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Ausgabe:

1962 Nr. 7

Spalte:

507-510

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Amsler, Samuel

Titel/Untertitel:

L' Ancien Testament dasn l'Eglise 1962

Rezensent:

Westermann, Claus

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507

Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 7

508

ALTES TESTAMENT

A m s 1 e r, Samuel, Dr.: L'Ancien Testament dans l'ßglise. Essai d'her-
meneutique chretienne. Neuchätel: Delachaux & Niestie [i960].
247 S. gr. 8° = Bibliotheque theologique, publ. par J.-J. von Allmen.
NF 12.-.

In einem ersten, deskriptiven Teil stellt der Verf. die
Interpretation des AT im NT dar; im zweiten, systematischen
Teil beantwortet er die beiden Fragen, warum und wie das AT
in der Kirche zu lesen sei.

Im ersten Teil geht der Verf. — nach der das Problem umreißenden
Einleitung — an den Schriften des NT mit der Frage
entlang, wie sie das AT interpretieren, einsetzend mit der am
weitesten ausgebildeten Hermeneutik des AT im Hebr., von da
über den l.Petr, das Joh, die Paulusbriefe und die Apg bis zu
den synoptischen Evangelien zurückführend. In ihnen findet er
die Quelle der NTlichen Beziehung auf das AT in dem Sei der
synoptischen Leidens- und Auferstehungsankündigungen, das
sich weiter ausprägt im Begriff des .Erfülltwerdens', in den Jesus
in den Mund gelegten AT-Zitaten und in den christologischen
Titeln. In den übrigen NT-Schriften wird jeweils nach den
Zitaten ATIicher Worte, nach Anspielungen und nach Erwähnungen
von Geschichtsereignissen gefragt. Das Ergebnis wird in
einer neutestamentlichen Hermeneutik des AT zusammengefaßt:
In allen Schriften des NT übereinstimmend erscheinen die im
NT berichteten Heilsfakten in ihrer wahren Bedeutung allein im
Licht des Alten Testaments. Dabei ist die Funktion der Schrift
die einer Bezeugung. Als eine den Ereignissen voraufgehende
bekräftigt sie die den Ereignissen nachfolgende apostolische
Bezeugung. Dabei vollzieht die Hermeneutik des NT gegenüber
der des Spätjudentums eine kopernikanische Umwälzung:
der Schwerpunkt des AT wird von der Offenbarung des Gesetzes
Gottes auf das Heilswirken Gottes in der Geschichte verlegt
.

Der zweite Teil will im ersten Absatz zeigen, warum in
der Kirche das AT zu lesen sei. Aus der Perspektive des NT ist
darauf zu antworten: Das NT verkündigt ein Faktum; von ihm
berichten die Evangelien. Dies grundlegende Ereignis ist Mitte
einer Geschichte, die sich von der Schöpfung bis zum Ende der
Zeit entrollt. — Aus der Perspektive des AT ist darauf zu antworten
: Das AT bezeugt den lebendigen Gott, der sich Israel
auf der Bühne seiner säkularen Geschichte offenbart hat. Um
die Offenbarungsbedeutung der Ereignisse dieser Geschichte ans
Licht treten zu lassen, zeigt das AT in allen seinen Teilen, daß
es sich um Ereignisse handelt, die miteinander zu einer Geschichte
verkettet sind. Der Kontext erst gibt einem Ereignis
seine Bedeutung. Und zwar hat dieser Zusammenhang eine Er-
streckung nach rückwärts und nach vorwärts: Jedes dieser Ereignisse
ist in seiner Vorgeschichte verwurzelt, zugleich aber
weist es über sich hinaus in eine noch offene Zukunft. Der
letzte Sinn der einzelnen Ereignisse in der Heilsgeschichte kann
erst vom Ende her deutlich werden. Das AT hat seinien notwendigen
Platz im Kanon der Kirche, weil es einen Abschnitt
der Heilsgeschichte bezeugt, deren Ende Jesus Christus ist.

Damit ist die Antwort auf die Frage des ersten Absatzes schon
gegeben; sie wird im Folgenden noch weiter entfaltet. Der für diese
Beziehung typische NT-Begriff .Erfüllung' hat zwei Seiten: a) das
Werk Gottes in Christus vollendet und überschreitet alles, was Gott
seit der Schöpfung in der Welt und in der Heilsgeschichte an Israel getan
hat; b) der neue Bund bestätigt nachträglich die Worte und Taten
Gottes im alten Bund. Die Erfüllung ist also gleichzeitig depassement
et confirmation des alten Bundes in Jesus Christus. Hierbei ist aber
vorausgesetzt, daß die Mitte des alten Bundes, die Erwählung Israels,
als solche in einer kontinuierlichen Geschichte steht, die mit der
Schöpfung begann und ein Gefälle zu ihrem Ende hin hat: die Errichtung
der Königsherrschaft Gottes über die ganze Welt. In diesem größeren
Zusammenhang hat jedes für diese Geschichte wesentliche Ereignis
gleichzeitig den Charakter der .Erfüllung' wie der .Verheißung';
diese ganze Geschichte bewegt sidi von Verheißung zu Erfüllung, bis
vom Exil ab das Verheißene immer mehr der Geschichte jenseitig wird.
Den Zusammenhang mit der Geschichte aber verlieren die Verheißungen
niemals. Jedes Ereignis und jedes Wort des AT bekommt damit
einen Bezug auf das Endereignis; keines, weder Gesetz noch Geschichte
noch Gebet noch Prophetie hat 6einen letzten Sinn in sich

selbst. Aber das NT stellt nicht jedes Ereignis und nicht jedes Wort
des AT auf die gleidie Stufe in seiner Beziehung zur Erfüllung, es
unterscheidet vielmehr zwischen Mitte und Peripherie. Die Worte und
die Ereignisse des AT werden im NT auf verschiedene Weise als erfüllt
angesehen (hier zwei wertvolle Tabellen der AT-Zitate im NT):
Die Texte des AT fordern bei ihrer Anwendung im NT stets eine
Übertragung, sofern sie auf Jesus Christus bezogen werden; die
Ereignisse des AT können die Christusereignisse typologisch vorbilden
, Sber diese typologische Relation muß immer chri6tozentrisch
und über sich hinausweisend sein.

Die Antwort auf die zweite Frage: wie das AT in der
Kirche zu lesen sei, kommt auf drei Grundregeln bzw. drei
Schritte im Vollzug der Auslegung hinaus. 1) Das rechte Lesen
des AT muß unterscheiden zwischen dem bezeugenden Text und
dem darin bezeugten Ereignis; beides darf nicht getrennt und
nicht vermischt werden. 2) Für den Text wie das darin bezeugte
Ereignis gilt, daß beide ohne jeden Vorbehalt im Vollzug der
philologisch-kritischen bzw. der historisch-kritischen Exegese zu
klären seien. Beide können auch dem Verständnis der Texte als
Wort Gottes und der Ereignisse als Taten Gottes dienen, wenn
sie in ihren Grenzen ernst genommen werden. Das wird beispielhaft
an einer sehr klaren Darstellung der augenblicklichen
Situation der Auslegung von Gen 3, 15 gezeigt. Abgewiesen
wird dabei auf der einen Seite die Allegorese, auf der anderen
Seite ein Historismus, dem es nur noch um die historische Fak-
tizität gehe. Sehr gut scheint mir hier eine neue Bestimmung der
Allegorese: ,,Une methode, qui repose sur la confusion herme-
neutique du texte et de l'evenement . . . L'allegorie prend le
texte lui-meme pour l'evenement revelateur" (S. 169). — Mit
der historistischen ist oft eine symbolistische Exegese verbunden
, für die an die Stelle der Fakten allgemeine Wahrheiten
treten, die in den Fakten symbolisiert seien. Auch diese ist abzuweisen
. Auch dem .sensus plenior' der katholischen Exegese
kann nicht zugestimmt werden, weil er oft nur den Sinn hat,
den Hiatus zwischen der kirchlich-traditionellen und der modern
-wissenschaftlichen Auslegung auszugleichen. — Philologisch
-kritische und philologisch-historische Forschung kommen
zusammen in der Herausstellung der literarischen Genera (Novelle
, Legende, mythischer Bericht), die in ihrer verschiedenen
Relation von Wort und Ereignis auf den Hiatus weisen, der
immer bestehen wird zwischen dem Wortwerden eines Ereignisses
und dem Abrollen des Ereignisses selbst.

3) Der dritte Schritt in der Exegese des AT ist das Herausarbeiten
des theologischen Sinnes oder der .prophetischen Dimension
' der Texte und der in ihnen bezeugten Ereignisse. Er kann
auch außerhalb der christlichen Kirche vollzogen werden (die
christliche Hermeneutik des AT ist nicht die einzig mögliche!),
ist aber für den Leser des AT in der christlichen Kirche von
besonderer Bedeutung. In dieser prophetischen Bezeugung zeigt
das AT eine solche Mannigfaltigkeit, daß eine Synthese fast
nicht möglich erscheint. Dennoch werden die Ereignisse der Geschichte
des Bundes Gottes mit Israel in der Linie des Offenbarungsgeschehens
das Wort, durch das Gott die Menschen
ruft und die rechte Gemeinschaft zwischen ihm und ihnen
wieder herstellt. — In der Kirche, in der das AT im Neuen
Testament einen neuen Kontext bekommen hat, muß das theologische
Zeugnis des AT mit dem des NT über das endgültige
Offenbarungsereignis konfrontiert werden. Diese Konfrontation
geschieht in der typologischen Interpretation des AT. Die
Typologie ist eine Interpretation des theologischen Gehaltes des
AT im Licht des theologischen Zeugnisses des NT. Dafüi werden
eine Reihe von Beispielen gegeben (Ex 17, 8 ff.; l.Kön
8, 23—53; Arnos 1—2; Ps 17; dazu Calvins Auslegung von
Ps 110) und es wird auf drei Einwände eingegangen, die gegen
die typologische Exegese erhoben worden sind.

Die Untersuchung ist ein wertvoller und in wesentlichen
Punkten weiterführender Beitrag zur Frage der Hermeneutik
des Alten Testaments. Sehr hilfreich ist die präzise Darstellung
der AT-Zitate Im NT; hervorzuheben sind dabei die zu jedem
Teil gegebenen sorgfältigen Literaturübersichten. — Über die
Zitate oder Erwähnungen des AT im NT hinaus wäre dieser
Zusammenstellung hinzuzufügen, daß die Bedeutung des AT für
das NT nicht auf die Zitate und Erwähnungen zu beschränken
ist. Von der Sprachstruktur über die beherrschenden Begriffe bis