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Ausgabe:

1961 Nr. 12

Spalte:

895-908

Autor/Hrsg.:

Baumgärtel, Friedrich

Titel/Untertitel:

Gerhard von Rad's "Theologie des Alten Testaments" 1961

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 12

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umgedeutet habe. Wir können vielmehr feststellen, daß es
zwischen den mannigfaltigen Kräften zu einer wechselseitigen
Einschränkung und Umdeutung gekommen
ist. Den mystischen Gedanken, z. B. der Einungsidee,
wie auch den reformierten, z. B. dem Präde6tinationsgedanken.
wurde die Spitze genommen. Frandce ist kein Mystiker, sondern
ein gläubiger Realist. Er wahrt den Abstand zwischen Gott und
Mensch. Das ganze Leben soll der Ehre Gottes dienen. Francke
ist kein Calvinist. Durch Betonung des allgemeinen Liebeswillens
Gottes und der freien Mitarbeit des Menschen 6teht er der Grundtendenz
reformierter Bekenntnisse fern. Aber auch die Gedanken
Luthers wurden unter der Einwirkung mystischer und reformierter
Ideen umgeformt. Das lutherische Gedankengut Franckes
weist Verfärbungen, Schattierungen, Tönungen auf, die der
Orthodoxie seiner Zeit verdächtig sein mußten"". Man warf ihm
vor, er „hätte des Molinosi irrige principia gefasset"2". Die Arbeiten
der Lutherrenaissance haben zwar gezeigt, daß Luthers

"*) Vgl. H. M. Rotermund, Orthodoxie und Pietismus, 1959.

'") Vgl. K. Aland, a. a. O., S. 564. — Über das Verhältnis des Moli-
nos zu Francke vgl. H. Stahl, a.a.O., S. 69 ff.; K. Aland, a.a.O.,
S. 563 ff.; K. Deppermann, Der hallisdie Pietismus und der preußische
Staat unter Friedrich III. (L), 1961, S. 65. Diese Frage bedarf noch
einer weiteren Untersuchung.

Anschauungen umfassender, 6pannungsreicher und farbiger 6ind
als die Lehren des orthodoxen Luthertums. Es ist jedoch evident,
daß die psychologisierende Schau Franckes, sein Drängen auf eine
zeitliche Fixierbarkeit des Bekehrungserlebnisses, auf den Bußkampf
und auf eine ständige Selbstüberprüfung, seine Stellung
zu den Mitteldingen und die spirirualistische Verfärbung des
konkreten Geistgedankens auch dem echten Luther fremd sind.

Ungeachtet der mannigfaltigen historischen Einflüsse bildet
das Gesamtgefüge der Theologie Franckes ein organisches
Ganze, in dem, genauer formuliert, das lutherische Element
prägend und gestaltend überwiegt. Francke hat seine Theologie
nicht eklektisch durch bewußte Auswahl geformt, sondern die
ihm vielfältig überkommenen Gedanken in produktivem Mißverstehen
, mit selbständiger Gestaltungskraft zu etwas Neuem
verschmolzen. In diesem synthetischen Prozeß dürfte seinem
Bekehrungserlebnis eine entscheidende Bedeutung zukommen.
In dem Bericht darüber begegnen uns bereits viele konstitutive
Ideen und Grundbegriffe seiner Theologie, so daß wir hier vom
„initium theologiae" Franckes sprechen können. Das Neue, das
hier erstand, barg eine gewaltige Spannkraft in sich und hat dem
Protestantismus des 18. Jahrhunderts durch die Besinnung auf
einen lebendigen, wahren Glauben und durch den bewußten
Rückgriff auf Luther erneut reformatorische Kräfte zugeführt.

Gerhard von Rad's „Theologie des Alten Testaments"'

Von Friedrich Baumgärte 1, Erlangen

II. ihrer Konseqenz einen Offenbarungsbegriff aus sich heraussetzt,

mit dem wohl kein christlicher Dogmatiker auch nur im entferntesten
zu arbeiten in der Lage ist, ist von ihr schwerlich ein entscheidender
Schritt zum theologischen Verständnis des AT zu erhoffen
.

Von dieser Überschneidung her den Offenbarungsbegriff festlegen
wollen, heißt offensichtlich:

1. Aus der Offenbarung, die im AT bezeugt ist, ist „eine
alles bestimmende Mitte" zu eliminieren, im Gegensatz zum NT
mit seiner alles bestimmenden Mitte Christus. Als ob die Chrisfus-
offenbarung — im Gegensatz zu der im AT bezeugten Offenbarung
— ein Punktuelles sei und nicht, ebenso wie im AT, eine
ganze Geschichte, nämlich die ganze Geschichte Jesu Christi von
der Geburt bis zu dem nachösterlichen Geschehen. Die „Mitte"
dieser Geschichte ist freilich Christus. Wie die alles bestimmende
Mitte der im AT mit den „einzelnen Offenbarungsakten" bezeugten
Geschichte Gott i6t' im Glauben in all diesen Einzelbezeugungen
begriffen in der auch in der Christusoffenbarung beschlossenen
Dialektik Zorn und Gnade. Das NT ist ganz gewiß
christo zentrisch, daß das AT nicht theo zentrisch
(Gott die Mitte des AT) sei, und daß diese Feststellung für die
Definition des Offenbarungsbegriffs nicht außerordentlich entscheidend
sei, müßte erst nachgewiesen werden. Wobei es jetzt
nur um das durch v. R. fragwürdig gemachte ,,-zentrisch" geht
— inwiefern das „christo-" und das „theo-" in dem einen
„Zentrum" liegen, das die Dogmatiker mit ihrem Offenbarungsbegriff
meinen, das ist eine andere Frage — das ist die Frage,
um die es sich letzten Endes in der theologischen Problematik
um das AT heute dreht, nachdem die historisch-kritische Forschung
uns in die Verlegenheit gebracht hat, zwischen diesem
„christozentrisch" und „theozenrrisch" zu differenzieren (welche
Verlegenheit v. R. mit seiner „charismatisch - eklektischen" Deutung
des AT elegant überbrückt)*.

Die gemeinte Aporie im Werk v. R.s2, die tief einschneidet
in die Frage des theologischen Begreifens des AT, hängt zweifellos
zusammen mit dem Fehlen einer klaren Bestimmung
de6 Offenbarungsbegriffs. Dieser gestaltet
sich für v. R. aus seiner totalen Abneigung gegen die systematische
Erfassung des alttestamentlichen Gehalts einerseits und von
seinem traditionsgeschichtlichen Schema her andererseits. „Im
Gegensatz zur Christusoffenbarung zerlegt sich die alttestament-
liche Jahweoffenbarung in eine lange Folge von einzelnen Offenbarungsakten
. Sie scheint einer alles bestimmenden Mitte ... zu
ermangeln" (I 121). Mit dieser Feststellung will v. R. die Unmöglichkeit
dartun, bei dem theologischen Verständnis der Ereigniswelt
Israels einem „systematischen Bedürfnis" zu frönen
(vgl. insbesondere I 126), da das alttestamentliche Zeugnis ja
nicht in einer theologischen Systematik geboten werde, sondern
unter sich nicht in einen systematischen Zusammenhang gebrachte
„einzelne Offenbarungsakte" meine. Andererseits will
er, daß wir uns bei der theologischen Deutung „der Abfolge der
Ereignisse, wie 6ie der Glaube Israels gesehen hat, überlassen"
und sie „nacherzählen" (ebenda), indem wir ihren immer neuen
Interpretationen und Vergegenwärtigungen entlang gehen bis
hinein in deren Adaption und Neuinterpretation im NT, dabei
uns vergewissernd, daß es von Stufe zu Stufe immer geht um Verheißung
-Erfüllung als Heilswirken Gottes. Von daher ist für
v. R. die „Zerlegung" der Offenbarung in „einzelne Offenbarungsakte
" notwendiges Postulat. Von daher ist es auch zu erklären
, daß v. R. seinen Offenbarungsbegriff orientiert lediglich
am geschichtlichen Geschehen im Sinne des Ereignishaften. Dieser
sich für v .R. aus seiner Gesamtkonzeption notwendig ergebende
unmögliche Offenbarungsbegriff erhellt deutlich, wie
wenig nach der theologischen Seite eine umfassende Schau gewonnen
werden kann, wenn von einer „Überschneidung der
Einleitungswissenschaft (v. R. meint die Traditionsgeschichte) und
biblischer Theologie" (I 7) die Lösung der theologischen Problematik
um das AT erwartet wird, wie das v. R. mit großer Bestimmtheit
ausspricht (Weg „zu einem völligeren theologischen
Verständnis des AT", I 9). Wenn diese „Überschneidung" in

') Der I. Teil dieses Aufsatzes erschien im vorigen Heft der ThLZ.

2) v.Rad, Gerhard, Prof. D.: Theologie des Alten Testaments.
I.: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels. II.: Die
Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels. München: Kaiser
1957/60. 472 S. U. 458 S.
logie, 1.

3) Derselbe Einwurf gegen v. R. soeben auch bei H. Graf Revent-
low, Grundfragen der alttestl. Theologie..., Theol. Zeitschr. Jhrg. 17,
1961, S. 96.

*) Die Eliminierung der „alles bestimmenden Mitte" aus dem AT
treibt v. R. auf ganz merkwürdige Wege. Hinsiditlich der Thronbesteigungspsalmen
und der Theophanieschilderungen gerät er, da er die
„Mitte" Gott nicht sieht, in starke Verlegenheit: diese alttestamentlichen
Bezeugungen vermag er in seine Grundkonzeption nicht einzugliedern
. ..Die Thronbesteigungspsalmen sind die am wenigsten .israelitischen
' Dichtungen" (I 360). Warum? Weil sie dem nach v. R. maßgeblichen
Kriterium für das „Israelitische" nicht standhalten: die Heilssetzungen
, auf denen die ganze Existenz Israels ruht (I 352), treten in