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Ausgabe:

1962 Nr. 8

Spalte:

579-584

Autor/Hrsg.:

Pollet, Jacques V.

Titel/Untertitel:

Die neue Bucer-Ausgabe 1962

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 8

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existentielle Begegnung mit der Geschichte. Natürlich liegt insofern
Ergänzung oder Weiterfuhrung vor, als diese Geschichtsbetrachtung
erst nach der anderen geübt wurde. Zu fragen ist
aber, ob (angesichts des kerygmatischen Charakters unserer
Texte) die existentielle Begegnung mit der Jesus-Tradition nicht
gerade die angemessene Geschichtsbetrachtung ist, eine objektivierende
Betrachtung sich aber als Versuch einer Abstraktion |
herausstellt. Denn auch da, wo es gelingt, hinter die frühe nachösterliche
Jesustradition zurückzugelangen, stößt man doch zuerst
immer auf Aussagen von ,,Betroffenen" (und d. h. von
Glaubenden). Es handelt sich dort um Aussagen, die mindestens
kerygmatische Struktur haben, — wenn sie auch noch nicht '
Kerygma im eigentlichen Sinne sind, weil die Verkündbarkeit
dieser Aussagen (das Einmal wird zum Ein-für-allemal) erst
durch Ostern erfahren worden ist.

Die Frage, ob solche Betrachtung, die auf existentielle
Begegnung mit der Geschichte aus ist, das Kerygma überflüssig
mache, kann also höchstens im Blick auf das Christuskerygma
gestellt werden. Tatsächlich begegnet der so Fragende gerade
dem Jesuskerygma, das diese Geschichte bereits als verkündbar
und zu verkündigende aussagt. — In einer gewissen Umkehrung
des B.schen Daß (das ja wesentlich für das Christuskerygma Bedeutung
hat) kann man nun sagen, daß Ostern im Jesuskerygma
als das Daß der Verkündbarkeit der Jesus-Tradition erscheint.

Dann erhebt sich allerdings die weitere Frage B.s „Warum
kann sich die apostolische Predigt nicht darauf beschränken, die
Verkündigung Jesu einfach zu wiederholen, wie andere Schüler
die Lehre ihres Meisters wiederholen? Warum mußte sie dazu
noch, oder vielmehr in erster Linie, den Glauben an ihn als den
kommenden Menschensohn fordern, den der historische Jesus
nie verlangt hat? Ja, warum konnte die Christusbotschaft sogar
ganz absehen von der „Wiederholung", wie Paulus und Johannes
zeigen?" (S. 23).

Nun, den Glauben an 6ich (ob als kommenden Menschensohn
oder wie auch immer) hat Jesus wahrscheinlich nicht gefordert
. Aber die Zeugen haben doch ganz offensichtlich das Heil
nicht einfach in einer von Jesus abzulösenden Verkündigung erfahren
(sie haben das Heil nicht als „Lehre" erfahren), sondern
in der Verkündigung Jesu. Und hier darf man dann doch
auch wohl nicht die Verkündigung Jesu von seinem Auftreten
und Tun isolieren, das die Zeugen als Wirken Gottes erfuhren.
Wenn Jesus also auch keinen Glauben an sich gefordert hat,
genauer: wenn wir aus dem ältesten Jesuskerygma erfahren, daß
die Zeugen sich nicht zu einem Glauben an ihn gerufen wußten
, so haben doch andererseits diese Zeugen das Wirken Jesu
in Wort und Tat nicht von ihm ablösen können. Insofern glaubten
6ie — wenn auch nicht an ihn, so doch immer nur durch ihn,
nie abgesehen von ihm.

Diese Bindung des Glaubens der Zeugen an Jesus kann
aber gar nicht durchgehalten werden durch eine einfache Wiederholung
der Verkündigung. Es kam nun darauf an, nach Ostern
Jesus nicht zu verlieren. Die Gefahr besteht aber, wenn (wie im
Jesuskerygma) Ostern (also die Erfahrung: Er lebt) lediglich im
Daß der Verkündbarkeit der Jesus-Tradition erscheint. Es

kommt also nun darauf an, dieses Daß zu „verbreitern". Das
geschieht einerseits durch die christologische Ausgestaltung des
Jesuskerygmas, andererseits (und zwar nun durchaus selbständig)
durch die Ausbildung des Christuskerygmas. In diesem Christuskerygma
wird von Ostern her das Jesuskerygma so aufgearbeitet
, daß sein Inhalt zunächst einmal vom Kreuz ausgesagt wird,
später vom Gekommensein usw. Man übernimmt zur Interpretation
v6rhandene Kategorien und Vorstellungen, interpretiert
mit ihnen das Jesuskerygma, indem man seine Aussage nun
konzentriert auf bestimmte „Punkte" des Lebens Jesu. Von
diesen einzelnen Punkten (oder auch: an diesen einzelnen Punkten
) sagt man das Ganze aus. Damit qualifiziert man Jesus oder
sein Tun; und das hat den Sinn, ihn nicht zu verlieren. Diese
Qualifizierung ist Ausdruck der Verkündbarkeit der Jesus-
Tradition und sagt nun gleichsam personal aus, was die Zeugen
im Vollzuge des Wirkens Jesu erfahren haben. Und wenn B.
fragt, warum Paulus und Johannes auf die „Wiederholung" der
Jesus-Tradition verzichten konnten, dann würde ich antworten:
Weil ihr Kerygma das Jesuskerygma enthält.

Man könnte nun einwenden: Das ist wieder nur der Auf-
weis historischer Phänomene. Das ist aber nur so lange richtig,
wie man die Frage in der Fassung B.s stellt. Sie hat auch noch
einen anderen Aspekt. Dann lautet sie: Wann haben Paulus und
Johannes ein sachlich begründetes Recht, in ihrem Kerygma auf
die Jesus-Tradition zu verzichten? Darauf ist zu antworten:
Nur dann, wenn ihr Kerygma Anhalt am Jesuskerygma hat.
Anhalt bedeutet natürlich nicht, daß das Jesuskerygma aufgenommen
oder wiederholt werden muß. Aber es ist interpretiert
worden, und zwar in Richtung auf die Person Jesu (bzw.
in Richtung auf einzelne Punkte seines Lebens) und damit
gleichsam „kerygmatisch verobjektiviert". Das aber heißt: Diese
Interpretation kann auf ihre Sachgemäßheit hin geprüft werden;
ja, sie muß es doch wohl auch, denn die Sachgemäßheit kann
(gerade wegen der Andersartigkeit von Jesuskerygma und
Christuskerygma) nicht einfach vorausgesetzt oder gar postuliert
werden.

Es kommt bei dieser Sicht aber noch mehr heraus. Es kann
nämlich nun deutlich werden, w i e da6 Christuskerygma zu benutzen
ist (etwa in der gegenwärtigen Verkündigung): immer
nur vom Jesuskerygma her. Man kann das Christuskerygma
durchweg nicht historisch verifizieren. B. zeigt das ja sehr deutlich
, wenn er (historisch) fragt, wie Jesus seinen Tod verstanden
habe (S. 11 f.). Man kann nun aber, indem man den Anhalt
dieses Kerygmas am Jesuskerygma aufweist, seine Berechtigung
als sachgemäß interpretierende Entfaltung des Jesuskerygmas
zeigen. Da es sich aber um Entfaltung handelt, ist das Christuskerygma
nur in dem Maße legitim, wie die Sachgemäßheit der
Entfaltung gezeigt werden kann.

Denn das Jesuskerygma gibt dem Christuskerygma seinen
eigentlichen Inhalt. Insofern nun das Christuskerygma sich
mythischer Kategorien bedient, erweist 6ich hier die Aufgabe
der „Entmythologisierung" in einer neuen Weise als eine
legitime.

Die neue Bucer-Ausgabe

Von J. P o 11 e t, Paris

Für Bucer hat sich das Rad der Geschichte langsam gedreht,
mußte er doch vier Jahrhunderte lang warten, bis seine Persönlichkeit
und sein Werk wieder aktuell wurden. Mit um so größerer
Genugtuung wird man daher den Band 1 seiner Deutschen
Schriften1 begrüßen, der zusammen mit dem bereits erschienenen
Band seiner Lateinischen Schriften (Paris 1955 ) einen verheißungsvollen
Anfang darstellt.

1. Der hier zu besprechende Band ist den Schriften aus der

') Bucer, Martin: Deutsche Schriften. Bd. 1: Frühschriften
1520—1524. Hrsg. v. Robert Stupperich. Gütersloh: Gerd Mohn;
Paris: Presses Universitaires de France [i960]. 508 S. gr. 8° = Martini
Buceri Opera Omnia, Serie« I, im Auftr. d. Heidelberger Akademie
d. Wiss., hrsg. v. R. Stupperich. Lw. DM 64.—.

ersten Periode (1520—1524) gewidmet; immerhin sei angemerkt
, daß die Disputation mit C. Treger (Oktober 1524) nicht
berücksichtigt ist, ebenfalls nicht ein ungedrucktes Gutachten
über den Kultus, das wahrscheinlich auch aus dem Jahr 1524
stammt. Der Band ist in drei Abschnitte unterteilt: gedruckte
Schriften, ungedruckte Gutachten aus den Archive« Saint-Thoma6
(Straßburg) und Dialoge von zweifelhafter Zuschreibung
(„Dubiosa" genannt, die man aber wohl besser mit „Spuria"
bezeichnen würde, da nach unserer Auffassung kaum eine Möglichkeit
besteht, 6ie Bucer zuzuschreiben). Ziel der Herausgeber
ist es, die Werke Bucers, die bisher in keiner vollständigen und
modernen Ausgabe vorliegen, in einer typographisch lesbaren
Form und in handlichem Format zugänglich zu machen. Man