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Ausgabe:

1961 Nr. 10

Spalte:

780-782

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hampe, Johann Christoph

Titel/Untertitel:

Dein Tag bricht an 1961

Rezensent:

Eisenhuth, Heinz Erich

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779

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 10

780

Lehre vom allgemeinen Priestertum. Dieser Wertung
ist Wiehern als Theologe und Praktiker immer treu geblieben
. Der Kirchenbegriff bei Friedrich Daniel Schleiermacher
hat wesentlichen Einfluß auf Wichern ausgeübt, auch wenn er kein
eigentlicher Schleiermacherschüler geworden ist. Von Schleiermacher
hat Wichern den Begriff der „Volkskirche" übernommen
. Der Kirchenbegriff bei Friedrich Julius Stahl bringt
wohl mehr als alle andern die Vermengung von Göttlich-Menschlichem
zum Ausdruck. Er kann von der Kirche 6agen, „daß sie
das Reich Gottes sowohl in irdischer als auch in ewiger Gestalt
sei" (86). Das Verhältnis von Staat und Kirche, das Wichern
theoretisch und praktisch immer wieder neu gestalten mußte, beschreibt
Stahl so: „Alles, was in der Kirche errichtet wird durch
die natürliche Entfaltung und Lenkung des Menschengeschlechts,
das geht durch die Vermittlung des Staates. Alles, was für die
jenseitige Welt geworben wird durch das Wunder der Offenbarung
und Gnade, das geht durch die Vermittlung der Kirche vor
6ich" (88). Wir werden weiterhin in besonderen Abschnitten aufmerksam
gemacht, daß Anregungen für das Verständnis der
Kirche von Georg Friedrich Puchta, einem Leipziger Hofrat und
Juristen, und von Christian Karl Johannes von Bunsen, dem
Freund des Königs Friedrich Wilhelm IV., ausgegangen sind.

In einem dritten Teil wird „der Einfluß des Völkisch-
Nationalen auf das theologische Denken Wicherns" (101 ff.) entfaltet
, wie er wirksam wird in Wicherns Volksbegriff und
in seinem Patriotismus. Das deutsche Volk und das
deutsche Vaterland als Gegenstände und Kräfte, das Verhältnis
von Vaterland und Kirche untereinander und zum himmlischen
Vaterland werden mit großer Sorgfalt dargestellt. Ebenso ist ein
kurzer Hinweis dem übernationalen Denken Wicherns gewidmet.
Weiterhin geht der Verfasser der Frage nach, wie das theologische
Denken Wicherns durch das Völkisch-Nationale beeinflußt
worden ist und widmet besondere Aufmerksamkeit und besonderen
Raum der Erörterung über „das Reich Gottes" (124—135).
Dann wird der Kirchenbegriff auch in seiner geschichtlichen Entwicklung
in den Verschiebungen und Veränderungen dargestellt.
Besonders eindrucksvoll sind die Ausführungen über Bekenntnis
, Amt, Allgemeines Priestertum und Verfassung
der Kirche (151—156), weil sich bei den Einzelfragen sehr
viel konkreter zeigt, was Wichern aufgenommen hat, wie er es
verarbeitet und wozu er es einsetzt. Die verhältnismäßig kurzen
Abschnitte „Kirche und Innere Mission", „Kirche und Volk",
die Volkskirche, Kirche und Vaterland sind als Exempla der
grundsätzlichen Erörterungen zu verstehen.

Es sei kurz auf das Thema „Kirche und Volk" (159) eingegangen
, weil hier auch die aktuellen Bezüge wohl am greifbarsten
sind. „Wichern spricht auf der Mittagshöhe seines Lebens
von der .wahren Volkskirche', zu der die Kirche auszubilden sei.
Gegen Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit trat dann neben
dieses Ideal der wahren Volkskirche die empirische Volkskirche"
(162). Wichern kann beide Begriffe, den der Idee der Volkskirche
und den der empirisch-vorfindlichen Volkskirche neben einander
stehen lassen: „Mein Verlangen ist darauf gerichtet, daß unsere
Kirche .... je mehr und mehr eine wahre Volkskirche werde"
(162). Dabei macht er sich keine Illusionen darüber, daß nicht
jedes Glied des Volkes ein wahrer Christ sein und bleiben werde.
„Das Evangelium gehört dem ganzen Volke mit allen seinen
öffentlichen und privaten Institutionen und Lebenserweisungen
und diesem Volke gehört wiederum das ganze Evangelium in der
Fülle seiner geoffenbarten Wahrheit mit allen den andern eröffneten
Perspektiven für die einstige Vollendung des Gottesreiches
, welche die Vollendung des nationalen Lebens wesentlich
in sich schließt." „Das Volk als ein organisches Ganzes wird als
ein christliches angesprochen.... Die Familie ist für Wichern
die Grundlage der Volkskirche .... (165). Soll die wahre Volkskirche
vollendet werden, dann muß die Kirche, wie wir hörten,
die geistlich und leiblich vorhandenen und heilbringenden Kräfte
des Evangeliums ins Volk tragen" (166).

Einen wesentlichen Schritt für die Erneuerung der Volkskirche
sah er in der Erneuerung der Konfirmationspraxis und hat
dazu seine Reformpläne entwickelt, die auf die Abendmahlsgemeinde
, die Kerngemeinde abzielen (167).

Der Staat und sein Verhältnis zur Kirche, die Innere Mission

und das Völkisch-Nationale werden in knappen Ausführungen
dargestellt.

In der Zusammenfassung wird versucht (170—185), der
komplexen Größe Wicherns gerecht zu werden: „Wir spürten,
welche tastenden Schritte Wichern unternahm, sich aus der starken
und erdrückenden Klammer, mit der das Politische das
Christliche in dieser Zeit umfaßte, zu befreien" (187). Bei aller
Unklarheit über das Reich Gottes und sein Verhältnis zur Nation
und zum Volk war er unbestritten der Auffassung, daß das
Christliche das deutsche Volk zu dem gemacht hat, was es heute
ist: „Wenn es also galt, dieses Volk zu regenerieren, dann gilt
es, Christus wieder zum Mittelpunkt des Lebens zu machen"
(18 8). Dieser Satz des Verf. könnte auch der Ausgangspunkt für
ein Gespräch sein, ob wirklich Wicherns Verständnis des Volkes,
des heillosen und heilserfüllten, immer ganz gerecht aufgenommen
und wiedergegeben worden ist. Am weitestgehenden sei
Wicherns Kirchenbegriff vom völkisch-nationalen Gedankengut
beeinflußt worden, so daß es den Anschein habe, was eben noch
zu untersuchen ist, als ob die Volkskirche „die religiöse Seite der
Volksgemeinschaft" (190) 6ei. Der Vorwurf, der dann gegen
Wichern erhoben wird, lautet, daß durch die Abhängigkeit von
innerweltlichen, politischen, völkischen und nationalen Denkkategorien
eine Vermischung der beiden Reiche stattgefunden
habe und daß Wichern damit weder dem biblischen Reich Gottes-
Begriff, noch dem biblischen und reformatorischen Kirchenbegriff
gerecht werde. Wichern hat „durch sein Denken zu einer Nationalisierung
und Politisierung der Kirche beigetragen ... , deren
Folgen wir im 20. Jahrhundert schwer zu spüren bekommen haben
und an denen wir heute noch leiden".

Es ist gut, daß Wichern so gründlich analysiert worden ist.
Niemand kann wohl mehr an dieser Arbeit vorübergehen, der
von Wicherns Leben und Werk etwas aussagen will, und doch
wird im Blick auf diese Methode einer charismatischen Persönlichkeit
gegenüber die Grenze derartiger Analysen sichtbar. Es ist
wohl aufzuzeigen, welche Persönlichkeiten und Gedanken auf
Wichern gewirkt haben. Es bleibt aber verborgen, wie sie von
ihm aufgenommen und verarbeitet worden sind. Man wird der
charismatischen Persönlichkeit Wicherns nicht gerecht, wenn man
diese, sicherlich oft gefährlichen Einflüsse überwertet. Was dieser
Mann für die Kirche und die Welt bedeutet hat, kann nicht von
seinen Abhängigkeiten her bestimmt werden. Die Einmaligkeit
und Prägekraft seiner Vorstellungen von der erneuerten Liebe in
der Kirche bleibt in diesem so widerspruchsvollen 19. Jahrhundert
ein Phänomen ersten Ranges. Wichern denkt nicht nur über
Fragen seiner Zeit nach. Darin hat er sich oft geirrt. Er ist ein
Getriebener aus Liebe. Bei allen Irrtümern wird man den prophetischen
Blick für die entscheidenden Tatsachen ihm nicht absprechen
können. Sein Wahlspruch konzentriert seine Arbeit und
führt in den Kern seines Wesens: „Unser Glaube ist der Sieg, der
die Welt überwunden hat". Diese Hinweise schränken die Bedeutsamkeit
der Arbeit, die uns manches bisher Unverständliche erhellt
hat, nicht ein. Sie möchten nur über die Grenzen des gestellten
Themas wieder hinausführen.

Eine Anmerkung sei noch zur Form der Fußnoten erlaubt, in denen
jeweils Autorenname und Titel auch bei mannigfacher, aufeinanderfolgender
Bezugnahme auf einer Druckseite voll aufgeführt worden sind.

Leipzig Heinz Wagner

Himpe, Johann Christoph: Dein Tag bricht an. Hrsg. im Auftr. v.
Reinold v. Thadden-Trieglaff, Präs. d. Dt. Evang. Kirchentages. 5. Aufl.
Stuttgart: Kreuz-Verl. [1959], 384 S., 32 Abb. auf Taf. gr. 8°. Lw.
DM 12.80.

Dieses Jugendbuch ist auf Anregung von Reinold von
Thadden-Trieglaff entstanden und ist als Geschenk zur Konfirmation
gedacht. Es wendet sich in sehr geschickter Weise an die
14jährigen, an ein Alter, in dem heute unsere Jugendlichen altersstufenmäßig
etwa um 2 Jahre Teifer sind als früher. Es muß daher,
wie es für dieses Alter bezeichnend ist, den jungen Menschen in
seinem wissenschaftlichen Wahrheitshunger und seiner Kritik
ebenso ernst nehmen wie in seiner geheimen und ihm selbst oft
verborgenen Herzenssehnsucht. Das Buch hat den Vorzug, daß es
den Jugendlichen in dieser seiner Einheit sieht. Es bietet sehr
vieles — aber keineswegs ein Vielerlei —, man könnte fast sagen