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Ausgabe:

1962 Nr. 8

Spalte:

585-587

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lanczkowski, Günter

Titel/Untertitel:

Altägyptischer Prophetismus 1962

Rezensent:

Brunner, Hellmut

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 8

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gebende Bedeutung bei; hier ist ihm H. Frisks fachkundiger Rat
zuteil geworden. Ganz neue Abschnitte gelten den Musen, die
er von den Nymphen distanziert (S. 253 ff.), und den abstrakten
Gottheiten im Anschluß an eine Skizze der Religiosität des
4. Jahrhunderts (S. 811 ff.). Eine geschickte Umgruppierung mit
Einschüben ist dem Teil III der Einleitung zugute gekommen
(S. 36 ff.), und unter dem Eindruck von W. Jaegers Theologie
der frühgriechischen Philosophen ist der Abschnitt über Empe-
dokles zu einem solchen über die Vorsokratiker insgesamt geworden
(S. 741 ff.). Meilichios erhält eine dichtere Behandlung,
die in die Vermutung ausläuft, daß ein individueller und dann
genereller Totengeist Meilichios im Zeus Meilichios aufgegangen
sei (S. 411 ff.; vgl. 192. 416 f.), und auch über den athenischen
Bendiskult und seine Hintergründe verlautet jetzt mehr
(S. 833f.). Apollon. der Kleinasiate (S. 559 ff.), und besonders
das delphische Orakel haben in der letzten Zeit viel tätiges
Interesse erregt: über die Natur der Mania der Pythia äußert
sich Nilsson vorsichtig (S. 172 f.)i der vielberufene Omphalos
ist dank Bousquets überraschender Beobachtung (S. 204, 8) verschwunden
, ein Erdspalt mit einem Luftzug hat sich aber nach
Marinatos' Entdeckung, wenn auch an entfernterem Orte, wieder
aufgetan {'Enlm. 'EnEirjQig Ghkott. 2%o. TJavtniox.'AQ.
1958/59, 342 ff.). An verschiedenen Stellen geht Nilsson auf
neuere Forschungsrichtungen auch prinzipiell ein, 60 auf Tiefenpsychologie
und Phänomenologie (S. 12. 39 f.), auf Dürkheims
Sozialtheorie (S. 63) und P. Philippsons romantisierend-theologi-
sierende Einstellung (S. 450, 4), auf die Hypothesen von Hochgott
und Grosser Mutter (S. 60 ff.), auf Kretschmers Protindo-
germanenthese (S. 257) und den Mediterraneismus Patronis u.a.
(S. 257. 298 f. u.s.), und auch Jeanmaires Männerbünde werden
mehrfach berührt (S. 63 f. 398, 2. 489, 2. 569, 4). Kronos hält
Nilsson noch energischer als früher für mythologisch und nicht
kultisch und distanziert ihn möglichst von dem hettitischen
Diadochiemythos (S. 510 ff.). Das Linear B wird gelegentlich
Herangezogen (S. 343, 3. 360,1. 444. 565,2), aber nicht prinzipiell
verwertet; in seinen Opuscula a. O. 489ff. hat Nilsson die
Vermutung geäußert, daß die um 1400 vertriebenen knossischen
Griechen nach Pylos gingen und 200 Jahre später sich nach
Sizilien zurückzogen, zeigt sich aber, was die Geschichte der
Götter angeht, wenig geneigt, 6ich mit Überraschungen abzufinden
. Die „Ermittlung der Tatsachen nebst ihrer Analyse" ist
das „bescheidene" Ziel des Werkes (S. 13); ich glaube, es hat
dies und weit mehr erreicht.

[Der zweite Band ist inzwischen erschienen und wird bald
besprochen werden.]

Bonn Hans Herter

Lanczkowski. Günter: Altägyptisdier Prophetismus. Wiesbaden:
Harrassowitz 1960. VII, 112 S. gr. 8° = Ägyptologisdie Abhandlungen
, hrsg. v. W. Helck u. E.Otto, 4. Kart. DM 18.—.

Der Verf. erarbeitet sich zunädist, unter Zitieren zahlreicher
Alttestamentler, aber auch unter Berücksichtigung der
Prophetischen Züge Zarathustras. einen bestimmten Begriff „des
Prophetischen": Im prophetischen Sprecher manifestiert sich
eine numinose Macht; der Mann ist entpersönlicht, er ist (für
die Zeit seiner Rede) besessen; er spricht also seine Prophezeiung
„unter einem unwiderstehlichen Zwang"; der von ihm verkündete
Wille der Gottheit ist normativ; vor allem stellt er
ethische Normen auf; die prophetische Rede setzt ein Ernstnehmen
der geschichtlichen Wirklichkeit voraus als Ausdruck
göttlichen Handelns an der Menschheit, rechnet also mit dem
linearen und irreversiblen Charakter der geschichtlichen Zeit,
die auf ein Gericht Gottes zuläuft. — Schon bei dieser Begriffs-
bildung scheinen mir die Akzente mit Rücksicht auf die später
zu beweisende These gesetzt, daß nämlich die literarische Gestalt
des Oasenbewohners in einer ägyptischen Erzählung ein
„Prophet" sei. Es treten wichtige und konstitutive Züge des
Prophetismus zurück, so vor allem die Formen des Verkehrs mit
der Gottheit (Visionen und Auditionen), ja überhaupt die
Jntensität und Exklusivität der Bindung des Propheten an Gott.
Zwar erwähnt L. diese Merkmale, doch erhalten sie nicht das
Gewicht, das ihnen zukommt. Die Mitte der prophetischen Ver-
kund.gung. daß der Mensch und die Gemeinde unmittelbar,

d. h. nicht nur durch Gesetz oder Kult oder Tradition oder auch
eine göttliche Weltordnung, vor Gott gestellt werden, diese
Mitte kommt bei der Darstellung L.s kaum zu ihrem vollen Recht.

Das Ziel der Arbeit ist es, den Prophetismus auch für das
alte Ägypten, jedenfalls für eine bestimmte Epoche der langen
Geistes- und Religionsgeschichte des Pharaonenreiches zu erweisen
. Als Hauptzeugen führt L. die „Klagen des Oasenbewohners
" (weithin unter dem nicht ganz treffenden Titel „Klagen
des Bauern" bekannt) vor. Dieses Werk entstand nach dem
Zusammenbruch des Alten Reiches, als alle überkommenen
Werte angezweifelt, neu durchdacht und, soweit übernommen,
tiefer angelegt wurden, der Zeit um 2200 v. Chr. Züge des Prophetismus
, die der Verf. in diesem Werk bei allerschärfster
Interpretation nicht finden kann, wie etwa die Eschatologie,
werden aus zeitgenössischen Texten ergänzt.

Die „Klagen" haben sehr verschiedene Deutungen gefunden
, über die L. genau berichtet. Die hier vorgetragene als
Zeugnis einer prophetischen Bewegung ist neu. Wir haben uns
zu fragen, ob sie gelungen ist.

Mit zahlreichen Belegen arbeitet L. heraus, daß der Begriff
der Maat, d. i. der rechten, von Gott bei der Schöpfung gewollten
Ordnung allen Leben6, beim „Bauern" eine Umwertung insofern
erfahren hat, als aus einem numinosen Ordnungsbegriff
eine sittliche Norm wird. Freilich weist 6chon die Lehre des
Ptahhotep aus dem Alten Reich eine soziale Ethik auf, wie es
überhaupt auch bereits vor dem Zusammenbruch zu den sittlichen
Pflichten des Ägypters gehört, „den Schwachen vor dem
Arm dessen zu retten, der stärker ist als er" u. ä. Dennoch kennen
wir aus der älteren Zeit tatsächlich nichts, was mit einer
solchen Kraft in hominem gesprochen wäre wie die Reden des
Oasenbewohners. Auch das Unerwartete, daß diese Warnung aus
dem Munde eines solch einfachen Mannes kommt, den weder
Bildung noch Beruf zu einem Mahner machen, sondern das
Persönlich erlittene Unrecht, erinnert an Prophetengestalten.
(Weniger möchte ich in seiner Herkunft aus den „Grenzgebieten
des Kulturl andes" eine Parallele zum Wüstenaufenthalt der
at.lichen Propheten sehen, da der ägyptische Rufer nicht zu
Sammlung oder Gottesnähe dorthin geht, sondern einfach dorther
stammt. Diese Herkunft wird weder mit einem Gotteserlebnis
in Verbindung gebracht noch spielt sie irgendeine Rolle in
der Geschichte — außer eben dem Überraschenden, daß ein solch
ungepflegter Mann primitiven Lebens so „schön" reden kann.)
Auch daß er für seine Reden gestraft wird und das Leiden
stumm auf sich nimmt, hat seine Parallele bei Propheten.

Dann aber tun sich doch große Bedenken auf. Manche
Parallelisierungen machen einen etwas gewaltsamen Eindruck; so
etwa die „Predigt am Tempel", die doch höchstens für die
vierte Klage zutrifft, aber auch da nicht wesentlich zu sein
scheint, da der „Bauer" diesen Ort nicht etwa aufsucht, um zum
Kult kritisch Stellung zu nehmen oder einen großen Hörerkreis
zu erreichen, sondern weil er seinen Gegner, den allein er
ja „anpredigt", eben stellt, wie er den Tempel verläßt. Aber
andere Einwände gegen L.s These gehen auch an die Substanz.

1) Beim „Bauern" fehlt jeder Hinweis auf eine Besessen-
heit, auf den göttlichen Zwang zum Reden, ja, es ist nirgends
auch nur eine Andeutung zu finden, daß Gott der Urheber der
Rede sei: in keinem Fall beruft sich der Sprecher auf die göttliche
Autorität, die hinter ihm stehe.

2) Der Inhalt seiner Worte ist ein immer wiederholter
Hinweis auf die Maat, die zwar, wie L. richtig gesehen hat,
unter Betonung der Ethik stärker als früher auf den Einzelmenschen
bezogen wird, aber eben doch eine allgemeine Aussage
über Gottes Ordnung ist, nicht ein in eine geschichtliche
Gegenwart gesprochenes Wort. Freilich gilt dasselbe äuch von
der Prophetie Zarathustras und Mohammeds, so daß man diese
Konkretisierung nicht als unbedingtes Merkmal prophetischer
Verkündigung auffassen muß.

3) Eng hiermit zusammen hängt die Frage der Geschichtsauffassung
. Wie L. selbst richtig betont, ist eine Prophetie nur
im Zusammenhang mit einer linearen Geschichtsauffassung möglich
. Nun mag es zwar gelegentlich in zeitgenössischen ägyptischen
Schriften aufklingen, daß die Welt einem Ende ent-