Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1962 Nr. 6

Spalte:

460

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Perrin, Joseph Marie

Titel/Untertitel:

Le mystère de la charité 1962

Rezensent:

Trocmé, Etienne

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

459

Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 6

460

Verfasser beschränken sich bei ihrer Darstellung nicht auf die
offiziellen Äußerungen in den großen Sozialenzykliken, sondern
ziehen auch die brieflichen Stellungnahmen der Päpste und
die Verlautbarungen in den Acta Apostolicae Sedis bei. Die
katholische Soziallehre wird als eine Synthese von Naturrecht
und Gesetz Christi verstanden. Diese Synthese ist, was in den
Sozialenzykliken als „christliche Philosophie" bezeichnet wird.
Die Päpste reklamieren das Recht zur Soziallehre auf Grund
der Tatsache, daß die Kirche Mutter und Lehrerin der Völker
ist. Sozialreform und sittlich-religiöses Leben des Einzelnen
können nicht voneinander getrennt werden, weil der Mensch
eine lebendige Einheit ist. Dabei sucht die Kirche nicht Wahrung
eigener Interessen, sondern sucht in Wahrung ihrer religiösen
Mission für den Menschen und sein Recht einzutreten.
Theologisch wird der universale Lehranspruch der Kirche vor
allem von Papst Pius XII. mit der universalen Königsherrschaft
Christi begründet. Christlichkeit und Menschlichkeit werden als
Inklusivverhältnis verstanden, so daß Pius XI. sagen kann: was
christlich ist, ist wahrhaft menschlich, und was widerchristlich
ist, ist unmenschlich. Als die drei unveräußerlichen Pfeiler einer
natürlichen Sozialordnung gelten der katholischen Soziallehre
die Institutionen der Familie, des Privateigentums und des
Staates. Wenn die Päpste davon reden, daß neben dem Staat
vor allem auch die „kleineren Gesellschaften" ein Lebensrecht
haben und einen Anspruch auf Unterstützung von Seiten des
Staates, so zeigt dies, daß das Naturrecht nicht nur einen rein
formalen Charakter hat, sondern auch konkrete Aussagen über
institutionelle Probleme zuläßt. Das Naturrecht hat sowohl imperativen
wie prohibitiven Charakter. Die Harmonie der sozialen
Klassen ist ebenso eine Forderung des Naturrechts wie die
Aufhebung der proletarischen Situation, für die bezeichnend ist,
daß ein Teil der Menschheit für immer der sozialen Sicherheit
beraubt ist. — Wenn behauptet wird, die Kirche beziehe sich in
ihrer Soziallehre auf zwei Quellen, das Naturrecht und die
Offenbarung, so enthält diese Doppelung ein Problem, nämlich
die Frage, ob es eine doppelte Offenbarungsquelle gibt. Stehen
also Vernunft und Offenbarung gleichberechtigt nebeneinander?
Die Autoren sehen die Lösung des Problems darin, daß Gott
als der Schöpfer und als der Erlöser derselbe Gott ist und es
daher notwendig eine Konvergenz der Vernunfterkenntnis -und
der Offenbarungserkenntnis geben muß. Nur im Namen der
Offenbarung macht die Kirche bindende Aussagen auch über
das Naturrecht. Im formalen Sinne gibt es nur eine für die
Kirche verbindliche Erkenntnisquelle, nämlich die Offenbarung,
im materialen allerdings kann von zwei Quellen gesprochen
werden, denn auch wenn die Kirche von offenbarter Wahrheit
redet, spricht sie von der Natur und dem Naturrecht. So erreicht
ihre Lehre alle Menschen, deren Vernunft nicht völlig
pervertiert und entwurzelt ist.

Trotz des allgemeinen Anspruchs der Kirche auf das Recht
zur Soziallehre gibt es doch Grenzen, die auch die Kirche anerkennen
muß. Sie liegen dort, wo es um die ökonomische oder
technische Eigengesetzlichkeit geht. Das bedeutet freilich keine
Kapitulation vor den entmenschlichenden Tendenzen der modernen
Zivilisation, aber eine Beweglichkeit, die offen ist für
den Wandel der geschichtlichen Verhältnisse und die verschiedenen
Anwendungsmöglichkeiten des Sittengesetzes in besonderen
Situationen. Die Intervention der Kirche bezieht sich
immer auf die Gewissensbildung freier Menschen. Darum ist
die Autorität der kirchlichen Aussagen nur verbindlich für den
Gläubigen, soweit es sich um die moralische oder religiöse
Dimension der sozialen Frage handelt.

Im Verhältnis von Person und Gesellschaft ist stets der
Grundsatz leitend, daß die Gesellschaft für die Person und die
Erhaltung ihrer Würde da ist, nicht umgekehrt. Person und Gesellschaft
werden in einem Komplementärverhältnis gesehen;
Person entbirgt sich nur in und durch die Gesellschaft, die sich
ihrerseits nur soweit beim einzelnen durchsetzen darf, als es
dem gemeinsamen Gut und dem Dienst an der Person entspricht
. — Gerechtigkeit ist die Grundnorm der Sozialethik.
Bei Pius XL wird zum ersten Mal der Begriff der „sozialen
Gerechtigkeit" verwendet, von dem die Autoren nachweisen,
daß in ihm die Tradition der thomistischen Gerechtigkeitslehre

weitergeführt wird. Darunter ist die allgemeine Gerechtigkeit
in ihrer besonderen Anwendung auf das Gebiet der Wirtschaft
verstanden. — Das Verhältnis von Naturrecht und Offenbarung
wiederholt sich noch einmal im Verhältnis von Gerechtigkeit
und Liebe. Wie kann die Kirche ihre Soziallehre auf dem Grundsatz
der sozialen Gerechtigkeit aufbauen und gleichzeitig am
Primat der Liebe im Sinne des Evangeliums festhalten? Die
Antwort lautet: Liebe ist der fundamentale Standard für das
Ganze des sozialen Lebens, während Gerechtigkeit der universale
objektive Standard für alle Beziehungen ist, die sich daraus
ergeben. Liebe wird nicht nur als Forderung Überpflichtiger
Werke verstanden, also als Almosengeben, wobei die Liebesforderung
dann weniger streng wäre als die Forderung der Gerechtigkeit
; sie ist vielmehr die innere Transformation der
Gerechtigkeit im Sinne der Mitmenschlichkeit. Nach diesen
systematischen Erwägungen, die fast die Hälfte des Buches
ausmachen und geeignet sind, manches Mißverständnis auch
von evangelischer Seite zu beseitigen, folgt die Anwendung
auf das spezielle Gebiet des modernen Wirtschaftslebens. Es
werden die Eigentumsfrage, das Verhältnis von Arbeit und
Kapital, von nationaler und internationaler Wirtschaft, Gewerkschaft
, Klassenkampf, Streik usw. behandelt. Die am Ende des
Bandes vorgetragenen Vorstellungen der Kirche von einer gesunden
Gesellschaftsordnung werden sorgfältig unterschieden
von den Ideen des Staats-Korporativismus, wie sie dem Faschismus
eigen sind. Wenn hier die Päp6te den Begriff der
Korporation wählen, so geschieht dies in Analogie zum Ver-.
ständnis der Kirche als des organisch gegliederten Leibes Christi.
Das Buch der beiden Autoren zeichnet sich dadurch aus, daß
es den theologischen Grundsatzfragen ausführlich nachgeht.
Es kann füglich als Standardwerk bezeichnet werden.

Tübingen Heinz-Horst Sch rey

Perrin, Joseph-Marie, O. P.: Le Mystere de la Charite. Bruges:
Desclee de Brouwer [i960]. 532 S. 8° = Textes et Etudes Theolo-
giques. Belg. Fr. 210.—.

II s'agit d'un traite de la Charite destine ä des lai'cs pieux,
de preference du sexe feminin. L'auteur, un P. dominicain assez
connu, qui fut jadis le confident de Simone Weil, y fait preuve
des memes qualites litteraires que dans le reste de son oeuvre,
toute consacree ä l'edification. Loin de faire etalage de sa vaste
culture theologique, il presente sa pensee dans un style simple
et anime, en brefs chapitres qui tournent souvent ä la meditation.
Le plan qu'il suit n'en est pas moins rigoureux et ample, tandis
que, dans le detail, la progression de l'expose reste partout
Iogique et ordonnee.

Une premiere section definit en des termes tout ä fait
classiques le „trop grand amour" qui constitue l'etre de Dieu,
avant d'en montrer l'epanouissement dans l'oeuvre de la Crea-
tion et de la Redemption. Une deuxieme section developpe
l'idee que Dieu veut etre aime et ne veut que cela: pourquoi,
comment, dans quel style de vie. Le livre III, apres avoir defini
l'amour chretien comme une voie sur laquelle l'homme est
appele ä marcher, presente l'attitude du croyant face ä l'amour
de Dieu comme une foi, une activite et une „Ouvertüre", cette
derniere comportant avant tout la vie sacramentelle. Enfin, le
livre IV traite de l'amour du prochain.

Cet expose ä la fois classique et chaleureux est appuye sur
de nombreuses citations bibliques, toujours interpretees dans un
sens traditionnel. Les renvois au Cantique des Cantiques sont
cependant tres rares, ce qui denote sans doute quelque reserve
envers une certaine mystique, reserve qu'on percoit aussi dans
les allusions faites ä tel ou tel contemplatif fameux, ä Therese
de Lisieux en particulier. Les auteurs favoris du P. Perrin sont
plus raisonnables, au bon ou au mauvais sens de ce mot: Augustin
, Thomas d'Aquin, Francois de Sales.

Rien d'etonnant ä cela, puisque c'est aux cadres des Instituts
seculiers que cet ouvrage est destine, et non aux membres
des ordres cloitres. Mais on admirera que ces actifs militants
soient en mesure de se lancer dans une lecture aussi longue et
austere. A moins que le P. Perrin n'ait un peu surestime Ieurs
capacites d'absorption . . .

Strasbourg _ E.Trocme