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Ausgabe:

1962 Nr. 4

Spalte:

297-299

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Köster, Reinhard

Titel/Untertitel:

Die Kirchentreuen 1962

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 4

299

bei einem so zeitabhängigen Ereignis nicht ganz präzis auch die Zeitangaben
festhält. Man sollte gerade bei der Darstellung der 60 häufig
wechselnden Formen der Verwahrlosung, die eben von vielen Faktoren
bestimmt wird, ganz streng Zeit und Umwelt benennen. Sonst werden,
wie das bei diesen Arbeiten leider häufig vorkommt, Feststellungen
literarisch weitergetragen, die nicht mehr aktuell sind. Jede Arbeit über
diese Probleme hat in dem phänomenologischen Teil immer nur eine
kurze Zeit Gültigkeit. Die Ableitungen sollten das Wesenhafte herausheben
. In diesem Zusammenhang würden einige Fragen im Blick auf die
M.iterialverwendung zu stellen sein.

Die Literaturangaben sind außerordentlich umfangreich und bis in
die Gegenwart durchgezogen. Es ist auch erfreulich, daß die Literatur
von Gottschaidt, Berlin, dessen Beiträge sehr beachtlich sind, herangezogen
worden ist. Diese nachprüfbare Verwendung stärkt das Vertrauen
zu anderen Titeln.

Die vorliegende Arbeit wird für den Pädagogen wichtig
werden, wenn er seine Erziehung nicht nur vom Erziehungsziel
her leisten möchte, sondern auch von dem Kontrapunkt
, den die Tatsache der Verwahrlosung allem Erziehungswillen
gegenüber bedeutet. Das Problem der Verwahrlosung ist
eine heilsame Erinnerung auch an die Grenzen der Erziehung,
gleichzeitig auch ein besonders starker Appell an die Kräfte der
Liebe, und es ist wohl richtig, daß in diesem Zusammenhang eine
Begegnung zwischen „menschlicher Verantwortung und göttlicher
Gnade" (117) 6ich ereignet.

Leipzig Heinz Wagner

Köster, Reinhard, Dr.: Die Kirchcntrcucn. Erfahrungen und Ergebnisse
einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen
evangelischen Kirchengemeinde. Mit einer Einleitung v. H. Schclsky.
Stuttgart: Enkc 1959. XVI, 118 S. m. 46 Tab. gr. 8° Soziologische
Gegenwartsfragen, N. F. Nr. 6, hrsg. v. C. jnntke. L. Neundörfer,
H. Schelsky. Kart. DM 20.-.

oldschmidt, Dictridi, G r e i n e r, Franz, u. Helmut Schelsky
[Hrsg.]: Soziologie der Kirchcngcmcindc. Stuttgart: Enke 1960.
VIII, 256 S. gr. 8° Soziologische Gegenwartsfragen, N. F., hreg.
v. C. Jantke, L. Neundörfer, H. Schelsky. Kart. DM 29.—.

Die Fclduntersuchung Kösters ist in einer ungenannten
Großstadtgemeinde in der Nähe Hamburgs durchgeführt,
in der rund 21000 Evangelische wohnen. Die Kirchentreuc
wurde an der handfesten Norm des mindestens einmal im Monat
erfolgten Kirchenbesuchs gemessen, nicht an vagen und
schwankenden Gesinnungswerten. Man suchte und fand die
Kirchentreuen unter den Abcndmahlsgästen, den kirchlichen
Mitarbeitern, den Mitgliedern der Gruppen und Vereine und
von den Gemeindcpastoren namentlich Genannten. Man kam
auf die Zahl 540, von denen 422 interviewt wurden. Bei der
Durchführung der Arbeit zeigte sich, daß die 422 nicht alle die
zugrunde gelegte Norm erfüllten, also nicht zu den Kirchentreuen
im Sinn der Untersuchung zählten: ihre Antworten aber
lind ausgewertet. So ernüchternd schon dies erste Ergebnis ist,
so wichtig ist es. Der fast totale Zusammenbruch evangelischer
Kirchlichkeit wird noch viel zu sehr illusionär verhüllt.

Die Hauptergebnisse sind methodisch und materiell wertvoll
. Es wird ausführlich dargelegt, wie der im Wortlaut mitgeteilte
Fragebogen durch Versuchsbefragungen seine endgültige
Gestalt bekam. Warum und in welcher Richtung er vereinfacht,
auf welche Sugge6tivgefahren und Empfindlichkeiten Rücksicht
genommen werden mußte, ist äußerst lehrreich. Nachfolgende
verwandte Untersuchungen werden hier bei dem Pionieruntcr-
nehmen zu lernen haben. Materiell ist zweierlei besonders
bemerkenswert: die biographischen Angaben der Interviewten
- man erfährt, wer aus alteT Tradition, aus wiederhergestellter
Tradition und aus neugewonnener Kirchlichkeit lebt (s. Tabelle
20 auf S. 60!) - und die Antworten auf die vorgelegten Fragen
. Wir müssen uns mit drei Beispielen begnügen. Die Frage:
■■Wie stellen Sie sich einen guten Pastor vor?", wird am häufigsten
so beantwortet, daß er einen guten Charakter haben und
sittliches Vorbild sein soll. Die nächst höchste Punktzahl erficht
die Antwort, er müsse gut predigen können. Fast ebensooft
heißt es, er müsse menschlich und wertlich, nicht pastoral
«ein. In abgestufter Folge findet man dann die folgenden Antworten
: guter Seelsorger, guter Kontakt mit der Gemeinde,
tolerant, nicht fanatisch, modern. Am seltensten heißt es, er

und liberale Urteile in buntem Gemisch! — Die zweite von uns
hervorgehobene Frage lautet: „Können Sie sagen, aus welchen
Gründen Ihnen ein Gottesdienst in der Kirche — im Radio —
lieber ist?" Die Kirchentreuen entscheiden sich in der Mehrheit
für den Gottesdienst in der Kirche; dort sei man ungestört, die
Stimmung sei feierlicher, man hätte Gemeinschaft, man liebe
die alte Gewohnheit u. ä. Aber ein hoher Prozentsatz sagt auch,
im Radio wären Predigt und Gottesdienst oft besser. — Dritte
Frage: „Wie würden Sie es mit Ihren Worten ausdrücken, was
ein Christ ist?" Die Antwort „Glaube an Vergebung und Erlösung
durch Christus" kommt häufiger vor, ak z. B. der Rezensent
erwartet hat. Damit werden Forschungsergebnisse von
Lajos Veto und W. Gruen („Die Frömmigkeit der Gegenwart",
1956, S. 250 ff.), nach denen der Rechtfertigungsglaube in der
Volksfrömmigkeit gestorben 6ei, verglichen werden müssen.
Charakteristisch 6ind die Antworten: „Gottes Wort in die Tat
umsetzen, danach leben", „kein Egoismus, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft
", „ordentlicher Lebenswandel", — sie erreichen die
höchsten Punktzahlen. Der Verf. dürfte mit der Aufgliederung
und Ausdeutung dieser Antworten nicht immer auf der richtigen
Fährte sein. Die Aufgliederung (ll4f.) folgt den dogmatischen
Normen Kösters (Reihenfolge: Glaube an Vergebung
und Erlösung durch Christus, Glaube an göttliche Führung,
Glaube an die Bibel, Demut.. .). Damit tritt eine dogmatische
Bewertung ins Spiel, die nach dem Programm Schelskys (s. Vorwort
!) und seines Schülers ausbleiben sollte. Schwerer wiegt
u. E., daß Köster keine zureichende Kenntnis vom Wesen der
Volksfrömmigkeit zu haben scheint. In ihr behauptet sidi bis
zum heutigen Tag die Vorstellung, daß „fromm" primär kein
religiöser, sondern ein sittlicher Begriff ist und soviel wie
Rechtschaffenheit bedeutet. Es dürfte unzureichend sein, hier
abwertend nur von einer Moral zu reden, welche „die kulturellen
Selbstverständlichkeiten der ständisch-obrigkeitlichen Gesellschaft
voraussetzt" (77). Im Urteil des werkenden Christen
fiel immer und fällt noch heute der Akzent auf die Bewährung
des Glaubens durch die Tat. Das wurde und wird in der Bibel
wiedergefunden (Rö. 2 v. 6), dazu erzogen in der Väterzeit die
besten Andachtsbüdier.

Aus dem reichen Inhalt sei noch mitgeteilt, daß nach
Kösters Annahme zwei verschiedene Geschichtsprozesse mit-
und gegeneinander wirken: ein volkskirchlich-parochial und ein
vom neuzeitlichen Gemeinschaftsgedanken her bestimmter. Dem
wird zuzustimmen sein. Verschiedenheiten im praktisch-kirchlichen
Verhalten und in den grundsätzlichen Aussagen sind von
daher mit zu begreifen. Sehr nachdenklich muß stimmen, daß
die in frommen Kreisen zu beobachtende Nonnverschärfung
(z. B. in der Forderung häufigen Abendmahlsganges) auf die
Lauen nicht anfeuernd, sondern lähmend wirkt und damit die
Gruppe der Kirchentreuen noch mehr als bisher isoliert.

Die anregende, nüchterne, illusionslosc Untersuchung sollte
viele aufmerksame Leser finden. —

Daß die Soziologie der Kirchengemeinde noch damit beschäftigt
ist, die Wege zu bahnen, und daß sie überlegt vorgeht
, zeigt das von Goldschmidt, Greiner und
Schelsky herausgegebene Sammelwerk, das seinem gesamten
Umfang nach ein Forschungsbericht ist, auf den kein Mitarbeitender
in Zukunft verzichten kann. In einem I. Teil („Internationaler
Stand der Soziologie der Kirchengemeinde") behandelt
nur der erste Aufsatz Grundsatzfragen (J. Freytag, Aufgaben
und Methoden der empirischen Erforschung von Kirchengemeinden
), während nachfolgende sechs Aufsätze über den
Stand der katholischen und evangelischen Forschung in Westeuropa
, Holland, England, Nordamerika und über die jüdische
Gemeinde in der Diaspora informieren. Teil II und III handeln
von der Forschung in Deutschland unter Einschluß Österreichs.
Uberraschenderweise ist die Arbeit hier nicht allein von Deutschen
, sondern auch von Amerikanern betrieben, — wir erfahren
von ihr durch die „Reutlingen-Studie", welche die Kirchengemeinde
in der entkirchlichten deutschen Gesellschaft untersucht
und zu einer Theorie der Entkirchlichung vordringt, und
durch den Beitrag Th. Luckmanns über vier protestantische

deutsche Kirchengemeinden in verschiedenen Gegenden Wpot

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solle würdig, d. h. nicht weltlich sein. Orthodoxe, pietistischc deutschlands; d,e Forschungen hier waren durch Gelder der