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Ausgabe:

1962 Nr. 1

Spalte:

15-24

Autor/Hrsg.:

Vicedom, Georg F.

Titel/Untertitel:

Der innere Wandel der Religionen als Frage an unsere Verkündigung 1962

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 1

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(4, 19). Die Frage nach der Wahrheit unseres Redens von Gott
und von der Offenbarung seiner Liebe in Jesu6 Christus ist der
andern Frage nach der ethischen Relevanz der christlichen Botschaft
vorgeordnet, und sie läßt 6ich auch nicht von vornherein
einengen auf das, was uns im voraus als ethisch bedeutsam erscheint
. Erst von der umfassenden Erkenntnis der Wirklichkeit
Gottes und der geschöpflichen Bestimmtheit der Welt und unseres
Daseins her läßt sich die Tragweite und Art der daraus sich
ergebenden ethischen Konsequenzen erörtern.

Der Apostel Paulus hat zwar an ein unausdrückliches Wissen
auch der Heiden vom Gesetz Gottes appelliert (Rom 2), aber
nicht dadurch erst hat er die Gottheit des von ihm verkündeten
Gottes den Heiden nahe gebracht. Dazu hat er vielmehr schon
zuvor im Gedankengang des Römerbriefes an ein besonderes,
wenn auch ebenso unausdrückliches Wissen der Heiden von Gott
erinnert (Rom. 1,19 ff.)34. Und im Folgenden bezieht er sich auf
Anschauungen, die — in unsere Problematik übersetzt — in den
Bereich einer Ontologie des Menschen gehören (Rom. 5). Die
These, daß der dogmatische Beweis sich auf das sittliche Bewußtsein
konzentrieren müsse, kann sich also auf Paulus nicht
stützen.

Kann sie sich auf die Reformation berufen? Unstreitig umschreibt
die Dialektik von Gesetz und Evangelium die reformatorische
Grundproblematik, und ebenso muß man zugestehen,
daß das Evangelium der Sündenvergebung das Gesetz schon
voraussetzt. Aber diese reformatorische Thematik setzt doch
ihrerseits den Horizont einer noch unbestrittenen christlichen
Überlieferung, einer fraglosen Gültigkeit der biblischen Aussagen
vom göttlichen Handeln voraus. Nur auf dem Boden einer im
großen und ganzen noch unangetasteten notitia historiae kann
die reformatorische Konzentration auf das Ungenügen einer
bloß historischen Kenntnisnahme zum Heil, auf die Verheißung
als causa finalis historiae (Apologie z. CA, IV, 51) und auf den
Glauben als Erfüllung des Gesetzes geschichtlich verstanden werden
. Aus der Bewährung des Evangeliums am Gesetz den dogmatischen
Beweis für die Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung
in Christus zu führen, wie Herrmann es wollte, das lag
der Reformation noch ganz fern. Eine derartige Notwendigkeit
bestand im 16. Jahrhundert noch nicht, weil die von der Bibel
bezeugte Wirklichkeit Gottes und die Geschichte seiner Offenbarung
in Israel und Jesus Christus noch die undiskutierte
Voraussetzung der eigentlich reformatorischen Thematik war.

Wenn wir das bedenken, so wird deutlich, wie weit unsere
gegenwärtige geistige Situation von der der Reformation ver-

M) E. Fuchs allerdings (Hermeneutik, *1958, 150) nimmt auch Rom.
1, 20 f. für den Satz in Anspruch, daß Gott „allen Menschen in der sittlichen
Forderung" begegne.

schieden ist. In der Neuzeit ist ja nun in der Tat die Wirklichkeit
Gottes selbst und des überlieferten Bildes von der biblischen Geschichte
fraglich geworden. Die damit gegebenen Fragen können
nicht mehr, aus einem falschen Autoritätsgefühl heraus, durch
Anwendung der reformatorischen Dialektik von Gesetz und
Evangelium bewältigt werden. Sie bedürfen neuartiger Wege und
Lösungen. Der Versuch, die moderne Problematik der Wirklichkeit
Gottes und der von der Bibel bezeugten Offenbarungsgeschichte
auf ein ethisch - existenziales Schema, analog dem von
Gesetz und Evangelium, zuzuschneiden, vst hingegen charakteristisch
für die Erweckungstheologie und für Wilhelm Herrmanns
Grundlegung der systematischen Theologie, sowie für deren
neuere Fortsetzungen. Abgesehen von der unvermeidlichen Verkürzung
der theologischen Thematik, die nicht erst bei Bultmann
und Ebeling, sondern schließlich schon bei den pietistischen
Ahnen der Erweckungstheologie aus der Einengung auf das
ethische Interesse folgt, ist aber ein Beweis der Dogmatik an der
ethischen Erfahrung, wie er Herrmanns Ziel war, auch in sich
| haltlos, weil, wie wir gesehen haben, ein derartiges Programm
j geistesgeschichtlich überholt ist. Die Frage nach der Wirklichkeit
| Gottes und seiner Offenbarung muß für sich gestellt werden,
gerade auch im Interesse der Ethik selbst. Nur wenn die Wahrheit
Gottes und seiner Offenbarung für sich feststeht, läßt sich
ein ihr gemäßes Leben führen. Nur so, daß wir zunächst der Frage
nach der Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung mit ganzem
Ernst und in aller Offenheit standhalten, können wir den
Zugang zu demjenigen Problemhorizont wiedergewinnen, in welchem
die reformatorische Thematik von Gesetz und Evangelium
überhaupt eTSt entsteht. Wenn aber die Theologie die andersgearteten
Fragen unserer heutigen Situation mit Grundbegriffen
des 16. Jahrhunderts zu bewältigen versucht, dann kann das nur
dazu führen, daß sie an der heutigen Wirklichkeit und ihren
Fragen vorbei zu illusionären Lösungen gelangt.

Die Welt erwartet in der gegenv/ärtigen Krise des Ethischen
eine Hilfe von der christlichen Tradition, von der christlichen
Kirche. Wenn die Theologie einen Beitrag dazu leisten kann,
dann wird er nicht in einer ethischen Begründung der christlichen
Wahrheit, sondern umgekehrt in einer theologischen Neubegründung
der Ethik bestehen. Dazu genügen nicht Einzelerklärungen
aus Theologenmund zu dieser oder jener ethischen Frage. Wenn
es der Theologie wieder gelingt, von der christlichen Überlieferung
her das Ganze unserer Wirklichkeit verstehend zu durchdringen
, ihr gerecht zu werden und darin die Wirklichkeitsmacht
des Gottes, von dem sie handelt, zu bewähren, dann wnd aus
solchem Verständnis unserer Wirklichkeit auch die Kraft der
Liebe erwachsen, die die sittliche Not der Gegenwart zu lösen
I vermag.

Der innere Wandel der Religionen

Von Georg F. Vice

In den religionswissenschaftlichen Lehrbüchern finden wir
bis heute, wenn wir von den Arbeiten weniger absehen1, kaum
einen Hinweis auf die großen Vorgänge, die den Weltreligionen
ein neues Gesicht geben. Selbst in neuesten Veröffentlichungen,
wo von Umbildungen der Religionen gesprochen wird, ist da6
Wiedererwachen der Weltreligionen nicht erwähnt'. Die Gegenwart
ist für die Religionswissenschaft anscheinend bedeutungslos
. Ganz anders ist es, wenn wir Bücher asiatischer Geschichtswissenschaftler
, Religionsphilosophen und auch Theologen lesen.
Sie weisen uns auf die Renaissance der Religionen als auf das
entscheidende. Kennzeichen unserer Zeit hin. Man spürt etwas
davon, daß heute viele Völker bei dem gewaltigen sozialen Umbruch
ihre Hoffnung auf die Religion setzen3. Die Erforschung der

J) Hendrik Kraemer. Religions and the Christian Faith, 1956;
Otto Wolff, Indiens Beitrag zum neuen Menschenbild, 1957; Georg F.
Vicedom, Der Angriff der Weltreligionen auf die Christenheit, 1956;
ds. Die Mission der Weltreligionen, 1959; G. van der Leeuw, Die Bilanz
des Christentums, 1947.

*) Kurt Goldammer, Die Formenwelt des Religiösen, 1960:
Christopher Dawson, Religion und Kultur, 1957.

T) K. M. Panikkar, Asien und die Herrschaft des Westens, 1955;

als Frage an unsere Verkündigung

lom, Ncuendettelsau

Gegenwartssituation der Religionen ist eine der vornehmsten
Aufgaben der Boten Christi; denn sie können ihren Auftrag nicht
ausrichten, ohne daß sie das Evangelium dem gegenwärtigen
Selbstverständnis der Religionen konfrontieren. Kenntnis der
Religion ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine fruchtbare
Verkündigung des Evangeliums.

Der Wandel der Religionen wird oft als das Ergebnis des intensiven
Kulturzusammenstoßes oder der Kulturfusion im Zusammenhang
mit der globalen sozialen Revolution erklärt. Ohne
Frage ist er das auch. Wir wollen jedoch in dieser Arbeit nicht
auf die Anstöße von außen, nicht auf das phänomenologische
Bild der heutigen Religionen den Nachdruck legen. Wir wollen
vielmehr nach dem eigentlichen Gehalt de6 Wandels fragen. Der
innere Vorgang wurde wohl durch Anstöße von außen angeregt,
diese wurden aber durch die eigene Dynamik der Religionen
verdrängt. Wir können das an der Entwicklung der Erneuerung
deutlich erkennen. Wir müssen drei Stadien unterscheiden. Daß

S. Radhakrishnan. Gemeinschaft des Geistes, 1952; S. Kulandran,
Resurgent Religions. 19 57; P. Devanandan, The Gospel and the Rena'
scent Hinduism 1950; Working together (Kuala Lumpur Bericht) 1959-