Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1961 Nr. 2

Spalte:

105-108

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Max Picard zum siebzigsten Geburtstag 1961

Rezensent:

Eisenhuth, Heinz Erich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

105

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 2

106

6chlagslcraft ihrer theologischen Beantwortungen nachzugehen.
Der Auftrag, das Wort aus der Ewigkeit einer Gemeinde in der
Zeit zu sagen, umreißt zugleich den Spannungsbogen, unter dem
eine kirchengeschichtliche „Zeitgeistforschung" steht. Daß zudem
die zeitgeschichtliche Betrachtungsweise in der Kirchengeschichte
die universalgeschichtliche Forschungsmethode durchaus zu ergänzen
vermag, haben schon jene Untersuchungen über die Geschichte
des christlichen „Lebens" gezeigt, die wir vor allem
August T h o 1 u c k und Max G o e b e 1 verdanken. Zu ihrer
modernen Weiterführung vermag das Buch von Schoeps viele
grundsätzliche Anregungen und methodologische Hinweise zu
gebenI

Marburg/Lahn Winfried Zel I e r

Max Picard zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. v. W. Hausensteint
und B. Reifenberg. Erlenbach-Zürich: Rentsch [1958].
203 S., 2 Taf. 8°. Kart. DM 14.80.

Eine bedeutende Gabe, einem Gelehrten und Forscher dargebracht
, der aus reicher Aussaat eine reiche Ernte bergen darf.
Die meisten von den 20 deutsch geschriebenen Beiträgen und die
8 ausländischen nehmen dankbar Anregungen von Picard auf und
führen sie in eigener Sicht weiter.

Persönlichkeit und Werk des 70jährigen werden mit feinen Strichen
von Wilhelm Hausenstein gezeichnet. Er, der seit 50 Jahren
mit Picard befreundet war, hatte diese Festschrift angeregt. Er hatte
sie aber 1957 unvollendet zurücklassen müssen, ohne einen eigenen
Beitrag. Deshalb wurde nach seinem Tod hier der Rundfunkvortrag
über Picard aufgenommen, den Hausenstein im November 19 56 gehalten
hatte. Er vergleicht den Gefeierten in seiner vielseitigen und fruchtbaren
Arbeit mit „einem Prediger in der Wüste unsere« Zeitalters"
(105), der zur Rettung des Menschen und der Erde ruft. Max Picard,
1888 in Schopfheim im badischen Schwarzwald geboren, war zuerst
praktizierender Arzt. Er hatte sich aber bald von der Medizin abgewendet
und sich in das Tessin zurückgezogen, wo er noch heute lebt.
Er vereinigt in sich vielerlei Gaben: Er ist Philosoph, aber nicht ein
abstrakter Systematiker, sondern ein „Wahrnehmender und unmittelbar
Sehender". Er ist seinem Wesen nach Dichter, weil er tief in die
Dinge und in die Menschen hineinzublicken vermag. Er ist als Dichter
zugleich „der Bruder des Theologen"; denn es geht ihm um den göttlichen
Ursprung der Welt (97). Er ist ein genauer Diagnostiker, zugleich
aber begabt mit der Kraft, das heilend Ursprüngliche aufzuzeigen.

Sehr früh wandte er sich gegen den Impressionismus (1916). In
ihm verspürt er nur die Neigung zum Relativierenden und zum Subjektivismus
, ohne jedoch die poetischen Elemente dieser Kunst zu würdigen
. Er sieht in ihr lediglich „die Ausdrucksform einer Zeit, die
nichts glaubt". In den „Mittelalterlichen Holzfiguren" (1919) findet er
die Kraft und das Wesentliche einer echten Kunst verwirklicht. Im gleichen
Jahr schrieb er das Buch „Der letzte Mensch". In diesem wies er
auf das Schwinden des Menschlichen hin, das sich, wie er 1929 aufzeigte
, auch in dem Verfall des menschlichen Antlitzes feststellen läßt.
Im Jahre 1937 fügte er in seinem Buch „Die Grenzen der Physiognomik
" einschränkend und klärend hinzu, daß die Physiognomie zwar
das Wesen ausdrücken könne, aber nicht müsse. Gesicht und Wesen
decken sich nicht. Es besteht noch „ein Raum der Freiheit" (101). Der
tiefste Grund für den Verfall wird ihm sichtbar in der Krise des Glaubens
. 194 5 schreibt er als Warnung „Die Flucht vor Gott". Nach dem
Kriege erscheint das Buch, das in viele Sprachen übersetzt worden ist,
auch in die tschechische: „Hitler in uns selbst" (1946). Seine letzten
Arbeiten gehören besonders dem Problem der Heilung des Zerstörten
an. Nach 6einer italienischen Reise gab er das Tagebuch heraus „Zerstörte
und unzerstörbare Welt" (1951). Seine Arbeiten über die Sprache
wollen helfen, aus der Unweit des Wortgeräusches herauszukommen
, um aus dem Bereich des Schweigens wieder zum echten Wort zu
gelangen.

Die Festschrift ordnet die jeweils zusammengehörenden Beiträge
unter drei Abschnitte. Nur einige können hier besonders
erwähnt werden, obwohl sie es alle verdienten.

I. Widmungen.

Eduard Spranger, „Schlechte und wahre Unendlichkeit".

In dieser weltanschaulichen Betrachtung, wie 6ie der Verfasser
selbst nennt, zeigt er, daß wir heute in Gefahr sind, der schlediten
Unendlichkeit zu verfallen und den Zugang zur wahren beinahe zu verlieren
. Zur schlechten Unendlichkeit gehört der unendliche Expansionsdrang
des Menschen. Dabei flieht das Ziel immer vor dem Jagenden.
Dagegen geht die wahre Unendlichkeit von der „Mitte der Zeiten"
aus, durch die die schlechte Unendlichkeit der Zeit endgültig besiegt
worden ist. Die wahre Unendlichkeit bleibt ein Mysterium; denn um

an ihr teilzuhaben und zu ihr den Zugang zu gewinnen, muß der Mensch
durch Leid und Tod hindurchgehen; denn „nicht der Tod tötet, sondern
das lebendigere Leben, welches, hinter dem alten verborgen,
beginnt und sich entwickelt" (Fichte). Dieses ist die „wahre Unendlichkeit
" (12).

Carl Kindt dankt Picard für das „energische Hinweisen auf das
Vorgegebene" (40), wovon oft noch die Rede ist, z.B. 86, 110, 132,
153 u. ö. Er möchte wieder Leibniz gegen Descartes, den Zweifler an
allem Sein, zur Geltung bringen. Unter dem Titel „Die Pyramide des
Seins" bringt er den Schlußmythos aus der Theodizee in neuer Übersetzung
.

Reinhold Schneider hatte kurz vor seinem Tode die Absicht
geäußert, seine Tagebuchblätter aus Wien (1957—1958) Max Picard
zu widmen. Wir finden hier eine kleine aber in sich schwerwiegende
Auswahl, die vor seinem plötzlichen Tode so eindringlich von seiner
letzten Sehnsucht spricht: „Es zieht mich zum Untergange mit der
Kreatur; ich ersehne den Frieden, den sie erwarten darf" (52).
Mit der Physiognomik befassen sich drei wertvolle Beiträge:
Rudolf K a s 6 n e r, „Über die Grenzen der Physiognomik". Er
knüpft damit an eines der frühesten Bücher von Picard an. Es geht
ihm hierbei um das Aufweisen der Grenzen dieser Wissenschaft. Deshalb
formuliert er den paradoxen grundlegenden Satz für die Physiognomik:
„Einersieht nur darum so aus, wie er ist, weil er nicht so ist wie er
aussieht" (60). Hier gilt aber die Verneinung nicht als eine Negation,
sondern als der Antrieb und der Grund zur Bewegung eines tieferen
Verständnisses.

Erich Przywara sieht in Picards Physiognomik eine „theologische
Botschaft" enthalten. In ihr tritt uns ein Christentum des „Bildes
Gottes" entgegen. Picard versteht den Menschen von seinem Ursprung
aus Gott her. Der Verfasser erhebt in seinem Beitrag „Imago
Dei" aufgrund des Urtextes und der Tradition den Gehalt dieser bedeutsamen
Aussage, der Mensch sei ein Bild und Gleichnis Gottes. Der
Mensch kann hierbei weder linear noch antithetisch als Gottes Ebenbild
verstanden werden. Der Mensch ist in seiner höchsten Nähe zu
Gott doch an das Innergeschöpfliche gebunden; und doch ist innerhalb
dieser Verflochtenheit in ihm zugleich die höchste Nähe zu Gott aufgerichtet
. Damit ist als innere Form der „Imago Dei" des Menschen
die „Analogie" hervorgetreten, ein Begriff des Aristoteles, der nach
dem 4. Laterankonzil hierfür in Anwendung gekommen ist. „Imago
Dei" heißt: Der Mensch hat eine solche Ähnlichkeit zu Gott, daß er
als Geschöpf zu demselben Gott in einer „je größeren Unähnlichkeit"
steht.

Diese „Imago in Analogie" hat einen dreifachen Rhythmus:

1) Die Einähnlichung zu Gott hin und in die (untermenschliche)
Schöpfung.

2) In dem menschlichen „Mann — Frau" der „Imago" des Menschen
schwingt der Mann zwischen „(wehendem) Staub der
Erde" und dem „Einhauch von Gott her" und die Frau zwischen
„Teil aus männlicher Physis" und „Haus und Heimat von
Gott her".

3) „Das je Größere eines .Urbildes Gott im Abbild Mann — Frau'
im noch so Großen der Wurzelung von Mann — Frau in erdhafter
Physis als .(wehenden) Staubs' " (68).

Diese Mann-Frau-Analogie fordert auch eine Theologie der Geschlechter
. Am Ende steht daher die typische Schlußfolgerung: „Imago
Dei, im vollen Sinne des Wortes, ist der Mensch im Symbol ,des Gekreuzigten
' und der .Mutter der Sieben Schmerzen' " (77).

Eine gute Verständlichmachung der physiognomischen Erkenntnisse
Picards erhalten wir durch seinen Sohn in dem Aufsatz über eine alte
Gräberinschrift „Ex umbris et imaginibus in veritatem" („Aus Schatten
und Abbildern zur Wahrheit"). Die physiognomische Erkenntnis
unterscheidet sich von jeder anderen, weil in ihr Anschauung und Denken
vereint sind. Das Gesicht kann man nicht nur anschauen, weil es
mehr ist als nur ein Bild. Man kann es aber auch nicht denken, weil es
da ist, um gesehen zu werden (87). In dieser Erkenntnis weist deshalb
„die Verborgenheit, die in der Anschauung, und die Ferne, die im Denken
ist, weniger auf eine tiefere als auf eine ganz andere Wahrheit
hin" (88).

II. Deutungen.

Siegfried B. P u k n a t behandelt Picards Ansichten über die
Sprache in seinem Beitrag „Das Wort". Er stellt ihn als einen Dichter-
Propheten in die Tradition eines Hamann, dem die Sprache Offenbarung
und Geheimnis zugleich war, eines Baader, Krause und der Romantiker
.

E« folgen zwei Beiträge, die sich mit zwei Büchern Picards sehr
positiv befassen, man möchte fast sagen, die über sie meditieren.

Theodor B o v e t, „Die Ehe". Er läßt die Grundgedanken des
Werkes „Die unerschütterliche Ehe" (1942) aufleuchten. Es wird das
Wesentliche und das Tröstliche dieser Auffassung von der objektiven