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Ausgabe:

1962 Nr. 4

Spalte:

289-290

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Haag, Karl Heinz

Titel/Untertitel:

Kritik der neueren Ontologie 1962

Rezensent:

Echternach, Helmut

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Seite 1

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289 Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 4 290

Haag, Karl-Heinz: Kritik der neueren Ontotogie. Stuttgart: Kohlhammer
(i960]. 95 S. 8°. Kart. DM 9.60.

Mit ,,neuere Ontologie" ist die Zeit nach Hegel gemeint
und in ihr speziell S u a r e z und seine Schule, der Neuthomismus
und die Phänomenologie, wähend der Positivismus nur gestreift
wird. Die Auseinandersetzung beginnt mit einem Rückblick auf
•das Mittelalter und die dort verborgenen Wurzeln der neuzeitlichen
Probleme. Das ungelöste Problem des Mittelalters waT
nach Meinung des Verfs. „die Individuation des Wesens" (S. 52),
das ungeklärte Verhältnis von Begriff und Individuum, von universale
und res. Dabei erweisen sich die beiden extremen Lösungen
— BegrifFsrealismus und Nominalismus — als einseitig:
Der Nominalismus übersieht, daß auch eine nachträgliche Begriffsbildung
vergleichbare Momente voraussetzt, die in den Dingen
vorhanden 6ein müßten; er beruht wie der Begriffsrealismus auf
der ungeprüften Voraussetzung, daß ..intellectus und res unabhängig
voneinander existierten" (12). „Der Chorismos zwischen
Denken und Wirklichkeit wurde so ins Denken selbst hineinverlegt
und dadurch verdeckt" (22). Bei Thomas von Aquino
dagegen meint Verf. Ansätze zu einer Überbrüdcung dieses
Gegensatzes zu finden — bes. in der Idee der „essentia singula-
ris" (16 u. ö.). Auch Descartes fand keine Lösung; er suchte im
Grunde wie das Mittelalter nach dem Objektiven, vom Subjekt
unabhängig Geltenden — nur daß an die Stelle der Autorität die
Evidenz und an die Stelle der hingenommenen Wahrheit der
methodische — aber nicht ernst gemeinte — Zweifel trat (26). An
dieser Stelle erscheint mir die Schlußfolgerung des Verfs. — „Der
Sdiluß Descartes', res cogitans und res extensa seien Substanzen
, weil Denken und Ausdehnung der Träger bedürften, ist ein
Zirkel" — zu abrupt, um überzeugend zu wirken; er gilt jedenfalls
nur unter der Voraussetzung der von vornherein kritiklos
als Norm zugrundegelegten Hcgelschen Ontologie (s. u.).

Hier, bei Hegel, sieht Verf. die Lösung: „die Vermittlung
von Subjekt und Objekt" (58), mit der zugleich das offene Problem
des Mittelalters, die Frage nach dem realen Sein der Universalien
und nach deren Verhältnis zum Individuum seine Erledigung
findet. Indem man so essentia communis und res singu- | ten würde?

Die Abwendung von dem Universalienrealismus ging im Mittelalter
parallel mit dem wachsenden Individualismus, der Emanzipation
der Nationalstaaten, der Territorialherrschaften und
schließlich der Einzelnen aus den übergreifenden Zusammenhängen
von Kirche und Imperium (bes. S. 21, 24) - dem aufkommenden
bürgerlichen Zeitalter. Diese Zusammenhänge sind
zweifellos richtig gesehen; auf sie aufmerksam gemacht zu haben
ist ein Verdienst dieses Buches (ähnlich hat allerdings 6chon
Rösel in „Größe und Tragik des christlichen Europa" diese Parallelen
beleuchtet). Wichtig ist dabei auch der weitere Hinweis,
daß der Zerfall der mittelalterlichen Ordnungen und der ihn
bewirkende Individualismus keineswegs zur Freiheit führten,
sondern zur Knechtschaft unter neuen, mehr anonymen Gewalten
: dem Absolutismus des Obrigkeitsstaates oder der „selbstherrlichen
Ökonomie" (24). Die Hegekchc „Vermittlung" zwischen
Subjekt und Objekt entspricht dagegen einer Gesellschaft,
Jn der der Gegensatz von Herrschaft und Beherrschten im
Grunde überholt" ist (28). Dementsprechend wird die Ontologie
der Zeit nach Hegel gesehen als philosophische Parallele zur
Restauration (37); die „Fundamentalontologie", d.h. alles auf
der transsubjektiven Realität des Seins basierende Denken dient
• der Negation der Menschlichkeit" (83).

De prineipiis non disputandum — das dürfte auch von
Grundsatzentscheidungen dieser Art gelten. Statt einer eigentlichen
Auseinandersetzung sollen 4 Fragen an den Verf. versudit
werden:

1. ) Wie ist in seiner Sicht das naturwissenschaftlidi-
materialistische Denken des 19. Jahrhunderts zu beurteilen, das
dem Denken ein materielles Sein überordnet? Fällt es auch
unter das Verdikt „Restauration"?

2. ) Was erwidert Verf. auf den grundsätzlichen Protest
Kierkegaards gegen Hegels „Vermittlung" von Subjekt und Objekt
und von einzeln und allgemein — daß das die Vergewaltigung
des einzelnen Menschen, seine Einschmelzung in das Überpersönliche
, seine Unterwerfung unter die Diktatur der anonymen
Masse und damit die Vernichtung der Individualität bedcu-

laris als in sich dialektische Momente ihrer Einheit begreift, wird
der Satz des Widerspruchs überwunden (S. 60 u.). Damit wird
das in den begrifflichen Formen „sedimentierte" Denken „erweckt
" (35), und es wird möglich, „die Mannigfaltigkeit des
Seienden zu deduzieren" (73) und so zu einer Philosophie von
stringenter Beweisbarkeit zu gelangen. Der Mangel einer solchen
Beweisbarkeit ist in methodischer Hinsicht der Vorwurf des
Verf. an die Nachhegelsche Pilosophie. Zumal die Phänomenologie
erscheint als ein Konglomerat willkürlicher Behauptungen.
'.Fundamentalontologie" ist für ihn getarnter Nominalismus:
willkürliche Begriffsbildung (8 3). Proton Pscudos aller Nach-
hegelschen Philosophie ist „die scholastische Lehre von der Priorität
des Seienden vor der Erkenntnis" (64).

Damit wird deutlich, auf welchen Voraussetzungen die gesamte
Kritik des Verfs. beruht: auf der ohne Diskussion und
ohne Bemühung um einen Wahrheitsnachweis vorausgesetzten
Ontologie Hegels. Dieser Vorwurf trifft den Verf. allerdings nur
insofern, als er die Inkonsequenz seines Standpunkts aufdeckt;
vom Standpunkt der gegenwärtigen, namentlich der phänomenologischen
Philosophie her wäre die Gegenfrage möglich, an welchen
Maßstäben und von welchen absolut geltenden und eindeutig
erkennbaren Normen her denn überhaupt derartige fundamentale
Ansätze gemessen werden könnten. (Die vom Verf. angeführten
Postulatc einer Ableitbarkcit de6 Individuellen aus
dem Allgemeinen (74) und der grenzenlosen wissenschaftlichen
Durchklärbarkeit des Seienden dürften wohl keinesfalls allgemeine
Anerkennung finden.) Aber das spricht gerade für die
Phänomenologische Methode und die in ihr enthaltene Selbst-
hescheidung: aufweisen statt beweisen (demonstrare statt argu-
CTe), weitestmögliche Aufhellung des umweltlichen Seienden in
dem Wissen, daß dabei nur einzelne Schneisen ein Stück weit in
das irrationale Dunkel vorgetrieben werden können, das uns
"mgibt.

Wenn so der vom Verf. gelegentlich erhobene Vorwurf
des Zirkels auf ihn selbst zurückfällt, so werden andrerseits die
tragenden weltanschaulichen Voraussetzungen umso deutlicher.

3. ) Zeigen nicht gerade Kierkegaard einerseits, die moderne
Entwicklung andererseits, daß alle Humanität das Objektive

— das „Entgegengeworfene" — voraussetzt? Der Mensch bleibt
Mensch nur in der Begrenzung durch das gebietende und richtende
Gegenüber; sobald er sich verabsolutiert, wird er unmenschlidi,
Despot und Sklave zugleich. Das gilt auch von seinen Erkenntnisansprüchen
. Die Wirklidikeit ist überall vom Irrationalen durchzogen
, und vom Menschen selbst gilt heute wie je das alte Wort
Heraklits: „Der Seele Grenzen kannst du nicht ermessen, wenn
du jeden Weg abschrittest, einen so tiefen Logos hat sie."
Nichts ist unmenschlicher, ab das Geheimnis des Menschen auflösen
zu wollen. Kommt der Thomismus nicht näher an das 6tete
Geheimnis des Individuellen heran, wenn er die Individualität

— im Gegensatz zur platonisierenden Philosophie des frühen
Mittelalters — nicht ausschließlich aus den Akzidentien ableitet,
sondern hier die (aristotelisch als potentia, nicht materialistisch
als ein Absolutum verstandene) Materie einschaltet als das immer
irgendwie irrationale Prinzip der Möglichkeit?

4. ) Hinter dem Problem des Universalienrealismus sowohl
wie hinter dem Anliegen ontischcr Objektivität überhaupt steht
ein ontologischer Fundamentalansatz, in dessen Verlust vielleicht
die letzte Ursache für den Zerfall der mittelalterlichen Einheit
und für das chaotische Gegeneinander der neuzeitlichen Weltanschauungen
zu suchen ist: die von Augustin bis zu Thomas
von Aquino feststehende Gleichung „esse = bonum esse";
■ Sein ist Wertbegriff". Erst ein absolut gewordenes, wertfreies,
nicht mehr als Ausstrahlung Gottes verstandenes Sein wird als
einengend empfunden und reizt zur individualistischen Auflehnung
— mit allen ihren Konsequenzen. Liegt nicht hier der wahre
Ansatz zur Überwindung des Gegensatzes von „Herrschaft und
Beherrschten"? Hier ist m. E. der Schlüssel für die Geschichte der
Neuzeit, für ihre Probleme und deren Lösung. Hier ist zugleich
der Punkt, wo die philosophischen Probleme in das theologisdie
Gebiet hinüberweisen.

Hnmburj Helmut Echternach