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Ausgabe:

1962 Nr. 4

Spalte:

279-281

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Middendorff, Friedrich

Titel/Untertitel:

Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche 1962

Rezensent:

Mülhaupt, Erwin

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 4

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bildet nach der Ansicht des Verfassers mit Recht eine Schwäche
in Schleiermachers Programm der kirchlichen Erneuerung.

Bei Schleiermacher und der Brüdergemeine erreichen die
Gedanken der ständig vor sich gehenden Reformation den
Höhepunkt. Was darauf folgt, bedeutet ein Zurückgehen auf
die eine oder andere Weise. Die Repräsentanten des Kulturprotestantismus
(Marheineke, Baut, Rothe, Strauß) eifern für
Erneuerung, indem sie die Kirche restlos in den Staat aufgehen
lassen oder auf irgendeine Art aufgelöst werden lassen, aber
hier, wie der Autor es tut, von Erneuerung, Reformation zu
sprechen, erscheint doch eigentümlich. Für die konfessionell
lutherische Theologie (die Erlanger Schule, Stahl, Löhe, Kliefoth,
Vilmar) wendet der Autor eine Reihe von Gesichtspunkten an,
die früher in der Literatur dargestellt wurden, ohne daß es dem
Leser jederzeit klar wird, was er selbst gefunden und was er
von anderen übernommen hat. Man entbehrt auch ein tieferes
Verständnis für die Aufrechterhaltung von Bibel und Bekenntnis
in dieser Theologie. Die Nuancen zwischen den behandelten
Theologen verschwinden, und die Urteile des Autors werden
oft allzu übertrieben. Daß z. B. Claus Harms schon 1817 „knapp
und deutlich" das ganze Programm des Neuluthertums formuliert
haben soll, ist nicht richtig. Die Kritik des Autors bezüglich
dieser Theologie ist, daß die Kirche dort eine besitzende
Kirche geworden war, deren vornehmstes Eigentum, das reine
Bekenntnis, es zu bewahren galt. Die konfessionellen Theologen
hatten aber selbst einen ganz anderen, realistischen Blick für
die Problematik von Wort, Bekenntnis und Kirche. — Der letzte
Abschnitt des Buches faßt eine Reihe disparater Erscheinungen
zusammen, Vermittlungstheologie, Erweckungsbewegung, Bibli-
zismus und J. H. Wicherns Theologie, — alles unter dem gemeinsamen
Titel ,.Kirche und Volk". Die Erneuerung der Kirche
wurde hier nicht vom Wort veranlaßt, sondern der Richtpunkt
der Erneuerung wurde die religiös-sittliche Aufgabe der Kirche
dem Volke gegenüber. Die Darstellung mündet in den Schlußsatz
, daß eine wirkliche Kirchenerneuerung erst zustande kommen
kann, wenn die Gemeinde sich zum Wort umwendet und
das ewige Evangelium umfaßt.

Das Buch gibt Anlaß zu sowohl kritischen Reflexionen
als auch zum Nachdenken. Wenn eine Kirchenerneuerung angestrebt
werden soll, muß man Klarheit darüber schaffen, wohin
sie zielt und was sie umfassen soll. Daß von einem Abschnitt
der Thcologiegeschichtc des Protestantismus diese Fragestellungen
Leben erhielten, ist das Verdienst des Buches.

Upptala Holsten Ka jre r b e r £

Middendorf f, Friedrich: Der Kirchenkampf in einer reformierten
Kirche. Geschichte des Kircheakampfes während der nationalsozialistischen
Zeit innerhalb der Evang.-reform. Kirche in Nordwestdeutschland
(damals: Evang.-reform. Landeskirdie der Provinz Hannover
). Güttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961. 182 S. gr. 8° —
Arbeiten z. Geschichte d. Kirchenkampfes, hrsg. v. K. D. Schmidt,
Bd. 8. DM 13.80.

Die vorliegende Arbeit ist der 8. Band einer Reihe von
.Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfs', die im Auftrag
einer Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland für
die Geschichte des Kirchenkampfs in Verbindung mit Heinz
Brunotte und Ernst Wolf von Kurt Dietrich Schmidt herausgegeben
werden. Wie Band 2, 4 und 9 befaßt sie sich sozusagen
mit einem provinziellen Ausschnitt dieses Kampfs und läßt also
die persönliche lokale und landeskirchlichc Eigenart desselben
in der Evang. - reformierten Landeskirche Hannovers erkennen.
Diese Eigenart der Arbeit wird noch dadurch unterstrichen, daß
der Verfasser 6elbst in vorderster Front am KiTchenkampf in
diesem Gebiet beteiligt war und infolgedessen von 1946—1956
Kirchenpräsident daselbst gewesen ist. Diese Tatsache, daß der
Verf. insofern ganz erheblich auch in eigener Sache spricht,
braucht an 6ich den Wert der Darstellung durchaus nicht herabzumindern
. Man hat ja z. B. in den Lebenserinnerungen des
württembergischen Landesbischofs Wurm oder in den Tagebüchern
Jochen Kleppers lehrreiche Beispiele höchstpersönlicher
Aspekte des Kirchenkampfs, die aber doch das Ganze der evangelischen
Kirche in Deutschland und das Ganze des damaligen
deutschen Schicksals immer im Blickfeld behalten und dadurch
an Überzeugungskraft gewinnen.

Die Arbeit ist in zwei Teile geteilt, die in einem unbefriedigenden
Raumverhältnis zueinander stehen: 47 Seiten Darstel-
. lung und 184 Seiten Dokumente. Das Mißverhältnis wird noch
| dadurch erhöht, daß die Darstellung zwar in 12 Abschnitte eingeteilt
ist, aber keiner dieser 12 Abschnitte trägt eine charakterisierende
Überschrift; der Leser muß 6ich diese Überschriften
selber machen und kann dabei natürlich nicht sicher sein, ob er
die Meinung des Verfassers trifft; gerade bei der Sonderdarstellung
eines einzelnen Kirchengebiets müßte der Verf. diese
Hilfe leisten. Schließlich leidet die Darstellung auch darunter,
daß sie 1939 sozusagen abbricht, denn über die ganze kirchliche
Entwicklung von 1939—1945 finden sich auf S. 44 nicht mehr
als 3 Zeilen des Inhalts: „Unsre Landeskirchenleitung schloß
6ich im Jahr 1943 den Einigungsbestrebungen des Landesbischofs
Wurm und seinen 1.3 Sätzen über .Auftrag und Dienst der
Kirche' an"; die Kürze dieser Notiz hängt natürlich damit zusammen
, daß der Verf., der dem radikalen Flügel der Bekennenden
Kirche angehörte, diesen Anschluß mehr oder weniger
bedauerte, ja, diese Haltung seiner Landeskirche für ,,in gewisser
Weise gefährlicher als die der DC" (S. 181) hielt. Vielleicht
hängt die Spärlichkeit der Darstellung der Jahre nach 1939 auch
einfach damit zusammen, daß der Verf. von 1938—1945 nicht
mehr im Lande war, sondern in Hamburg-Altona (S. 3 8 und 44).
vielleicht ist auch die Auseinandersetzung zwischen der am
30. Nov. 1934 entstandenen „Bekenntnisgemeinschaft innerhalb
der Evang.-reform. Landeskirche der Provinz Hannover" und
der amtlichen Kirchenleitung dieser Landeskirche etwa 1939 in
eine Art Waffenstillstand oder einen Zustand stillschweigender
gegenseitiger Distanzierung und Ignorierung übergegangen, und
von da an hört für F. Middendorf das Interesse am Kirchenkampf
auf; in Wirklichkeit ist der Kirchenkampf im tieferen
umfassenden Sinn des Worts doch wohl ohne Zweifel auch in
Nordwestdeutschland auch nach 1939 noch weitergegangen.

Was nun die Eigenart des Kirchenkampfs in diesem Gebiet
des reformierten Nordwestdeutschland angeht, so scheint dieselbe
erstens darin zu bestehen, daß die deutsch-christliche
Kirchenpartei in ihm von Anfang an keine nennenswerte Bedeutung
gehabt hat und von dem Landeskirchentag in Aurich
vom 24. bis 27. November 1936 an, der den DC rundweg die
Bekleidung eines kirchlichen Amts verwehrte, überhaupt keine
Rolle mehr spielte (S. 155 der Dokumente). Die Nachwirkungen
der Emdener Erweckungsbewegung von 1922 und die Tatsache,
daß in den Jahren vor 1933 die damalige Partei des Christlich-
I sozialen Volksdienstes in diesem Gebiet „zeitweilig als stärkste
Partei aus Wahlen hervorging" (S. 8), haben zweifellos nicht
unerheblich zur Immunisierung gegen die nazistische Propaganda
beigetragen. — Zweitens aber folgt aus dem Ersten fast
zwangsläufig, daß sich der Kirchenkampf der oben erwähnten
j Bekenntnisgemeinschaft, der sich von Anfang an der persönli-
' chen Unterstützung Karl Barths erfreute (S. 16 f. die Uelsencr
j Thesen, S. 79—82 ein Gutachten Karl Barths), je länger je mehr
j nicht mehr gegen die deutsch-christliche und nazistische Front.

sondern gegen die eigene Kirchenleitung, gegen den Reichs-
| kirchenausschuß Zöllners, gegen den Lutherischen Rat oder die
sogenannten „intakten" Kirchen Süddeutschlands sowie „jene
j dritte Gruppe in der Mitte" (S. 90) richtete, die alle miteinan-
! der in der Bestreitung der deutsch - christlichen Ideologie weithin
( einig waren, aber die radikale Forderung des totalen Anschlusses
I an die Bekenntnisgemeinschaft und einer sozusagen totalen
i kirchlichen Autarkie ablehnten. Fast unvermeidlich gewinnt
dadurch der Leser der Middendorfschen Darstellung den Ein-
| druck, daß hierdurch der nordwestdeutschc Kirchenkampf etwas
! von dem gesamtkirchlichen und gesamtdeutschen Horizont entbehrt
, unter dem man wenigstens anno 1960 auch einen provinziellen
Kirchenkampf sehen müßte. — Dieser Eindruck wkrd
1 drittens noch verstärkt, wenn man aus der Middendorfschen
Darstellung und vor allem auch aus den Dokumenten erkennt,
wie ernsthaft sich die damalige amtliche Kirchenleitung, also
Männer wie Koopmann und Hollweg, bemühten, die verderblichen
Einflüsse von ihrer Kirche fernzuhalten und auch mit ihrer