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Ausgabe:

1962

Spalte:

230-231

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Walz, Hans Hermann

Titel/Untertitel:

Das protestantische Wagnis 1962

Rezensent:

Dantine, Wilhelm

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229 Theologische Litcraturzeitung 1962 Nr. 3 230

gegen heutigen Abweichungen ausgezeichnet präzisiert. So kann
m. E. grundsätzlich auch der urteilen, der Gl.s Grenzziehung zwischen
den historischen Worten Jesu und der Gemeindetheologie
noch zu konservativ findet, also der Meinung ist, daß er zu viel
für historisch hält, das erst der Christologie der Gemeinde angehört
, i

Der grundsätzlichen Haltung Gl.s entspricht es, daß er sich
der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu mit historischer Erkenntnis
zu vergewissern unternimmt — um des Glaubens willen! Er
verwechselt die Glaubensfrage nicht mit der nach dem historisch-
Geschehenen und Wirklichen, aber auch diese letztere ist unumgänglich
notwendig für den Glauben. Zum Inhalt der Botschaft
gehört auch das, was ,.gewußt werden kann" (275). „Was kann
hier aber wirklich gewußt werden?", so fragt Gl. mit Bezug
auf Ostern, aber nicht anders natürlich mit Bezug auf das geschichtliche
Leben Jesu, im theologischen Interesse des Glaubens.
Die Frage „Wer war Jesus?" ist eben auch eine historische
Frage, die historisch beantwortet werden will. Denn Gegenstand
des Glaubens ist der geschichtliche Mensch Jesus von Nazareth.
Gl. will nicht nur das Kerygma hören, sondern — um zu hören —
Jesus in seinem irdischen Leben sehen. Dem dient die reiche,
tiefe, höchst lebendige Auslegung der Geschichte Jesu, der Erzählungen
und Worte, die das Herzstück des Buches ausmacht.

Auf das Menschsein Jesu geht der Blick. Wir sehen ihn
— nicht erst von Ostern her, nicht erst selber im Glauben — als
den Glaubenden (120; 211), als den Liebenden (18 3 ff.), als den
Hoffenden (211). Als der Glaubende vergißt er über Gott sich
selbst, als der Liebende sich selbst über dem Mitmenschen; als
der Hoffende sich selbst über der Welt, in die er sein Feuer wirft
(166.211). Er war „der Mensch, der Gott gab, was Gottes ist,
und dem Menschen, was des Menschen ist" (211). Darin aber
offenbart er Gott, ist er — in der Sprache des Neuen Testamentes
— „das Wort Gottes". „Seine am Menschen betätigte
Menschlichkeit ist in Wahrheit seine Göttlichkeit" (166). „In
seinem Tun erweist er den Menschen die Liebe Gottes" (18 3).

Wie Gl. mit diesem Schauen auf den Menschen Jesus Abstand
nimmt von der extremen Kerygma-Christologie, so nicht
minder von einer Neu-Orthodoxie, welche die christologische
Aufgabe mit der Wiederholung der orthodxen Zwei-Naturen -
Lehre lösen zu können meint. Bei aller Würdigung des alten Dogmas
und der christologischen Arbeit der orthodoxen Väter gilt
für uns heute doch: bei der unbesehenen Wiederholung der
alten Formeln hat man es „nicht mehr mit dem lebendigen Herrn
zu tun, sondern mit einer Begriffshülle der Vergangenheit. Man
verstellt sich dann den Zugang zu der Geschichte Jesu,... Indern
wir zum historischen Jesus durchbrechen, begegnen wir Gott"
(212 f.). Das heißt doch: es handelt sich für den Menschen um
die Begegnung mit Gott — und eben darum liegt alles an
dem Blick auf den wirklichen historischen Jesus und seine wirkliche
Geschichte.

Die historische Erkenntnis geht dabei immer über in die
Urteile des Glaubens. Nicht als ob der Glaube sich in den Akt
des historischen Erkennens einmengte. Aber weil er an dem
Historischen selbst, an der „Erscheinung" Jesu, an seinem
Menschsein entsteht, können ihm die in der theologischen Reflexion
zu unterscheidenden zwei Akte, des historischen und des
glaubenden Sehens, in einen unscheidbaren zusammenschmelzen.
So fragt denn auch Gl. historisch und theologisch in einem, „wer
Jesus wirklich war und wer er uns heute sein könnte" (120),
also nicht nur: wer er war, sondern auch: wer er i s t (212).
Und die am Historischen gewonnene Antwort des Glaubens:
•Wort Gottes" schließt das „ist" mit dem „war" und wegen des
• war" in sich.

Demgemäß geht bei Gl. die Darstellung über in die Verkündigung
dessen, was Jesus uns heute, in der gegenwärtigen
Lage der Menschheit ist. Im Anschluß an eine Formel von
K. Jaspers fragt er: „Worin ist Jesus uns maßgebend?" Die Antwort
lautet: „Jesus ist der Anwalt des Menschen schlechthin und
s° der Anwalt der Menschlichkeit" (167). Das wird in besonders
schönen Ausführungen entfaltet. - Auch daß Jesus den „Geist
der Gesetzlichkeit angreift", ist von aktuellster Bedeutung für
die Kirche von heute, als Angriff auf den weithin in ihr herrufenden
Geist gesetzlicher Kirchen- und Bibelfrömmigkeit, der

nicht zum „Leben selbst" und zu den Aufgaben, die Christ und
Kirche gegenüber der heutigen Welt haben, kommen läßt (179 f.).
Hier ist Jesus gefährlich nahe in unsere Welt hereingeholt, und
der Blick auf ihn führt zur Kritik unserer Zeit. Für die geistige
Lage der Menschheit heute ist auch das andere gesagt: „Jesus
gibt uns heutigen Menschen die Fähigkeit zurück, hoffen zu
können. Schon die bloße historische Erinnerung daran, daß ein
Mann namens Jesus mit seinem Geheimnis über diese Erde ging,
könnte die Welt vor der äußersten Verzweiflung bewahren"
(232 f.). In alledem ist der historische Jesus ganz gegenwärtig in
unserer Welt.

Gloeges Buch ist voll von Theologie. Es führt in der Gestalt
eines Jesus-Buches tief und reich in den christlichen Glauben
evangelischen, lutherischen Verständnisses ein. Heute steht es
doch wohl so, daß die Zeitgenossen, die nach dem Evangelium
fragen, leichter und williger durch ein Buch über Jesus an die
Sache herankommen als durch eine dogmatische Darstellung. Daher
hat Gloeges Buch seine besondere Sendung und Verheißung.
Es tut uns in der gegenwärtigen Lage einen großen, besonderen
Dienst.

An Fehlern habe ich bemerkt: S. 61, Z. 8 v.o. „für"?; S. 128, Z. 17
v.u. stände statt „aus" doch wohl besser „in"; S. 146, Z. 16 v.u.
..schlechthin"; S. 191, Z. 7 v.u.: „Geld"; S. 270, Z. 3 v.u. muß es
heißen: Mt. 27, 64.

Erlangen Paul Althens

Walz, Hans Hermann: Das protestantische Wagnis. Stuttgart: Kreuz-
» Verlag [1958]. 170 S. 8°. Kart. DM 7.80; Lw. DM 9.80.

Man muß sich wohl selber am ,prot. Wagnis' beteiligt wissen
, -will man diesem Buch des geschäftsführenden Generalsekretärs
des Deutschen Evangelischen Kirchentages durch eine Besprechung
gerecht zu werden versuchen. Es ist ja als Ganzes nicht
nur theologische Besinnung, sondern vielmehr Appell, Einladung
zum Mitmachen. Es zieht kühn die Linie von grundsätzlicher
Erkenntnis zu konkreter Folgerung für ganz bestimmte Situationen
durch und scheut nicht vor gewagten, ganz persönlich ausgesprochenen
Vorschlägen zurück. Keine fachtheologische Abhandlung
— man wird an Luthers theologische Publizistik erinnert
.

In einem ersten Teil handelt W. über ,Welt und Kirche in
protestantischer Sicht'. Ausgehend vom ,antiprotestantischen
Aufmarsch' in unseren Tagen wird das .heimliche Ja' herausgearbeitet
, aus dem das schonungslose Nein des Protestanten
gegenüber aller unechten Autoritätsanmaßung lebt, ohne die
faktischen Schwächen zu negieren, in die dieses Nein oftmals
stürzt. Die scharfe Unterscheidung zwischen Säkularisation und
Säkularismus einerseits, zwischen Amt der Kirche und modernem
evangelischen Klerikalismus andererseits verhilft dem Verf. zu
einer Sicht, nach welcher nicht nur jede Theokratic, sondern auch
jede Ekklesiokratie unmöglich erscheint, dafür aber von .Kirche
für die Welt' und damit auch von einem Auftrag der Christenheit
an der Welt zu reden wäre. — Für solche beauftragte
Christenheit könne nun aber der Kirchentag Zeichen und Zeichen
sein (63).

Im zweiten Teil wird .die Christenheit im Aufbau der modernen
Gesellschaft' dargestellt. W. 6ieht im Staat neben dem
Herzen des Menschen eines der .Konzentrate von Welt' (93) und
nimmt sich daher der politischen und gesellschaftlichen Probleme
mit besonderer Eindringlichkeit an. So wird das ganze Feld der
politischen Ethik aufgerollt und zu konkreten, meist besonders
brennenden und heiklen Punkten durch eindringende Analyse
und unmittelbaren Ratschlag Stellung genommen. Liberalismus
aus Vernunft (und gerade nicht aus Religion), Kirche in der
Gruppendemokratie bei gleichzeitiger Absage an die Konfessio-
nalisierung des öffentlichen Lebens — das sind Stichworte, von
denen aus eine Führungsaufgabe des Protestantismus in der
heutigen Welt gefordert wird, während einer übernationalen
Christenheit das Ziel einer Neugestaltung des Corpus Christi-
anum gesetzt wird, in welcher der Diasporacharakter der Kirche
in der Welt eingerechnet erscheint. In solcher Neugestaltung
soll es immer um leibhafte Verwirklichung sowohl des kirchlichen
als auch des öffentlichen Lebens gehen.