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Ausgabe:

1961

Spalte:

131-134

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Senft, Christoph

Titel/Untertitel:

Wahrhaftigkeit und Wahrheit 1961

Rezensent:

Schneemelcher, Wilhelm

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13)

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 2

132

KIIi CHEN GESCHICHTE: NEUZEIT

Senft, Christoph: Wahrhaftigkeit und Wahrheit. Die Theologie des
19. Jahrhunderts zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Tübingen:
Mohr 19 56. XII, 171 S. gr. 8° = Beiträge zur hist. Theologie, hrsg.
v. G. Ebeling, 22. DM 17.50.

„Der Ton der triumphal-polemischen Absage an das 19. Jahrhundert
ist fast ganz verklungen. Ja, manche Rufer im damaligen
Streit gegen jenes Jahrhundert sind selbst wieder in die alten
Pfade eingebogen" (K. G. Steck, Die Idee der Heilsgeschichte:
Theol. Studien 56, 1959, S. 7). Man kann wohl sagen, daß kein
geringerer als Karl Barth den Anfang mit dieser Hinwendung
zum 19. Jahrhundert und mit einem neuen Verstehen der Theologie
jener Zeit gemacht hat. Allerdings muß gleich hinzugefügt
werden, daß in seiner glänzenden Theologiegeschichte zwar die
„triumphal-polemische Absage" fehlt, daß aber diese Geschichte
doch im ganzen unter negativem Aspekt gesehen wird. Es ist
letztlich doch die Geschichte des theologisierenden modernen
Menschen, wobei das moderne Selbstbewußtsein die Herrschaft
behält. Vielleicht ist es gerade diese Grundthese der Barthschen
Darstellung, die dem Werk seine Einheit und seine Bedeutung
gibt. Mit wenigen Ausnahmen (z. B. Kohlbrügge) wird ja doch
die Theologie des 19. Jhdts. als eine große Einheit dargestellt.
Aber muß man nicht doch stärker differenzieren, wenn man dieses
Jahrhundert, dessen Probleme uns heute mehr als vor 30 Jahren
auf den Nägeln brennen, verstehen will?

Das hier anzuzeigende Buch von Chr. Senft ist eine begrüßenswerte
Arbeit, die weitere Erkenntnisse der vielfältigen Gestalt
der Theologie des 19. Jhdts. vermittelt und daher zu einem
tieferen, differenzierten Verständnis helfen kann. Schon der
Titel zeigt, daß auch S. von einer gewissen Einheit der Theologie
des 19. Jhdts. zu sprechen weiß: „die Fragen, an denen sie arbeitet
, sind ihr durch eine bestimmte Geschichte vorgegeben, und
mit geschichtlich bedingten Mitteln versucht sie, sie zu lösen"
(S. V). Diese Einheit sieht S. in zweierlei: einerseits ist die gesamte
theologische Arbeit des 19. Jhdts. von der Auseinandersetzung
mit dem Erbe der Orthodoxie und der Aufklärung bestimmt
, sie steht wirklich „zwischen Orthodoxie und Aufklärung
"; andererseits sind die Theologen dieses Jhdts. „als verantwortlich
Denkende und Redende eine an uns gerichtete Frage
", näherhin läuft ihr Denken zumeist auf das hermeneutische
Problem hinaus und damit ist zugleich ihre Aktualität deutlich.
S. übersieht natürlich nicht die Unterschiede innerhalb der
Theologie des 19. Jhdts. Die Auswahl, die er trifft, um dieses
Jhdt. uns nahe zu bringen, ist offensichtlich von der Absicht bestimmt
, möglichst unterschiedliche Konzeptionen zur Geltung zu
bringen. An 4 hervorragenden Vertretern des 19. Jhdts. will der
Verf. die Probleme erörtern.

I. Unter dem Titel „Die Personalität des Glaubens" wird zunächst
(S. 1—46) Schleiermacher behandelt. Dabei wird schon an
dieser Formulierung der Überschrift deutlich, was S. an Schleiermacher
wichtig ist. Für Schleiermacher soll der Glaube echte eigene Erkenntnis
bei sich haben, d. h. wahrhaftig sein, und darum ist nicht der Gegenstand
des Glaubens das Thema der Dogmatik, sondern der Glaube
selbst. Daher kann das „Selbst als Ort und Subjekt des Glaubens" angesehen
werden. „Schleiermacher fordert, daß der Mensch, der glaubt,
nicht ein anderer sei als der geschichtlich daseiende, sondern gerade als
dieser der glaubende sei" (S. 11). Damit hängt nun weiter die Forderung
nach der Wahrheit der geschichtlichen Offenbarung (also nach deren
Erkennbarkeit) zusammen: „die auf das Dasein des Menschen bezogene
, erkennbare Wahrheit tritt anstelle des abstrakten Dogmas und
leitet den Erkennenden zu den Inhalten der geschichtlichen Offenbarung
" (S. 17). S. sieht hierin die Wendung Schleiermachers gegen den
Positivismus der Orthodoxie und gegen die Vernünftigkeit der Aufklärung
. Daß Schleiermacher damit das Problem der Hermeneutik stellt,
begründet einen wesentlichen Teil seiner bleibenden Bedeutung. Er
zeigt damit „die Dringlichkeit lebendigen Fragens nach der geschichtlich
gegebenen Offenbarungswirklichkeit" und läßt „die Möglichkeit lebensmäßigen
und geschichtlichen Erkennens im Bereich der Theologie wieder
aufleuchten" (S. 19). Der Grund für diese Überlegungen Schleiermachers
liegt darin, daß der Glaube seiner Meinung nach nur dann Gewißheit
sein kann, wenn er auch subjektiv wahr ist. Das Problem der
Wahrhaftigkeit des Glaubens (nach der traditionellen theologischen
Begrifflichkeit wäre hier von dem Wirken des hlg. Geistes zu reden)
wird an vier Punkten aufgezeigt: a) Die historisch-systematische Bestimmung
des Wesens des Christentums (das geschichtlich Gegebene als

Grund und Gegenstand des Glaubens); b) Das Problem der Menschheit
Christi (weder etwas schlechthin Übernatürlidies, noch etwas schlechthin
Übervernünftiges); c) Die Entstehung des Glaubens (Glaube soll
um seinen Grund und seine Legitimität wissen, „unmittelbar, indem
er reales, lebendiges Bezogensein auf den Gegenstand ist", S. 30);
d) Die Freiheit des Glaubenden. Ein „kritischer Rückblick" schließt
das Kapitel ab und ist orientiert an den Fragen a) Gott und Mensch
(Grundlage ist die romantische Anthropologie); b) Die Bedeutung der
Geschichte (es bleibt beim ästhetischen Interesse); c) Glaube als
Bildung.

II. F. Chr. B a u r stellt S. unter das Thema „Die Geschichtlichkeit
der Theologie" (S. 47—86). „Baur ist der größte theologische Historiker
des 19. Jahrhunderts dadurch geworden, daß er wie keiner vor ihm
nach den Grundlagen der Geschichtsforschung gefragt . . . hat" (S. 47).
Sein .Hegelianismus' ist aus derselben Situation zu verstehen wie
Schleiermachers Romantik: er dient der Klärung und Lösung von gestellten
theologischen Problemen. Das macht S. nun dadurch deutlich,
daß er zunächst von der Überwindung des Subjektivismus der Aufklärung
bei Baur handelt (1. Hegel gegen Schleiermacher: es geht um das
Problem der Objektivität der Offenbarung; nach Baur fehlt bei Schleiermacher
die „lebendige Bewegung" zwischen Subjekt und Objekt) und
dann die Überwindung der negativistisdien Kritik durch Baur schildert
(2. Hegel gegen Strauß: Strauß bedeutet den neuen Durchbruch des
rationalistischen Denkens; Baurs .positive' Kritik benutzt Hegels Begriff
der Geschichte „als sich entfaltender, in sukzessiven, gegensätzlichen
Gestaltungen sich verwirklichender Idee", S. 57). Die überragende Bedeutung
Baurs ist aber damit noch nicht voll erfaßt. Sie liegt darin, daß
er die Theologie zu einer geschichtlich bewegten, kritischen Wissenschaft
gemacht hat, was an seinem Verständnis der Reformation und an
seiner Schriftkritik aufgezeigt wird. Auch hier wird sichtbar, wie die
Hermeneutik theologisch relevant wird. Der „kritische Rückblick" ist
auf drei Probleme ausgerichtet: a) Der Begriff des Glaubens (Glaube
als religiöses Bewußtsein und Geschichte als .Bewegung' dieses religiösen
Bewußtseins: Vollendung der Aufklärung); b) Der Sinn der Geschichtswissenschaft
(Geschichte nur als Etappe zur Gegenwart, daher
bloße Vergangenheit; Geschichtlichkeit und Fortschritt werden vermengt
); c) Die Autorität der Schrift. Trotz der .dogmatischen' Kritik
hat Baur „einer wahrhaftigeren Bindung an die Schrift vorgearbeitet"
(S. 86). (Zu dem Verhältnis Baur-Schleiermachcr wäre jetzt noch zu
vergleichen: Heinz Liebing, ZThK 54, 1957, S. 225 ff., der interessante
Einblicke bietet.)

III. J. Chr. K. von Hof mann wird unter die Überschrift „Die
Schriftauslegung" gestellt (S. 87—123), d. h. es geht hier um den
Fragenkreis, der mit den Begriffen Glaube - Geschichte - Schrift umschrieben
ist. „Die Bedingungen sachgemäßer Auslegung", wie sie in
der .Biblischen Hermeneutik' Hofmanns dargestellt werden, sind Anerkennung
der Geschichtlichkeit der Bibel und das lebensmäßige Verhältnis
zur bezeugten Wahrheit. Die Schwierigkeit dabei ist aber die
Auffassung des Glaubens als christliches Selbstbewußtsein; darin ruht
der Konflikt zwischen Geschichtssinn und Kirchlichkeit. Das wird von S.
nun weiter entfaltet: „Die geschichtliche Betrachtung der Bibel" stellt
vor das Problem der Offenbarung in der Geschichte und der geschichtlichen
Selbständigkeit der Bibel („als Denkmal einer Geschichte ... ist
die Bibel das Buch der Offenbarung", S. 100; das ist doch wohl eine der
Grundlagen der Hofmannschen Heilsgeschichte; dazu vgl. jetzt die o.a.
Schrift von K. G. Steck). „Die lebensmäßige Erkenntnis der Bibel"
führt zur Frage des Glaubens. Der .Kritische Rückblick' beschränkt sich
auf zwei Probleme: a) Die Bibel als Garantie des Glaubens (Verhältnis
Bibel-Kirche wird nach dem idealistischen Entwicklungsgedanken gedeutet
); b) Die Folge für die geschichtliche Betrachtung der Bibel (das
„merkwürdige Gemisch von dogmatischen, typologischen und pragmatischen
Überlegungen" madit es unmöglich, auch nur die geringste
historische Frage zu lösen, S. 118). Das Gesamturteil über Hofmanns
Theologie lautet bei S.: „eine doketische Entgeschichtlichung sowohl
der Offenbarung als ihrer Urkunden" (S. 123).

IV. Der letzte Theologe, den S. behandelt, ist Albrecht R i t s c h 1,
der unter der Überschrift steht: „Der Glaube als Gabe und Tat" (S. 124
— 166). Ritschis Hauptproblem ist die Erkenntnis und Aneignung des
Heils. Dieses beruht auf dem anthropologischen Grundsatz, daß der
Mensch als „Zentrum von Kräften", als Person, als verantwortlicher
Wille existiert. Von hier aus hat Ritsehl, unter Anknüpfung an Schleiermacher
und Kant, sich mit Hegel, Baur und der traditionellen Theologie
auseinandergesetzt. Der Auseinandersetzung mit der letztgenannten in
der Frage der „Verdinglichung der Heilswirklichkeit" gilt der erste Abschnitt
bei S. Ritsehl kritisiert, daß „das klare Verständnis dafür fehlt,
wie die Heilswirklichkeit dem Menschen begegnet" (S. 129). Die eben
erwähnte Anknüpfung an Schleiermacher und Kant, von der weiterhin
die Rede ist, vollzieht sich kritisch, d. h. Ritsehl bemängelt an Schleiermacher
, daß bei ihm das Willensmäßige der Religion fehlt, an Kant,
daß er das empirische Ich ignoriert. Dabei wird deutlich, daß Ritsehl in
gewisser Weise der Aufklärung noch verhaftet ist, daß er das kantische
Existenzverhältnis weitgehend akzeptiert, daß er es aber „nur als Form