Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1962 Nr. 4

Spalte:

261

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bousset, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Himmelsreise der Seele 1962

Rezensent:

Weiß, Konrad

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

261

Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 4

262

bestehende Redaktionsausschuß hatte sich die Aufgabe gestellt —
und, nach den vorliegenden Veröffentlichungen zu urteilen, bisher
glänzend gelöst —, „orientalische Quellen" zu den verschiedensten
religiösen Phänomenen zusammenzustellen. Das Unternehmen
unterscheidet sich ebenso von religionswissenschaftlichen
Monographien aus dem Gebiet nur einer orientalischen Kultur
wie von religionsvergleichenden, typologischen Versuchen, die
der generellen Erarbeitung eines bestimmten religiösen Phänomens
unter gleichzeitiger Heranziehung von Material aus den
verschiedensten historischen und geographischen Bereichen gewidmet
sind. Demgegenüber sind in den vorliegenden Veröffentlichungen
die Bereiche der einzelnen orientalischen Kulturen gesondert
bearbeitet, und der Titel des jeweiligen Bandes gibt nur
das Prinzip der Auswahl für die Darstellung des religionsgeschicht-
lichen Stoffes und die diesem dankenswerterweise in reichlichem
Maße beigegebenen Übersetzungen von Originaltexten. Der Wert
der Publikationen sowohl für eine allgemeine Orientierung wie
zur Einführung in Quellenstudien ist deutlich; für letztere ist
wichtig, daß die einzelnen Beiträge jeweils gut bibliographiert
6ind. Die ihnen beigegebenen Kartenskizzen dienen in begrüßenswerter
Weise einer religionsgeographischen Veranschaulichung
, die methodisch vorbildhaft ist.

Die Themenwahl für die vorliegenden drei Bände kann
wohl als glücklich bezeichnet werden. Es war naheliegend, eine
Reihe, die, wenn sie auch nicht in enzyklopädischer Weise einen
Gesamtüberblick über religiöse Phänomene zu bieten beabsichtigt
, aber doch zentrale Erscheinungsformen des religiösen Denkens
, des Mythos und Kultus behandeln will, mit der Darstellung
kosmogonischer Vorstellungen zu beginnen. Der zweite Band ist
dann dem Gebiet der Träume und ihrer Deutungen gewidmet.
Besonders verdienstvoll erscheint mir der dritte Band; nachdem
bereits vor einigen Jahren Johannes Lcipoldt mit seinem Buche
Uk/„Von Epidauros bis Lourdes" (Leipzig 1957) eine entsprechende
Initiative ergriffen hatte, werden hier die großen Wallfahrten und
Wallfahrtsorte der orientalischen Welt behandelt.

Der Kreis der unter den jeweiligen Zentralthemen zusammengefaßten
historischen Bereiche ist weit gefaßt und reicht vom
alten Ägypten bis nach Japan. Dabei ist es bemerkenswert, daß
auch solche Gebiete zur Darstellung gebracht werden, die leider
oft zu Unrecht übersehen werden, wie Madagaskar, Laos und
Kambodscha. Als Bearbeiter der einzelnen Abschnitte waren zunächst
die Herausgeber tätig, die noch einzelne Fachleute, vor
allem aus dem Bereich der französischen Wissenschaft, heranzogen
. Eine Fortsetzung der Reihe ist geplant, vorerst mit zwei
Bänden über Jenseitsgerichte 60wie über Masken und Sakraltänze.

Heidelberg Günter La n cz kows ki

Bousset, Wilhelm: Die Himmelsreise der Seele. Sonderausgabe.
1 Darmstadt: Wisscnschaftlidie Buchgcsellschaft 1960. 83 S. 8° —
Libelll, Bd. LXXI. Hlw. DM 6.50 (Preis f. Nichtmitglieder).

Das Thema des B.sehen Aufsatzes, der 1901 im ArchfRW
erschien und nun als hübscher und handlicher „libellus" wieder
zugänglich gemacht wird, ist nach wie vor aktuell. Der weite
Kreis von Gelehrten, Lehrenden und Lernenden, der sich ständig
mit der Geschichte der Gnosis zu beschäftigen hat und sich
angesichts der Texte aus Nag Hamadi einer Flut von Problemen
Ur>d Aufgaben gegenüber sieht, wird dankbar sein, da6 reichhaltige
von B. zusammengetragene Material 60 bequem zur Hand
2" haben. Zugleich aber macht einem die neue Lektüre dieser
alten Arbeit quälend bewußt, wie sehr trotz 60-jähriger Bemühungen
auf diesem Gebiet die von B. ventilierten Prioritäts-
rragen, die Alternative zwischen orientalischem oder griechischem
Grundmotiv der Gnosis und die Fragen nach Alter und
Schichtung der iranischen Überlieferung noch immer offen, ja.
«rittiger sind als damals, wenn auch die Alternative zwischen
bsbyIonischem oder iranischem Ursprung der Himmclsreise der
Seele, um die es B. in seinem Aufsatz ging, nicht mehr zur
Debatte steht.

Rostock Konrad WeiB

BIBELWISSENSCHAFT

Barr, James, Prof.: The Semantics of Biblical Language. London:

J1,,Oxford Univcrsity Press 1961. X, 313 S. 8°. Lw. 37 s. 6 d.

Das Buch ist das erste große wissenschaftliche Werk des
Verf.s, der vor ein paar Jahren zum Professor der alttestament-
lichen Literatur und Theologie an der Universität in Edinburgh
ernannt wurde.

Das Ziel, das er sich gesetzt hat, ist eine breite Darstellung
und scharfe Kritik der Frage, wie modernes theologisches Denken
das sprachliche Material der Bibel bewertet und ausgenutzt
hat. Sein Ziel ist also rein negativ kritisch, indem er keine positiven
Alternativen aufstellt; er hofft aber, durch sein negatives
Verfahren den Weg zu ebnen für eine Umwertung (re-asse6s-
ment) der biblischen Sprache, ihrer Benutzung in der Theologie
und der Möglichkeit, die Sprache der Bibel heute zu verstehen
(S. 4). ^

Es ist schwer, ein Buch gerecht zu würdigen, wenn man die
Prinzipien, worauf es aufgebaut ist, nicht anerkennen kann. Barr
befindet sich aber seinerseits in derselben Lage fast der ganzen
heutigen Theologie aller Richtungen und vielen Philologen und
Sprachphilosophen gegenüber. Es scheint ihm jedoch keine Anfechtung
zu bereiten. Im Gegenteil, er ist kühn und siegesgewiß. So
kritisiert er nicht nur Einzelheiten, gewisse Züge, Tendenzen und
Schwächen in Kittels Theologischem Wörterbuch zum NT; das
wäre nicht nur erlaubt, sondern auch nützlich und lehrreich; nein,
er veirwirft das ganze Unternehmen als prinzipiell irrtümlich und
unmöglich, und schüttet damit, wie so oft in seinem Buch, das
Kind mit dem Bade aus.

B. geht, ohne seine Prinzipien kritisch zu untersuchen,
ohne weiteres davon aus, daß sie wissenschaftlich die einzig möglichen
sind. Seine wissenschaftliche Basis ist eine formallogische
Linguistik (vgl. S. 2, Anm. l), die für ihn die ganze in Betracht
kommende Sprachwissenschaft ausmacht. Die Eigentümlichkeit,
daß auf englisch linguistics sowohl Philologie wie Linguistik
bedeutet, mag B. diese Einseitigkeit leichter gemacht haben. Erst
gegen Ende seines Buches scheint er darauf aufmerksam geworden
zu sein, daß es in der heutigen Sprachwissenschaft eine angesehene
Richtung gibt, die W. v. Humboldts Gedanken wieder aufgenommen
hat. Im Schlußkapitel erwähnt er als eine Alternative
zu seiner Gesamtauffassung den Neu-Humboldtianismus kurz
und ungenügend, aber doch so weit, daß es zu einer Selbstkritik
führt (S. 294 f.), die in einem wohltuenden Gegensatz zu der unkritischen
Selbstsicherheit in den früheren Kapiteln steht.

Humboldts Sprachphilosophie ist bekanntlich eine Anwendung
kantischer Vernunftkritik auf sprachlichem Gebiete, ergänzt mit Gedanken
von Hamann und Herder. Sie blieb ohne Wirkung in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, da eine positivistische Auffassung
auch in der Sprachwissenschaft herrschte. Als um die Jahrhundertwende
der philosophische Positivismus in Deutschland von dem Neukantianismus
überwunden wurde, erwachte allmählich das Interesse
auch für Humboldts Gedanken. In unserer Zeit sind Humboldts sprach-
philosophischc Ideen von Ernst Cassircr in eine Kulturphilosophie
eingebaut worden. In die eigentliche Sprachwissenschaft sind sie von
Leo Weisgerber und seinem Kreis aufgenommen und üben einen großen
Einfluß auf das moderne sprachtheoretische Denken Deutschlands
aus.

Zwischen einem Barr und einem Weisgerber gibt es natürlidi
eine Menge vermittelnder Standpunkte. So erinnert der Linguist
Harris Birkeland daran, daß Linguistik eine eigene von Philologie
unterschiedene Wissenschaft ist (S. 293); aber er erneuert damit, vielleicht
ohne es zu wissen, nur die Auffassung Humboldts. Für B. selbst
dagegen ist Philologie etwas Altmodisches, das verdient, in Anführungszeichen
gesetzt zu werden (S. 296).

Wenn B. die bisherige sprachtheoretische Grundlage der
biblischen Exegese und Theologie verwirft, ohne die Verantwortung
zu fühlen, eine bessere Sprachphilosophie einzuführen
(S. 291), sollte er überlegen, ob er nicht mit der Annahme einer
formalistischen Linguistik einen philosophischen Po6itivismu6
mit übernommen hat, der die biblische Theologie aushöhlen und
untergraben wird, bis der Glaube selbst zusammenstürzt.

B. ist zweifellos eine Forscherbegabung, und von seinen
eigenen Voraussetzungen aus beurteilt ist sein Buch eine be-