never presented a temptation" (155).
Andererseits wird aber auch die theoretische Einstellung zu
christlichem Proselytismus immer unfreundlicher (148 ff.). Singulare
Theorien Jehuda ha-Levis über die bis ins Biologische reichende
Exklusivität des erwählten Volkes (vgl. mein Buch „Aus
frühchristlicher Zeit", Tübingen 1950, 201 ff.) kehren etwa bei
Maharal (dem Prager „Hohen Rabbi Low") u. a. wieder.

Im 18. Jahrhundert setzt sich dann aber doch etwa bei
Rabbi Jakob Emden (1697—1776) eine sehr viel versöhnlichere
Haltung durch, ohne aber daß die Betonung einer gemeinsamen
geistigen Erbschaft von Judentum und Christentum schon zu
lebensmäßigen Konsequenzen geführt hätte (168). Hier lagen
die Grenzen der jüdischen Orthodoxie! Wohl aber ging auf
dieser Linie dann die Haskalah, die jüdische Aufklärung weiter.
Insbesondere von Moses Mendelssohn wurde „der Mensch" und
damit „the common humanity of Jew and Christian" (170) entdeckt
. „Moses der Mensch schreibt an Herder den Menschen,
nicht der Jude an den Superintendenten", konnte es bezeichnenderweise
in einem Brief Mendelssohns an Herder heißen. Moses
Mendelssohn war ein ganz neuer Typus Jude; er hat bekanntlich
von Aufklärungspositionen her die jüdischen Offenbarungswahrheiten
zu rationalisieren unternommen und hat es dann
leichter gehabt, „Exclusiveness and Tolerance" zu verbinden.
Entscheidend für die neue Bewertung des Christentums sind für
Mendelssohn letztlich aber die persönlichen Begegnungen
(Bonnet, Lavater, Lessing usw.) gewesen.

Die neue Ära in den beiderseitigen Beziehungen ist dann,
wie das'Schlußkapitel „The Political Application of Tolerance"
feststellt, durch die französische Revolution eingeleitet worden
(182). Das von Napoleon einberufene Sanhedrin von 1807 in
Paris hat in weiten Kreisen die positive Einstellung zu den
Christen durchgesetzt, ohne die eine staatsbürgerliche Emanzipation
nicht möglich gewesen wäre. Das Aufklärungszeitalter
und die Ideen von 1789 waren zu alldem die Voraussetzung.
Die theologische Durchklärung der Grundantinomie ist freilich
jüdischerseits trotz gewisser Ansätze bei L. Baeck und zumal
F. Rosenzweig bis heute nicht befriedigend erfolgt.

Es wäre wohl zu wünschen, daß sich bald ein deutscher
Verlag fände, der dieses wichtige Buch und ein zweites des
gleichen Verfassers, das inzwischen auf Englisch erschienen ist:
„Tradition and Crisis: Jewish Society at the End of the Middle
Age" der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich machte.

Erlangen Hans-Joachim Schoeps

Schoeps, Hans Joadiim: Israel und Christenheit. Jüdisch-diristli-
dies Religionsgesprädi in neunzehn Jahrhunderten. München und
Frankfurt/M.: Ner-Tamid-Verlag 1961. 230 S. 8°. DM 9.80; Lw.
DM 11.80.

Wer diesem fesselnd geschriebenen Werke gerecht werden
will und daraus lernen will, was daraus wirklich zu lernen ist,
der muß sich ständig vor Augen halten, daß hier als ,Die Geschichte
einer theologischen Auseinandersetzung' — so lautete
der Untertitel in den ersten beiden Auflagen von 1937 und
1949 — das Bekenntnisbuch eines Siebenundzwanzigjährigen ein
Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung (1936/1961) im unveränderten
(nur minimal durch sporadische Titelangaben ergänzten
) Nachdruck vorgelegt wird; weder fremde zwischenzeitliche
Forschungsergebnisse sind eingearbeitet, noch auch nur die eigenen
, geschweige denn, daß die seitherige sprunghafte Weiterentwicklung
des Gespräches nachgetragen wäre. Wir haben vielmehr
einen jener heute mit Recht beliebten Neudrucke dokumentarisch
bedeutsam gebliebener Studien vor uns, wie sie etwa
die Theologische Bücherei' des Kaiser-Verlags von Werken
M. Kählers, D. Bonhoeffers und anderer bietet. Daher scheint
uns deutlich zwischen der historiographischen Leistung des Verfassers
und dessen — z.T. als solche eingekleidetem — systematischen
eignen Beitrag zur jüdischen Apologie gegen den christlichen
Anspruch unterschieden werden zu müssen, obwohl er
beides überwiegend ungeschieden zusammen vorlegt.

Dem Historiker fällt nun als erstes des Verfassers in
mehreren Varianten wiederholte, für seine Geschichtskonzeption
grundlegende These auf, daß „man in den ersten Jahrhunderten
der bürgerlichen Zeitrechnung" (!) „die werdende Kirche nicht
recht ernstgenommen" habe jüdischerseits (S. 34), „die ganzen
Ereignisse um das Jahr 30 von den frühen Tannaiten nicht sonderlich
wichtig genommen worden" seien und daher „erst am
Ende der tannaitischen Epoche, rund 200 Jahre nach der Kreuzigung
" Kritik an Jesu Gottheitsanspruch sich finde (S. 39 f.;
vgl. S. 62). Dies obwohl die nun immerhin rund einhundert
Jahre nach der Kreuzigung gefallene Äußerung R. Meirs zu
Deut. 21,23 Schoeps in Stracks von ihm erwähnter Anthologie
Jesus . . . nach den ältesten jüdischen Angaben' (Leipzig 1910,
S. 1) nicht entgangen sein kann:

„Das ist der Fall zweier Zwillingsbrüder, die einander glichen
. Der eine wurde König über die ganze Welt, und der andre
wandte sich dem Rebellentum zu. Bald wurde der festgenommen,
der sich der Rebellion zugewandt hatte, und man pfählte ihn
am Kreuzespfahl. Da sagte jeder, der vorbeiging: Scheints ward
der König gekreuzigt! — Darum: .Fluch Gottes der Gepfählte'!"
(Tos. Sanhedrin 9,7; vgl. Billerbeck I, 1013; 111,544).

Inzwischen steht als Ergebnis gründlicher Neudurchforschung
dieser Phase bei M. Simon, Verus Israel (Paris 1948, S. 234)
die Tatsache fest: „II n'est guere de generation parmi les