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Ausgabe:

1962 Nr. 5

Spalte:

359-362

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Chenu, Marie-Dominique

Titel/Untertitel:

Das Werk des Hl. Thomas von Aquin 1962

Rezensent:

Kühn, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 5

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Seinsbegriff auch in sich selbst nicht einheitlich sei, sondern ein
Ordnungsverhältnis von Gott und Geschöpf umfasse, lehnt
Anglicus sogar ausdrücklich ab (128 f.). Dafür gibt er die interessante
Begründung, daß man sonst mit Heinrich von Gent eine
angeborene Gottesidee annehmen müsse (129), was dem Tho-
misten noch weit schrecklicher ist als die Seinsunivozität.

Sehr viel entschiedener, wie Schmaus zeigen kann, hat Thomas
von Sutton in ßeinen Quaestiones ordinariae (von denen
q. 32—34 als Kernstück des Textanhangs erstmals gedruckt werden
, p. 24—104) und in seinem nach 1313 verfaßten Werk gegen
Robert Cowton (105—124) zur Lehre des Duns Scotus Stellung
genommen. Letzteres richtet sich überhaupt mehr gegen Duns als
gegen Cowton, der im Unterschied zu Duns die Äquivokation
des Seins verfochten hat (12 f.). Thomas von Sutton erörtert die
Argumente und Lösungen des Duns Scotus sehr scharfsinnig und
ausführlich. Er bestreitet — i. U. zu Thomas Anglicus — schon die
scotische These von der begrifflichen Einheit des Seins. Es ließe
sich zeigen, daß er sich dabei weithin auf der Linie Sigers von
Brabant bewegt. Einmal scheint Sutton direkt gegen Thomas
Anglicus Stellung zu nehmen: Die Frage laufe Duns gegenüber
nicht nur auf einen Streit um Worte hinaus (q. 32 a, p. 55).
Schmaus stellt mit Recht fest, daß die hier vertretene Meinung,
Sachverhalte, die nur in einem Ordnungszusammenhang miteinander
stehen, könnten nicht durch einen univoken Begriff
zusammengefaßt werden, „eine beträchtliche Abweichung von
Thomas von Aquin" bedeutet und zum engeren Univozitäts-
begriff des Aristoteles zurücklenkt (22). Es zeichnen sich hier,
durch die Frontstellung gegen Duns bedingt, Anfänge eines
,,Thomismus" ab, der sich von Thomas selbst unterscheidet, und
zwar nicht nur so, daß man über ihn hinausgeht, sondern auch so,
daß man ,,zu ihm in Einzelheiten in Gegensatz tritt" (23). Dabei
hat Schmaus die im Blick auf die spätere thomistische Analogielehre
folgenschwerste Verschiebung gegenüber Thomas, die sich in den
Quaestionen des Thomas Sutton findet, noch nicht einmal hervorgehoben
: Während bei Thomas selbst die Analogie vorwiegend
als Ordnungsverhältnis (ad unum) gedacht wird, rückt jetzt die
Proportionalität in den Mittelpunkt des Interesses, die bei Thomas
nur vorübergehend, in der zweiten Hälfte des Sentenzenkommentars
und in De veritate, zur Erläuterung hinzugezogen
worden war. Jetzt wird von einer eigentümlichen Erkenntniskraft
der Proportion im Unterschied zur Kausalanalogie, die Duns als
für die natürliche Gotteserkenntnis nicht zureichend kritisiert
hatte, gesprochen (quaest. ord. 33 ad 6, p. 82). Damit begegnet
zum ersten Male im jungen Thomismus die Bevorzugung der
Proportionalität vor der mehr neuplatonischen Kausalanalogie.
Hier bahnt sich bei Thomas Sutton an, was Cajetan vollenden
wird. Schon Thomas Sutton nennt die proportionalen Sachverhalte
,,propriissime analoga" (q. 33 resp., p. 78).

Daß unter diesen Umständen Thomas Sutton und Thomas
Anglicus nicht gut ein und dieselbe Person sein können, wie
früher gelegentlich vermutet wurde, hat Schmaus mit Recht konstatiert
. Das wird durch die hier angedeuteten ergänzenden Beobachtungen
nur weiter erhärtet. Man darf gespannt sein auf die
von Schmaus angekündigten Untersuchungen darüber, wer jener
Thomas Anglicus eigentlich war (22), sowie auf die ebenfalls angekündigten
weiteren Editionen von Quaestionen aus jener Zeit,
die sich mit den hier vorliegenden Fragen beschäftigen.

Wuppertal Wolfharl Pannenbeif

Chenu, M.-D., O. P.: Das Werk des Hl. Thomas von Aquin. Vom

Verfasser durchges. u. verbess. deutsche Ausgabe. Übers., Verzeichnisse
u. Ergänzung d. Arbeitshinweise v. Otto M. Pesch OP.
Heidelberg: Kerle f Graz-Wien-Köln: Styria [i960]. (20), 451 S. 8°
= Die Deutsche Thomas-Ausgabe, 2. Ergänz.-Bd. Lw. DM 24.80.

Es war ein glücklicher Gedanke, das hier anzuzeigende
Werk, das in der französischen Originalausgabe unter dem Titel
„Introduction ä l'etude de saint Thomas d'Aquin" im Jahre
1950 in Paris erschien, in deutscher Übersetzung als 2. Ergänzungsband
der deutschen Thomasausgabe herauszugeben und somit
einem breiteren deutschen Leserkreis zugänglich zu machen.
Denn diese reife Arbeit des um die Erforschung des mittelalterlichen
Denkens und insbesondere des Werkes des Thomas so
verdienten bekannten Autors und Präsidenten der Societc tho-

miste ist inzwischen bereits zu einer Art Standardwerk der
Thomasforschung geworden. Darin liegt seine besondere Qualität
; denn der Entstehung und Absicht nach handelt es sich um
neubearbeitete „Elementarvorlesungen" zur Einführung von
Studenten in Werk und Geist des Thomas (S. (17)) — Josef
Pieper hat gemeint, „daß es im Augenblick keine bessere, zugleich
historische und systematische Einführung in Thomas
gibt" (Hinführung zu Thomas von Aquin, München 1958,
S. 20) —, und doch bringt das Buch gleichzeitig in zusammenfassender
, durch Klarheit der Sprache und Gedankenführung
ausgezeichneter Form eine Position gegenwärtigen Thomasverständnisses
zum Ausdruck, die aufgrund ihrer Fundierung in
ausgedehnten eigenen Einzeluntersuchungen von größter und, wie
sich seit dem ersten Erscheinen gezeigt hat, teilweise grundlegender
Bedeutung für die gegenwärtige Thomasforschung geworden
ist.

Diese „Einführung" will das Werk des Thomas in 6eine
kulturelle und geistige Umwelt hineinstellen und aus ihr verständlich
machen. Sie „gründet auf der Überzeugung, daß die
Werke eines Genies in ihrem Charakter und in ihrem Wahrheitsgehalt
und damit in dem Verständnis, das wir von ihnen gewinnen
können, eng verwachsen sind mit der Gesellschaft, in
der sie wurzelten, und selbst über diese Gesellschaft hinaus
Frucht trugen. Es besteht keine Kluft zwischen der dem Geiste
inneren Wahrheit und den Bedingungen seiner Betätigung, sondern
im Gegenteil ein beständiges Sich-Durchdringen zum Vorteil
beider . . . Das Werden und Arbeiten eines Meisters der
Theologie zu beobachten, wie es sich vollzieht in einem Jahrhundert
, wo Theologen und Theologie nicht geschieden waren
von der ,Welt', von ihren Gegebenheiten, ihrer Technik,
ihrer Kultur, das ist ein großartiges Schauspiel und eine Lehre
für den, der in der Folgezeit die Theologie in der Verbannung
vergeblich .für ihr Recht eifern sieht" (S. (18)).

Unter diesem Vorzeichen geschrieben, gliedert sich das Buch in
zwei Hauptteile: I. Das Werk (Kap. 1—5); II. Die Werke (Kap. 6—12).
Kap. 1 „Das Werk in seiner Umwelt" (S. 3—82) zeigt anhand der sidi
im 12. und 13. Jahrhundert ncubildenden Stadtsdiulen und Universitäten
, anhand der allgemeinen Renaissance der griechischen Kultur,
insbesondere des Aristoteles, und anhand der Bettelordcn und der
evangelischen Bewegung im 13. Jahrhundert, wie Thomas mit seinem
Werk in jeder Weise am Brennpunkt des geistigen und zugleich gesell-
sdiaftlichen Fortschritts der damaligen Zeit stand. Das Werk des
Thomas trifft hier „nicht nur auf die äußeren Vorbedingungen seiner
Entfaltung, nicht nur auf den polemischen Anlaß, der es entstehen
läßt, sondern findet die geistige Welt, die es allseitig umgreift und
durchdringt, den gewadiscnen Kontext, in dem es heute seine historische
Verständlichkeit gewinnt, so wie es damals bei seiner Entstehung
dort das Klima für seine Fruchtbarkeit fand" (S. 5). Kap. 2
..Die Werke und ihre literarischen Gattungen" (S. 83—107), Kap. 3
,,Sprache und Wortschatz" (S. 108—137) und Kap. 4 „Die Dokumentationsverfahren
" (S. 1 38—174) analysieren im Rahmen seiner Zeit die
Darstellungsmittel und -demente des Thomas, während Kap. 5 „Die
Konstruktionsverfahren" (S. 175—226) „mitten innerhalb des damals
herkömmlichen Apparates ... die inneren Initiativen des Geistes"
(S. 175) und Konstruktionsprinzipien herausarbeitet, die die Gestalt
des Werkes des Thomas bestimmen. Im II. Hauptteil gibt der Verf.
eine Einführung in die einzelnen Werke bzw. Werkgruppen des Thomas
: Kap. 6 „Die Kommentare zu Aristoteles und Dionysius" (S. 229
—262). Kap. 7 „Die Kommentare zur Heiligen Schrift" (S. 263—297),
Kap. 8 „Die Kommentare zu Petrus Lombardus und Boethius" (S. 298
—316), Kap. 9 „Die Quaestiones di6putatae" (S. 317—324), Kap. 10
„Die Summa contra Gentiles" (S. 325—33 5), Kap. 11 „Die Summa
Theologiae" (S. 336—365). Kap. 12 „Die Opuscula" (S. 366—391),
abschließend mit einem Abschnitt „Thomas als Dichter" (S. 390 f.).
Der im I. Hauptteil gezeichnete Hintergrund der geistigen und gesellschaftlichen
Umwelt dient in den einzelnen Kapiteln des II. Hauptteiles
zur Erhellung der verschiedenen Arten von wissenschaftlichen
Werken, die uns aus der Feder des Thomas überliefert sind. Auf diese
Weise wird der auf den ersten Blick fast eintönig geschlossen wirkende
Charakter des literarischen Werkes des Thomas in seiner Differenziertheit
und in seiner jeweiligen Verwurzelung im zeitgenössischen
Wissenschaftsbetrieb deutlich, „man begegnet dem wirklichen Thomas,
dem Menschen, dem Christen, dem Philosophen, dem Dominikaner"
(Vorwort des Übersetzers, S. (10)). Die einzige vom Verf. vorgenommene
inhaltliche Änderung gegenüber der französischen Ausgabe (in
Kap. 9, S. 317 ff.) betrifft auch speziell diese Verwurzelung im zeitgenössischen
Wissenschaftsbetrieb: während er ursprünglich die traditionelle
Ansicht geteilt hat, jeder Artikel der Quaestiones disputatae