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Ausgabe:

1962

Spalte:

535-536

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Au coeur de la crise moderniste 1962

Rezensent:

Dantine, Wilhelm

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Seite 1

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Theologische Litcraturzeitung 1962 Nr. 7

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thers Berufsgedanken. Die fides historica ist nötig, genügt aber
nicht. Semlers Gewissensreligion meint nicht religiöse Autonomie.
Er kennt eine doppelte Gewissensbindung, an das Wort Gottes
und an die wissenschaftliche Erkenntnis. Semler beruft sich vor
allem in seinem Schriftverständnis gegen die Orthodoxie auf die
Reformation. Auch Luther unterscheidet nach Semler zwischen
Wort Gottes und hl. Schrift. Semler bekennt sich zu Luthers
christozentrischer Hermeneutik. Er bevorzugt mit ihm Johannes
und Paulus, ohne doch sein Urteil über Jakobus zu billigen, wohl
aber seine Bedenken gegen die Apokalypse. Der Anschluß an
Luthers Hermeneutik erfolgt bei Semler ganz bewußt. Der
Unterschied zwischen beiden liegt freilich darin: Luther kannte
noch keine historisch-kritische Schriftauslegung. Sie bedeutet aber
für Semler keine Preisgabe des Offenbarungsglaubens. In einem
interessanten letzten Kapitel behandelt Hornig die Akkomodationstheorie
Semlers im Vergleich mit der der Orthodoxie und
der seines Lehrers Baumgarten. Die biblischen Naturvorstellungen
sind als die wahre Meinung der Verfasser zu betrachten. Sie
verpflichten uns heute nicht mehr, da die Theorie der Verbal-
inspiration nicht mehr gilt. Die Akkomodation bezieht sich nach
Semler auf bestimmte bildhafte Redeweisen und zeitgebundene
religiöse Vorstellungen. So ist etwa die biblische Naherwartung
zugunsten einer präsentischen Eschatologie preiszugeben. Semler
streift dabei an die Forderung einer Entmythologisierung. Spuren
davon finden sich bereits bei Luther; man denke an seine
Spiritualisierung des Reichsgottesgedankens.

Hornigs Arbeit ist m. E. eine ausgezeichnete wissenschaftliche
Leistung. Sie ist durch umfassende Quellenbenutzung der bisherigen
Semlerforschung überlegen. Sie gibt eine gründliche
Auseinandersetzung mit der Semlerliteratur. Sie bringt eine gute
Orientierung über die orthodoxe Schriftlehre. Sie verrät eine
selbständige Kenntnis der einschlägigen Lutherforschung. Sie
bemüht sich um eine gewissenhafte, gerecht abwägende Interpretation
der Quellen. Als ihr wesentlicher historischer Gewinn ergibt
6ich das überraschende Urteil: Semler ist viel lutherischer
als man bisher im allgemeinen annahm. Damit ist sie zugleich
ein begrüßenswerter systematisch-historischer Beitrag zu dem
Problem ,.Luther und der Neuprotestantismus". Es bleibt als
offene Frage: Kann die historisch-kritische Theologie bei immer
schärferer Ausbildung ihrer Methoden bei Semlers Bejahung der
Reformation stehen bleiben? Hornig äußert gelegentlich Zweifel
in dieser Richtung. So wird seine Arbeit anregend für weitere
historisch-systematische Besinnung.

Erlangen Walther v. Loe wen i ch

Marie, Rene, S. J.: Au cceur de Ia crise moderniste. Lc dossier inedit
d'une controverse. Lettres de M. Blondel, H. Bremond, Fr. von Hügel,
A. Loisy, F. Mourret. J. Wehrle ... presentees. Paris: Aubier [i960].
366 S. 8°. NF 16.50.

Als erstes sei der Wunsch ausgesprochen, auch dieses Werk
des Verfassers möge in deutscher Übersetzung zugänglich werden!
Denn in noch höherem Maße als sein Bultmann-Buch ist diese
Veröffentlichung des Briefwechsels führender Männer aus und um
den Modernistenstreit ein Werk von wirklicher Aktualität, zeigt
es uns doch durch das Mittel historischer Dokumente in eigentümlicher
Weise die geistige Problemlage unserer Gegenwart.

Mit dieser Behauptung soll die Bedeutsamkeit der Veröffentlichung
dieser Briefe für die historische Wissenschaft
keineswegs verkleinert werden. Im Gegenteil, die Briefe zeigen
uns erst in voller Klarheit, was in der zeitgebundenen Besonderheit
ihres Suchens, Irrens und Findens die beteiligten Persönlichkeiten
wirklich gedacht, erlebt und erlitten haben. Nicht nur wird
sichtbar, wie Freundschaften zerbrechen, oder sich auch wieder zu
festigen vermögen, wie im geistigen Ringen Fronten sich wandeln
können, wie sich Umgruppierungen vollziehen, die zuvor
kaum zu ahnen waren — nicht zuletzt auch, wie das Vorhandensein
und das Eingreifen eine6 allerhöchsten kirchlichen Lehramtes
keineswegs bloß zur Klärung von Sachfragen führt, sondern ebensosehr
zu unsachlichen Verdächtigungen und zur Verwirrung der
beteiligten Geister. Es ist nicht zuletzt das ein Verdienst des
Herausgebers, daß er uns in den beiden letzten Kapiteln an den
inneren Kämpfen und Wirren innerhalb des ,.siegreichen" Lagers
teilnehmen läßt.

Natürlich kann die Frage aufgeworfen werden, ob sich Marie
nicht einer einseitig gefärbten Darstellung des gesamten Vorganges
und Komplexes schuldig gemacht hat. Nicht nur die
meisterliche Handhabung der Briefauswahl in Verbindung mit
einer fortlaufenden Eigendarstellung könnte den Verdacht erwecken
, als würde hier unter dem Vorwand historisch getreuer
Dokumentation heimlich für die Richtigkeit der römischen Lehr-
entscheiflung plädiert. Mehr noch mag es Bedenken hervorrufen,
ob es einer objektiven Darbietung angemessen 6ei, den Modernismus
aus Dokumenten sprechen zu lassen, die dem Archiv
Blondel in Aix-en-Provence entnommen sind, wobei diese so geordnet
werden, daß sie als Eigentliches das umfassende Gespräch
zwischen Blondel und Friedrich von Hügel hervortreten lassen,
zweier Persönlichkeiten also, die trotz aller Wendungen im einzelnen
in unwandelbarer Treue der römischen Kirche ergeben
blieben.

Nun, man muß zugestehen: M. verspricht un6 ja gar nicht
eine Dokumentation der modernistischen Bewegung und ihres
Werdeganges als solcher — er will uns ,ans Herz der modernistischen
Krise' selbst führen! Aus dieser Absicht heraus ist es jedenfalls
zu verstehen, daß er zwar Loisy selbst ausführlich zu Worte
kommen läßt, sich sonst aber im wesentlichen auf den brieflichen
Austausch zwischen Blondel und von Hügel und der mit diesen
sich aussprechenden Personen beschränkt. Denn das eigentliche
christliche Glaubensproblem, das zu Beginn dieses Jahrhunderts
in der Modernistenkrise im römisch-katholischen Bereich aufgebrochen
ist und da sein ,Herz' gezeigt hat, ist ja nicht nur durch
das Eingreifen des römischen Stuhles nicht gelöst, sondern nur
einseitig abgewürgt worden — es hat auch weder durch das
heroische Verhalten eines Loisy oder Tyrrell noch durch deren
theologische Entscheidungen eine wirkliche Lösung erfahren.
Darum rumort diese Krise heute wieder im katholischen Lager,
genau wie sie uns innerhalb des Protestantismus nicht losläßt.
Denn es handelt sich hier wie dort um jene Entfremdung, in die
der sich als geschichtliche Person begreifende moderne Mensch
nahezu notwendig gegenüber einem Dogma gerät, das sich ihm
in metaphysizierender Gesetzlichkeit darbietet.

Selbstredend haben sich die unmittelbaren Probleme seither
geändert, M. weist dies selbst nach (S. 346 ff.). Weder die Frage
des Selbstbewußtseins Jesu noch die Verschiedenheiten zwischen
den Synoptikern und Johannes noch auch die konsequente
Eschatologie treiben uns in derselben Weise um wie die Männer
damals. Wohl aber stehen wir plötzlich wieder vor der Frage nach
dem .historischen' und dem .kerygmatischen' Christus. Angesichts
der heute bei uns angebotenen Lösungsversuche haben die Denkbemühungen
, die in diesen Briefen sichtbar werden, einen echten
Bezug auf unser eigenes Fragen. Wie Maurice Blondel, selbst ein
erklärter Gegner alleT objektivistischen Metaphysik, dennoch
versucht, die Christologie als denkbare Wirklichkeit für den
Glauben darzutun (bes. S. 268 ff.), so daß ihm hier sogar seine
getreuen Trabanten Wehrle und Mourret die Gefolgschaft verweigern
, ist nicht nur in seiner menschlichen Ernsthaftigkeit,
sondern auch in der Weise der Argumentation noch heute nicht
einfach zu übergehen. Eindrücklicher noch sind die Briefe des
Freiherrn von Hügel. Sowohl die Entschlossenheit als auch die
Behutsamkeit, mit der er die Personalität des Menschen (S. 36 ff.)
als auch die Geschichtlichkeit (S. 119!) in Anwendung bringt,
beeindrucken sehr; mehr aber noch, daß er, von historischer Forschung
und Exegese ausgehend, das christologische Problem als
solches sichtet, ja in Erörterung der Zweiständelehre zu einer
echten Theologia Crucis' (S. 140 ff.) vorstößt und das Subjekt-
Objekt-Problem in einer letzten Tiefe theologisch zu bewältigen
trachtet, sollte ihm unser Interesse sichern!

Wenn Rene Marie uns mit dieser Edition ans Herz der
modernistischen Krise führt, so daß wir in unserem heutigen
Ringen um ein neues Verständnis von ,Gei6t' und .Geschichte'
gewarnt und belehrt werden, so soll man gerade auch im protestantischen
Lager dem Mitglied der Societas Jesu dafür herzlichen
Dank wissen.

Wi«"1 Wilhelm Dan tini-

Leiber, Robert: „Mit brennender Sorge". März 1937 —März 1962.
Stimmen der Zeit 169 (Jg. 87, 1961/62) S. 417—426.