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Ausgabe:

1962

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

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Das Michaelspatrozinium weist vielmehr sehr oft auf Beziehungen
hin, die zwischen der Kirchengemeinde und dem deutschen
Kaisertum bestanden; denn die Erzengel Michael und Gabriel
galten im deutschen Mittelalter, ja, sogar schon in karo-
lingischer Zeit, als die Schutzpatrone des abendländischen christlichen
Kaisers (der „Michel" ist für das Deutschtum geradezu
sprichwörtlich geworden). Auch bei der Stadtkirche St. Michael
zu Jena ist eine solche Bezugnahme wahrscheinlich. M. weist auf
Seite 2 darauf hin, daß das Jenenser Gebiet um die Mitte des

12. Jahrhunderts als kaiserliches Lehen an die Herren von der
Lobdeburg gekommen ist. Kurz nach 1200 erhielten die Bauern
und Handwerker den Rang freier Stadtbürger, d. h. sie erhielten
Königsrechte übertragen, unter anderem die Gerichtsbarkeit. Die
Plastik des Erzengels Michael, der ein breites Schwert schwingt
und mit der Lanze den Drachen, eine Veranschaulichung des Bösen
, niedergestoßen hat, an der Schauseite der Kirche war — wie
andernorts die mit einem gewaltigen Schwert ausgestattete
Rolandsfigur — das weithin sichtbare Zeichen der eigenen Gerichtsbarkeit
der Stadtgemeinde. M. berichtet (S. 10), daß an den
Kirchhof nachweisbar Funktionen stadtherrlicher Gerichtsbarkeit
gebunden waren. Daß die Erzengelfigur ihren Platz gerade am
Untergeschoß des Turmes hatte, findet seine Begründung wohl
in der Symbolik des Turmes innerhalb des Gesamtkomplexes des
Kirchengebäudes. Der Westturm bzw. die Westtürme waren in
besonderem Maße mit dem Gedanken der ,,regalis pctestas", der
weltlichen Ordnungsmadit, d. h. des Kaisertums, innerhalb der
Gliederung des Gottesreiches verknüpft1. In den Türmen finden
sich deshalb auch oft Erzengelpatrozinien; man sehe z. B. die
Erzengelaltäre auf den Türmen des um 8 30 entstandenen St. Galler
Klosterplans, den die Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrt.

— Wenn F. Möbius bei der Erwähnung des einst weit verbreiteten
Brauches, die Toten innerhalb der Kirchen zu begraben, von
den „Bauern, Färbern und Gerbern" schreibt: „Freilich auch sie
wagten noch nicht, sich aus eigener Kraft zu erlösen", verkennt
er das Wesen der christlichen Religion. Der Gedanke einer
„Selbsterlösung" ist allen großen christlichen Bekenntnissen

— sowohl der Glaubenslehre der römisch-katholischen Kirche als
auch der der orthodoxen und der protestantischen Kirchen —
fremd.

Vom Merseburger Dom entwirft Helga Möbius ein sehr eindrucksvolles
Bild. Vor unserm Auge entsteht der alte ottonische
Dom. M. beschreibt diesen Bau sowie die späteren An- und Umbauten
mit größter Anschaulichkeit: die Krypta, den Kreuzgang,
die Vorhalle. Große Sorgfalt widmet sie der reichen, kunstgeschichtlich
äußerst wertvollen Ausstattung dieser Kirche: der
Grabplatte Rudolfs von Schwaben (ll.Jhdt.), dem romanischen
Taufstein, dem frühgotischen Kruzifixus, den Grabplatten des

13. und 14. Jahrhunderts, den Totengedächtnismalen des 16. und
17. Jahrhunderts, der Kanzel, Orgel, Ritterfigur in der Vorhalle
, der Tumba Thilos von Trotha, dem Hochaltar, den Gemälden
der Frührenaissance sowie der künstlerischen Gestaltung
des Einganges zur Fürstengruft. Ihre Ausführungen belegt sie mit
einer großen Zahl vorzüglich ausgewählter Abbildungen.

Von der gleichen Klarheit ist die Beschreibung der Liebfrauenkirche
zu Arnstadt. Die Darstellung im Tympanon des
Nordportals deutet die Verfasserin überzeugend als Stifterdarstellung
Günthers III. von der Käfernburg und erweist damit,
daß die Beschriftung des Tympanons im 19. Jhdt. fehlerhaft erneuert
worden ist. H. Möbius macht auf den Reichtum der Fot-
men am Gebäude selbst, an den Kapitellen und in der Ornamentik
der spätromanisch-frühgotischen Portale aufmerksam; sie
6ieht in dieser Vielfalt verschiedene Schulrichtungen und Stilsrufen
. Wie man auch zur Frage der „Schulen" und einer konstanten
„Stilentwicklung" stehen mag, so zeigen die vorzüglichen
Darlegungen auf jeden Fall, wie verschiedenartige Schmuckformen
die in Arnstadt tätigen Künstler angewendet haben und wie
vielfältig die Anregungen gewesen sind. Der Um- und Ausbau
de6 Chorteiles der Kirche läßt deutlich erkennen, daß in der späteren
Zeit andere gottesdienstliche Vorstellungen und Ordnungen
sich auf den Kirchenbau ausgewirkt haben: Der große

') Vgl. Gerhard Kunze, Lehre, Gottesdienst, Kirchenbau in
ihren gegenseitigen Beziehungen, Teil II, Göttingen u. Berlin 1960,
Anhang I.

Zentralturm zeigt nodi den Zentralraumgedanken der romanischen
Kirchenbauten an, in denen der Tisch des Herrn (Hauptaltar
, Kreuzaltar) kultisch und räumlich Mittelpunkt des Gottesdienstes
war. Der Ausbau des Chores wurde in gotischer Zeit
erforderlich, als die Altäre in die Apsiden hineingerückt und die
Apsiden der Platz der kultischen Handlungen wurden. Der repräsentative
Gottesdienst fand in dieser Zeit im abgeschrankten
Chor Statt. Der alte Chorraum erwies sich bei dieser Ordnung
zu eng, und man sah sidi zu Erweiterungen gezwungen.

Das Heft über die Doppelkapelle auf dem Kapellenberg von
Landsberg, 15 km nördlich von Halle, führt uns einen Bautypus
vor Augen, der nur im Hohenstaufenreich verbreitet gewesen ist.
Die Anlage besteht aus zwei übereinanderliegenden, in sich geschlossenen
Kapellen, von denen die untere mit der oberen durch
eine schmale Treppe verbunden ist. Das Obergeschoß hatte noch
einen zweiten Zugang, der nur durch einen Steg vom Wohnbau
des Markgrafen aus zu erreichen war; er ist heute zugemauert.
Die Verwendung dieser Doppelkapellen ist weitgehend ungeklärt.
H. L. Nickel meint, daß es nicht angehe, aus der kryptenhaft
schweren Anlage mancher Unterkirchen schließen zu wollen, es
handele sich um Grabkapellen, wenn es auch zutreffen mag, daß
in den unteren Räumen zuweilen Bestattungen vorgenommen
wurden. Die oberen waren wahrscheinlidi für den Gottesdienst
der Burgherren vorbehalten. N. hält die Doppelkapellen für
eine formale Ableitung der Pfalzkapellen und der Ottonischen
Westwerkanlagen. Der Vergleich ist bei dem gegenwärtigen Zustand
jedoch unzutreffend; denn bei der Doppelkapelle handelt
es sich jetzt um zwei getrennt übereinanderliegende, in ihrem
Grundriß und ihren Raumverhältnissen völlig übereinstimmende
Kirchenanlagen. Ob ursprünglich eine dreischiffige Kirchenanlage
mit einer Westempore geplant gewesen ist, wie es N. vermutet,
läßt sich nicht erweisen; die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen.
Über die ursprüngliche Planung bzw. die gottesdienstliche Benutzung
des Baues und die mit ihm verbundenen Vorstellungen
werden wir wohl erst Gewißheit erlangen, wenn uns literarische
Zeugnisse nähere Aufschlüsse bieten.

Cuxhaven Alfred W ec k w e r t Ii

Schade, Herbert: Draußen vor der Tür . . . Dämonen- und Monstrendarstellungen
an romanischen Portalen.
Stimmen der Zeit 169 (Jg. 87, 1961/62) S. 401—417.

Weigert, Hans: Die gotische Baukunst.
Universitas 17, 1962 S. 265—278.

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Gloege, Gerhard: Elite. Stuttgart: Kreuz-Verlag [19 58]. 174 S. 8°.
Kart. DM 7.80.

Es sind hier drei Vorträge vereinigt, die Verf. über die ihm
vorgeschlagenen Themen vor akademischen Kreisen gehalten hat.

I. Die Deutschen und ihr Nationalgefühl - Wiederholung
oder Erneuerung?

A) Das Nationalgefühl.

Nation ist die politische Gegenwartsgestalt eines Volkes, die
nach rückwärts gebunden und nach vorwärts frei ist (13). Das Nntio-
n a 1 g e f ü h 1 ist das unmittelbare Empfinden dieser politischen Wirklichkeit
. Im Nationalbewußtsein wird dieses Gefühl zu einer
sozial-ethischen Größe. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des
Volkes werden bewußt, und es wird nach der Verantwortbarkeit gefragt
.

Das Nationalgefühl der Völker wird in der Geschichte geformt.
Es ist bei den europäischen Nationen jung. Zuerst wurde es ausgeprägt
in England im 13. Jahrhundert. Es bewahrt dort einen konservativen
Zug. Frankreich hat dagegen immer das Gefühl der „grande nation"
bewahrt und denkt nationalstaatlich.

Das Nationalgefühl der Deutschen lebt von einem vielgestaltigen
Erbe und von einer ungreifbaren Zukunft. Aber es hat keine politische
Gegenwartsgestalt. Es ist im Verhältnis zu den anderen europäischen
Staaten erst spät entstanden, und zwar in den Freiheitskriegen.

Dieses Nationalgefühl kann und darf nicht wiederholt werden
. Sein Grundschaden liegt in seiner pseudo-religiösen Wurzel (26).
Es war in seiner Entstehungszeit von einem weltlichen Erwählung6-
glauben bestimmt. Weil die Deutschen keine eigentliche Gegenwart besaßen
, konnte sich in diesen „Hohlraum" über die Idealisten und
Romantiker ein verweltlichter „Judaismus", eine Gesetzes-Religion