Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1962 Nr. 7

Spalte:

487-497

Autor/Hrsg.:

Haenchen, Ernst

Titel/Untertitel:

Statistische Erforschung des Neuen Testaments? 1962

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5, Seite 6

Download Scan:

PDF

487

Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 7

488

Vor allem lehrt die Telefonseelsorge, über die Erich
Stange berichtet4, die zu jeder Seelsorge nötige Distanz zu
wahren. Distanz ist ein Grundgebot seelsorgerlichen Taktes.
Durch Verbalismus und Klerikalismus wird sie verletzt, mag
sich die Zudringlichkeit auch noch so weltlich gebärden. Der
Seelsorger soll sich nicht weltlich gebärden, sondern soll menschlich
sein. Das kann er desto besser, je stärker und freier sein
Amtsbewußtsein ist und je klarer er sich darüber ist, daß der
bei ihm Hilfe Suchende um des Amtes willen zu ihm kommt.
Erich Stanges Buch läßt deutlich erkennen, wie stark das Vertrauen
anonym bleibender Menschen zu dem anonymen Amte

4) Stange, Erich: Telcfonseelsorge. Kassel: Oncken [ 1961].
92 S. 8". DM 3.80.

ist. Dadurch wird in überraschender Klarheit ein Wesenszug
aller Seelsorge wieder herausgehoben: Sie ist Dienst des Amtes
der Kirche. Sie spendet Rat und Hilfe mit yollen Händen, ohne
je eine geistliche Gegenleistung zu fordern. Sie ist ganz sachlich
und eben deswegen in der rechten Weise persönlich.

Als Fazit der neuen Erfahrungen werden wir feststellen
können: Das Amt der Kirche steht viel stärker im Bewußtsein
der Öffentlichkeit, als man lange Zeit anzunehmen geneigt war.
Es bedarf daher einer neuen theologischen Erfassung, wenn es
nicht subjektiven Realisationsversuchen ausgesetzt werden soll,
die es romantisch oder aktivistisch verfälschen. Vom biblischtheologischen
Amtsverständnis aus wird die Seelsorge versachlicht
und eben damit zu jener taktvollen Grundhaltung geführt
, in der sie persönlich fruchtbar werden kann.

Statistische Erforschung des Neuen Testaments?

Von Ernst Haenchen, Münster/W.

Kann die Statistik2 da weiterhelfen, wo sich die ntl.
Wissenschaft festgefahren zu haben scheint? A. Q. Morton,
jetzt „Minister pf the Church of Scotland", ist fest davon überzeugt
. Im zweiten Weltkrieg wurde er in Mathematik und
Physik geschult. „Mit echt schottischer Sparsamkeit" (so beschreibt
er es selbst humorvoll) hat er die so erworbenen Kenntnisse
deT Statistik nachher auf Probleme des Neuen Testaments
angewendet. 1957 gab er eine erste Probe in dem Aufsatz:
„The Structure of the New Testament". Hier behandelte er
statistisch die Länge der ntl. Schriften.

Dazu mußte er sich zunächst einen Maßstab beschaffen. Die
in England sehr beliebte Ausgabe des griechischen Neuen Testaments
von Alexander Souter1, die er benutzte, konnte er nicht
unmittelbar für seine statistischen Berechnungen verwerten.
Denn die Alten schrieben ohne Worttrennung (scriptio continua)
und Interpunktion, und sie setzten auch die einzelnen Abschnitte
nicht so voneinander ab, wie wir es aus unseren Ausgaben des
griechischen Neuen Testaments gewohnt sind. M. berechnete,
um wieviel sich eine Zeile bei Souter verkürzen würde, wenn
man all jene Zwischenräume fortließe. Es stellte sich heraus,
daß die Souter-Zeile dabei auf 4/5 ihrer Länge zusammenschrumpft
. Diese Größe, 4/5 der Zeile bei Souter, nahm M. als
das Normalmaß und gab ihr den Namen „Standard line"; wir
wollen diesen Ausdruck mit „Normalzeilc" (abgekürzt: N.Z.)
wiedergeben4.

und den ntl. Originalen viel näher. Inzwischen sind P. 66° und
75' veröffentlicht worden; beide stammen aus der Zeit um 200.
Sie beweisen, daß sich die Schreiber damals keineswegs einer
Normalzeile bedienten, ja, daß jene „Normalzeile" auch nicht
als Modell der antiken Zeile dienen kann. P. 66 — er enthält
lediglich das Johanncsevangelium — hat auf seiner ersten Seite
26 Zeilen. Auf der nächsten Seite sind es nur 23, auf S. 3 wieder
23. Im ganzen nimmt dann die Zeilenzahl ab, bis S. 95—97
mit ihren 15 Zeilen — wenigstens in dem uns erhaltenen Kodexteil
— ein Minimum erreicht ist. Nun zur Buchstabenzahl: die
ersten 10 Zeilen von S. 1 (Joh 1, 1—7 bis ovtoq »j/l) variieren
zwischen 22 und 36 Buchstaben pro Zeile, dagegen die
ersten 10 Zeilen von S. 97 zwischen 18 und 24 Buchstaben
(und Interpunktionszeichen; solche gibt es zu unserer Überraschung
schon!). Betrug dort der Durchschnitt 28, 8 Buchstaben
pro Zeile, so hier nur noch 22. Bei Souter kann es — wie bei
allen unsern Druckausgaben — derartige Schwankungen der Zeilen
- und der Buchstabenzahl gar nicht geben. Darum verspricht
die Normalzeile, die aus Souters Text gewonnen wird, eine viel
größere Regelmäßigkeit und Gleichmäßigkeit, als 6ie die alten
Papyri — auch P. 52 ist trotz seiner Winzigkeit nicht unwichtig
— besessen haben. Dabei sehen wir völlig ab von den Abkürzungen
der nomina sacra, die M. gelegentlich erwähnt, aber
auch von der Abkürzung des Wörtchens xcU und dem Strich
über einem die Zeile beschließenden Vokal, der ein folgendes

Damit war freilich weniger gewonnen, als M. zu ahnen y andeutet> und cbenso von jenen Budlstaben oder WÖTtern, di;
scheint. Denn diese Normalzelle erlaubt zwar, einzelne ntl.

Schriften in einer und derselben Druckausgabe auf ihre Länge
zu vergleichen; sie verrät uns aber nicht, wie lang die Zeilen
in den Originalen der ntl. Schriften waren! M. hat zunächst
Studien am Codex Sinaiticus gemacht"'. Vielleicht hat die Gleichmäßigkeit
dieser Handschrift ihm ein allzugroßes Vertrauen
zum Ebenmaß der Zeilen und Kolumnen in den Originalen der
ntl. Handschriften eingeflößt.

Als M. seinen Aufsatz schrieb, war P. 45 schon bekannt,
der erheblich älter ist als die Pergamenthandschrift vom Sinai

') Morton, A. Q.: The Structure of the New Testament. In:
Science News 43 (Penguin Books) 1957, S. 19-30 (abgekürzt: SN und
Seitenzahl).

Macgregor, G. H. C, and A. Q. Morton: The Structure
of the Fourth Gospel. Edinburgh and London: Oliver & Boyd 1961.
VII, 135 S. 8°. Lw. 15 s. (abgekürzt: FG und Seitenzahl).

Morton ist ,,R. A. F. Minister of the Abbey Church of Culross",
Macgregor „Professor of Biblical Criticism at Glasgow University".

2) Statistik verwendeten auch Ed. Schweizer (..EGO EIMI" 1939).
R. Morgenthaler („Statistik d. ntl. Wortschatzes" 1958) und W. C.
Wake (lournal of the Royal Statistical Society, Ser. A, Vol. CXX,
Pt. III (1957), S. 331—346: diese letzte Angabe ist entnommen aus
FG S. 7).

*) Vermutlich die zweite Fassung, Oxford 1947. mit Neuabdrucken
1950, 1953 und 1956.
4) SN S. 22 f.

6) Nach der Personalangabe über Morton in SN S. 126 hat er eine
Schrift „The New Testament in the Codex Sinaiticus" veröffentlicht.

der Schreiber vergaß und über der Zeile nachtrug.

M.s Normalzeile sagt also gar nichts aus über den Raum,
den das Original einer ntl. Schrift beanspruchte, und darum
auch nichts darüber, welches Format benutzt wurde und wieviel
Text eine Kolumne (= Seite im Kodex) aufnahm. P. 75 zeigt
uns z.B., daß der Schreiber in der Kodexmitte merkte, er komme
nicht aus, und darum die Zeilenzahl steigerte", so daß der
Kodex dann, ohne angeklebtes Blatt, doch reichte.

Um aber doch von der Normalzeilc auf Format und
Kolumnengröße schließen zu können, stellte M. zwei Zusatzhypothesen
auf. Erstens: Alle ntl. Schriften wurden nicht auf
Papyrusrollen, sondern -kodizes geschrieben". Die Christen haben
allerdings schon erstaunlich früh Kodizes benutzt. Aber das
besagt nicht, daß sich alle ntl. Autoren solcher bedienten. Es
kommt uns vielmehr recht wahrscheinlich vor, daß die ntl.
Briefe wie damals üblich auf Papyrusrollen geschrieben wurden.
Das liegt um so näher, wenn manche größere Paulusbriefc — wie

*) Papyrus Bodmer II. Evangile de Jean. chap. 1—14, Ed. V.Martin.
Bibliotheque Bodmer, Cologny / Geneve 1956. 1 52 S. — Papyrus Bodmer
II, suppl. Evangile de lean. chap. 14—21. Ed. V.Martin. Bibliotheque
Bodmer, Cologny/Geneve 1958.

7) Papyrus Bodmer XIV—XV, Evangiles de Luc et Jean. Ed. V.
Martin et R. Kasscr. Bibliotheque Bodmer. Cologny/Geneve 1961. 150
und 8.3 S.

") Pap. Bodmer XIV, Introduction generale. S. 10.
•) SN S. 29; FG S. 19.