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Ausgabe:

1961 Nr. 12

Spalte:

937-938

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Die Verbindlichkeit des Kanons 1961

Rezensent:

Henschel, Martin

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Seite 1

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937

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 12

938

in der Tat gelingt es Noordmans auf diesem Wege, uns in einer
sehr entscheidenden Weise das Auge zu öffnen für die Stellung,
die der Pneumatologie zukommt. Wahrlich ein wichtiger Dienst
an der „Geistvergessenheit der Theologie"1. Bei genügendem
Hinhören und Eingehen auf den Stil Noordmans erschließt sich
dem Leser alsbald auch das gesamttheologische Profil des Buches.
Wenn der Freundeskreis, der sich des Werkes Noordmans angenommen
hat, der Meinung sein sollte, daß hier ein stauro-
zentrisches Denken spürbar ist (S. 15), so möchte ich meinen,
daß Noordmans in seinem pneumatologischen Ansatz geradezu
zwangsläufig an Pfingsten und Himmelfahrt orientiert ist (S. 3 3
und S. 67), daß es ihm also um die Existenz des Christen post
Christum und demzufolge um ein Apostolat des Geistes geht
(58. 63. 67. 128. 145. 161).

Gerade diesen Zusammenhang arbeitet Noordmans dann
auch in der Entgegensetzung von Paulus und Petrus heraus:
„Sukzession und Tradition, Amtsnachfolge und Überlieferung
sind bei Paulus vom Recht auf den Geist, vom Juridischen auf
das Charismatische umgeschaltet" (S. 157). Vom filioque sagt
Noordmans: „Das Bekenntnis, daß der Heilige Geist nicht nur
vom Vater, sondern auch vom Sohn ausgeht — bedeutet gerade,
daß der Westen mit dem dritten Artikel Ernst machen will.
Nicht nur Gott i6t Geist (/oh. 4, 24), sondern auch der Herr ist
der Geist (2. Kor. 3, 17) — nach dem Evangelium, das Paulus
empfangen hat" (S. 163). Dieses Evangelium des Paulus ist also
umfassender, universeller als das des Petrus. Paulus löst Petrus
ab (S. 131 f.).

Ist 6chon die Herausstellung der Pneumatologie allein
wichtig genug, so gewinnt das Buch für den deutschen Leser an
besonderem Interesse durch die „Auseinandersetzung mit der
Sakramentstheologie von G. van der Leeuw" (S. 165 f.). HieT
ist es ganz besonders die phänomenologische Methode v. d.
Leeuws, die von Noordmans einer sehr aufschlußreichen Beurteilung
und Kritik unterzogen wird. „Das Wesen der Welt muß
uns das Wesen des Wortes Gottes verstehen lehren" (S. 170)
Damit ist ein eminent hermeneutiscb.es Prinzip vorangestellt
worden. Ist das nun aber, was v. d. Leeuw als Wesen-Analyse
der Welt entwickelt, wirklich geeignet, die Botschaft hörbar und
verständlich werden zu lassen? Noordmans geht hier mit der
phänomenologischen Methode v. d. Leeuws in ein strenges Gericht
. Noordmans mag hier Richtiges sehen, wenn man auf die
Ergebnisse schaut, zu denen v. d. Leeuw geführt wird. Immerhin
aber scheint Noordmans nicht richtig den hermeneutischen Ansatz
selber einzuschätzen, den wir mit dem oben wiedergegebenen
Zitat (S. 170) angedeutet haben. — Daß es eine Exegese
„in einer höheren Dimension" gibt, „bei der der Heilige Geist
der Ausleger ist" (S. 143) und daß man über das Wort „vom
Heiligen Geist her denken" muß (S. 187), mag gehört werden
gleichsam als ernster Anruf, ist aber erst der Anfang einer theologischen
Besinnung. Noordmans will anrufen und aufrufen zu
hören. Damit kommt sein Weg einer „pastoralen Dogmatik" auch
wirklich zum Ziel. —

Berlin Otto D i I s ch n ei He r

') Siehe den Beitrag de« Rezensenten über „Die Geistvergessenheit
der Theologie" in ThLZ 1961, Sp. 255 ff.

Die Verbindlichkeit des Kanons. Mit Beiträgen von
H. B r a u n. W. Andersen. W. M a u r e r, u. einem Bericht von
O. Perel«. Berlin: Luth. Verlagshaus 1960. 82 S. 8° = Fuldaer
Hefte. Schriften des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntntsse
*, hrsg. v. F. Hübner, 12.

Das vorliegende Heft enthält neben einem Bericht über die
Tagung des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses
vom 12.- 14. 3. 1958 die drei Vorträge, die dort gehalten
wurden.

Herbert Braun (der Konvent hatte ihn als „überzeugten
Verfireter der Bultmannschen Schule" eingeladen) beantwortet die
Frage „Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung
den Kanon auf?" mit Ja und mit Nein. Aufgehoben wird der Kanon
als eine formal abgegrenzte Größe, innerhalb deren alle
Aussagen grundsätzlich das gleiche Gewicht haben müßten. Dagegen
spricht der exegetische Befund, der Lebrunterschiede innerhalb
des NT bei den Punkten Gesetz, Eschatologie, Kirche und
Amt, Christologie, Sakramente feststellt. Da6 Ja zum Kanon dagegen
bezieht sich auf seine Mitte, auf den Kanon im Kanon,
auf das „Grundphänomen", das Braun in den ältesten Schichten
der Synoptiker, bei Paulus und bei Johannes findet, und das er
beschreibt als „Art und Weise, wie der Mensch in seiner Lage vor
Gott gesehen ist. Der Mensch ist Übertreter und böse gerade auch
in seinem frommen Tun . . . Dieser böse Mensch ist unbegreiflicherweise
der gehaltene Mensch . . ., wobei gerade im Ja des
Menschen zu Jesus als dem Heilsträger die Maßstäbe des Menschen
über Gott, Mensch und Welt zerbrochen werden" (20). Zum normierenden
Kanon wird aber dieses Grundphänomen nicht 6chon
durch seine kritisch-exegetische Herausarbeitung, sondern erst
dadurch, daß sein Inhalt zur gehörten und weitergegebenen Botschaft
wird.

Wilhelm Andersen bestreitet in 6einem Vortrag „Die
Verbindlichkeit des Kanons" nicht, daß das NT verschiedene
theologische Schichten hat, aber er billigt den Unterschieden kein
allzu großes sachliches Gewicht zu (gegen Vielhauer), und er
wehrt sich energisch gegen ihre Interpretation durch die Kategorien
des „Abfalls" und der „Häresie" (gegen Harbsmeier).
Die Unterschiede sind vielmehr als „Ergänzung" zu verstehen,
die situationsbedingt, aber legitim sind: „Luka6 muß andere
Tatbestände, vor allem aber das Faktum der Geschichte, theologisch
bewältigen" (38). Aber auch für Andersen ergibt sich nicht
schon aus diesem in sich einheitlicheren exegetischen Befund die
Kanonizität der ntlichen Schriftensammlung. Das geschieht durch
die Festlegung des Kanons im 4./5.Jhdt. In diesem Vorgang
trifft die Kirche „eine Bekenntnisentscheidung de6 Inhaltes, daß
6ie ausspricht, in welchen Schriften 6ie das apostolische Zeugnis
zu hören glaubt und welchen deshalb ihr Leben, ihre Verkündigung
und Lehre unterworfen sein soll" (44). Im Rückgang auf
diesen einmaligen Bekenntnisakt der Kirche, der auf die Einmaligkeit
der Offenbarung antwortet, meint Andersen sowohl
das römische, die Schrift interpretierende Lehramt wie eine
selbstgewählte hermeneutische Methode zu Gunsten der sola et
tota scriptura vermeiden zu können.

Beiden Positionen ist also gemeinsam, daß die Kanonizität
nicht einfach aus der Exegese herausspringt. Wenn Braun damit
rechnet, daß das „Grundphänomen" den mit ihm konfrontierten
Menschen zum Glauben und d. h. auch zur Anerkennung der
Verbindlichkeit dieser Botschaft überwindet, dann bleibt zwar
eine Unsicherheit, die man aber nicht als „subjektiv" verdächtigen
sollte, da 6ie wesenhaft zu Botschaft und Glaube hinzugehört
. Umgekehrt bleibt in der Bindung an die (ferne, nicht
eigene I) kirchliche Entscheidung der Kanonsfestlegung die Frage
offen, ob diese Bekenntnisentscheidung denn wirklich in allen
Punkten legitim war, es 6ei denn man rechnet mit einer Inspiration
(nicht der Texte, sondern) der den Kanon fixierenden Kirche.

In einem ersten Teil seines Vortrages „Luthers Verständnis
des neutestamentlichen Kanons" behandelt Wilhelm Maurer
die Vonstellungen von Kanon und Inspiration vor, neben und
nach Luther. Der zweite Teil entfaltet Luthers Kanonsverständnis
und Kanonskritik, die an dem dogmatisch-inhaltlich, nicht
historisch-biographisch verstandenen Begriff des „Apostolischen"
orientiert ist. Von daher gewinnt Luther seine bekannte Rangordnung
der Schriften des NT. Die Ausführungen Maurers stellen
aufs Ganze gesehen eine Bestätigung der Position Brauns dar.

Der Tagungebericht von Otto P e r e 1 s vermag einen Eindruck
zu geben von der Schärfe der Auseinandersetzung. Ein
sachlich weiterführender Gewinn ist davon jedoch wegen der nur
andeutenden Kürze der Thesen (vornehmlich P. Brunners) nicht
zu erwarten. Auch die Tagung selbst ist ohne jeden Ansatz zur
Annäherung und Klärung geblieben. „Daß die entgegengesetzten
Partner sich noch (sie/) nicht gegenseitig aufgaben", stimmt eher
traurig als tröstlich.

Eine fehlerhafte Stellenangabe (neben kleineren Druckversehen)
müßte korrigiert werden: S. 74 statt ,,WDB 606,29" muß es heißen
„W 18, 606, 29"'.

Jena Mirtin H e n * c h e 1