Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1961 Nr. 1

Spalte:

775-776

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Gutwenger, Engelbert

Titel/Untertitel:

Bewusstsein und Wissen Christi 1961

Rezensent:

Mann, Ulrich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

775 Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 10 f

brechen" (S. 203. 215. 220). Dieses „Abbrechen" deutet auf einen
inneren ,.Bruch" in seinem Werk. Damit ist der religionswissenschaftliche
Beitrag dieses Buches beendet und beginnt seine eigentliche theologische
Aufgabe. Zu fragen ist freilich, ob diese Aufgabe von einem
grundsätzlich außertheologischen, d. h. religionsgeschichtlich-kulturmorphologischen
, Ansatz her erfüllt werden kann, und ob die Flucht
ins „Kerygma" (leider verwendet auch B. diesen verwässerten modernen
Ausdruck) eine angemessene Lösung der so sachlich aufgewiesenen
Probleme darstellt.

Der große Wert des Buches von B. liegt darin, daß sich hier
endlich einmal in dem ganzen teilweise so ungemein unfruchtbaren
und resultatlosen Streit um die Entmythologisierung ein
systematischer Theologe aufgemacht hat, über das Wesen des
Mythus, über 6eine funktionelle Eigenart und Bedeutung nachzudenken
, und daß er dabei grundsätzlich den methodisch einzig
richtigen und möglichen Weg beschritten hat: den nämlich, die
Religionsgeschichte um diesen ihr höchst eigenen Gegenstand zu
befragen. Gewisse Grenzen sind ihm dadurch gezogen, daß er
6ich weitgehend mit Materien beschäftigen muß, die nicht die
6eines eigentlichen Fachgebietes sind, und daß er dabei auf Auskünfte
zweiter oder dritter Hand angewiesen ist. Das ändert aber
nichts an der Richtigkeit seines Ansatzes und seiner bemerkenswerten
Ergebnisse. Er ist dabei weitaus tiefer gestoßen als die
gelegentlich auftretende „religionsgeschichtliche" Argumentation
der Entmythologisierer. Denn für die Würdigung des Phänomens
des Mythischen genügt ja nicht eine gewisse Kenntnis der Umwelt
des Neuen Testaments. Es bedarf vielmehr umfassender
religionsgeschichtlicher Einsichten auch in die Räume der außer-
mittelmeerischen Kulturen, in denen das Mythische ebensosehr
und noch mehr beheimatet ist und Leben und Denken bestimmt
als in unserer seit Jahrtausenden rational durchtränkten abendländischen
Bewußtseinskultur, — in denen es gleichsam in reineren
, ungetrübteren Formen zutage tritt. Daß erst dadurch eine
unschätzbare Perspektive in der ganzen Frage erreicht wird, ist
leider unseren Entmythologisierern entgangen, wird aber durch
das Buch von B. bestens bewiesen. Erst von der phänomenologischen
und religionssystematischen Einordnung dieser Verhaltensweisen
aus kann man genügend Abstand für eine sachliche
Würdigung des Mythus-Problems und seiner grundsätzlichen
Bedeutung gewinnen. Und das ist dem Verf. — unbeschadet seiner
theologischen Zielsetzung — gelungen, wofür ihm hohe Anerkennung
gezollt werden muß.

Marburg/Lahn Kurt G ol d am me r

Gutwenge r, Engelbert, S. J.: Bewußtsein und Wissen Christi. Eine
dogmatische Studie. Innsbruck: Felizian Rauch [i960]. 200 S. 8°.
Kart. DM 16.—.

Die Fragestellung des Buches liegt dem evangelischen Theologen
zunächst verhältnismäßig fern. Es geht darum, wie das
Ichbewußtsein Je6U beschaffen gewesen sein müsse: unter Voraussetzung
des als unbestreitbar angenommenen trinitarischen und
christologischen Dogmas. Die Fragestellung liegt wie gesagt fern,
aber sie ist keineswegs sinnlos. Fern liegt das Problem insofern,
als sich die evangelische Theologie weithin angewöhnt hat, von
allen psychologischen Gesichtspunkten in der Christologie abzusehen
. Das ist eine notwendige Entwicklung gewesen, sie hängt
zusammen mit dem Mißbrauch, den eine psychologisierende
Leben-Jesu-Forschung getrieben hat. Auf diesem Hintergrund ist
die Abkehr der formgeschichtlichen Forschung von diesen Fragen
zu sehen und die entschlossene Hinwendung zum Kerygma. Doch
in neuester Zeit ist die Frage nach dem „historischen Jesus"
wieder neu gestellt worden, und die Dogmatik kann diese Frage
nicht auf Dauer außer Acht lassen. Im Grund gibt es ja auch vor
der Neubelebung dieser Frage schon längst dogmatische Entwürfe,
die das vorwegnehmen, es sei nur an die Barthsche Christologie
erinnert, die nicht im alten Psychologisieren befangen ist und
dennoch über die christologische Unio personalis sachgemäß
nachdenkt. Es ist also nicht ganz berechtigt, wenn Gutwenger
die ältere protestantische Literatur unberücksichtigt läßt.
Denn hier ist aus den Ansätzen der reformatorischen Theologie
heraus in frühorthodoxer Zeit sehr viel zu diesem Problem beigetragen
worden, man denke an den Streit zwischen Tübingen
und Gießen. Die idealistische und liberalistische Theologie hat
das Problem dann einseitig zum Subjektivismus hin aufgelöst,

776

dem entspricht dann die sozusagen „kerygmatische" Gegenbewegung
. Freilich darin hat Gutwenger recht, eine „konstruktive
spekulative Bearbeitung" des Fragenkreises fehlt im neueren
Protestantismus und muß fehlen. Denn dem widerspricht das
Schriftprinzip.

Damit ist die Prinzipienfrage angeschnitten. Im katholischen
dogmatischen Denken hat die Spekulation einen gewissen Raum,
den ihr das traditionelle Dogma und die je und je erfolgende
Lehrentscheidung zur Verfügung stellen. Wenn etwa eine neuere
Enzyklika thomistische Gedanken zur Personalität Christi gutheißt
, so besagt dies, daß auf dieser Linie „die theologische Forschung
nicht in die Irre gehen kann", ja, daß man in dieser
Richtung sogar eine neue Interpretation suchen darf, die „über
Thomas hinausgeht" (S. 8 8). Wir sehen daraus das Bemühen,
Forschung und Dogma in Einklang zu halten, und wir Evangelische
müssen es auch zu verstehen trachten, wie schwer es der
katholische forscher in allen wirklich kritischen und interessanten
Fragen hat. Aber wir werden ihn doch auch fragen dürfen,
ob das, was da an freigegebener Spekulation übrigbleibt, denn
wirklich noch Forschung heißen könne. Der freie Raum erlaubt
ihm von vornherein lediglich Erläuterung6urteile, aber keine
Erweiterungsurteile. Insofern ist der Ausdruck spekulativ durchaus
sachgemäß, denn die im abgesteckten Raum getriebene
Forschung ist zunächst reichlich unverbindlich, wo aber aus der
Sache heraus Verbindlichkeit entstehen will, da entscheidet dann
6ofort das Lehramt und schneidet u. U. weitere Diskussionen
einfach ab (s. S. 8 5).

Zu diesen Fragen wird der evangelische theologische Leser
notwendig geführt; und bei allem Verständnis für die nicht einfache
Lage des katholischen Gesprächspartners, bei allem subjektiven
Verständnis also kann man die prinzipielle Frage nach
der theologischen Legitimität des oben skizzierten Verfahrens
einfach nicht unterdrücken, und der katholische Gesprächspartner
wolle es bitte nicht subjektiven Animositäten des Protestanten
zuschreiben, sondern der theologischen Relevanz der Sache, wenn
wir diese Fragen stellen.

Von diesen Prinzipien her erklärt sich auch, weshalb der
evangelische Theologe nur mit großen Vorbehalten den inhaltlichen
Darlegungen zustimmen kann. Es ist für uns nicht nachvollziehbar
, wie hier das Dogma unbestritten vorausgesetzt wird
und die Fragestellung vorwiegend von dem Bestreben geleitet
wird, das Vorgegebene zu erläutern. Demgemäß ist auch der unbefriedigendste
Abschnitt die Ausführung über die neutesta-
mentlichen Aussagen zum Thema des Ichbewußtseins Jesu. Die
johanneischen Ich-Aussagen werden auf gleicher Ebene mit den
Synoptikern behandelt, als ob es keine johanneische Frage und
Theologie gäbe. Sehr instruktiv sind dagegen die theologiegeschichtlichen
Darstellungen sowie die Übersichten über die
neueren Lehramtsentscheide zum Thema. Und besonders instruktiv
ist die kurze und doch prägnante Schilderung der Geschichte
des Personbegriffs. Hier ist neueste religionsgeschichtliche Arbeit
zugrunde gelegt, der Personbegriff wird bis zu seiner etruskischen
Wurzel verfolgt; das Wort Persona ist als Ausdruck für die
Maske einer Unterweltsge6talt im Kultdrama entstanden, das Ur-
wort Phersu hängt mit Persephone zusammen.

Innerhalb der dem Buch gezogenen Schranken wird, und das
muß man sehr hoch anerkennen, eine überaus exakte Begriffsklärung
vorgenommen und eine sehr lehrreiche dogmatische Arbeit
geleistet. Der protestantische Dogmatiker kann an dem hier
gestellten Problem nicht einfach vorbeigehen, die Frage nach
dem Ichbewußtsein, dem Gottesbewußtsein und dem irdisch
begrenzten Wissen Jesu im Verhältnis zur göttlichen Allwissenheit
6ind immerhin dogmatische Fragen, die man nicht einfach
aus der Exegese heraus abtun kann. Diese Fragen bedürfen der
systematisch zusammenfassenden Beantwortung. Man wird Gut-
wengers klare und übersichtliche Studie zu diesem Problem in
Zukunft berücksichtigen müssen, auch wenn die evangelische
Antwort noch so verschieden von der seinen ausfallen wird. Und
abgesehen davon ist das Buch instruktiv für die Methode
katholischer dogmatischer Arbeit. Innerhalb der ihr gesteckten
und von ihr bejahten Grenze ist die Studie eine vorbildlich
exakte Untersuchung.

Ulm a.D. Ulrich Mann