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Ausgabe:

1961 Nr. 10

Spalte:

773-775

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Buess, Eduard

Titel/Untertitel:

Die Geschichte des mythischen Erkennens 1961

Rezensent:

Goldammer, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 10

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was Tilliette in seiner Einleitung — natürlich etwas summarisch,
auf bloß fünfeinhalb Seiten — begründet. Hier geht es vor allem
um die auch von Jaspers akzeptierte Nietzsche-Wahrheit, daß
man nicht jedwede Wahrheit in die Form der schlichten, nachsprechbaren
Wißbarkeit einfangen könne. Ein völlig unfranzösischer
, ratio-feindlicher, antikartesianischer Gedanke. Nietzsche,
so sagt Jaspers, ist in der Skepsis stecken geblieben: er kennt
Wahrheiten nur als „unsre unwiderlegbaren Irrtümer", als lebensnotwendige
Illusion. Was ihm fehlt, ist der Gedanke der Transzendenz
; er erreicht also ,,das Eine", das „Sein" nicht, er ruht
nicht in ihm aus, er bleibt tragisches Opfer 6eines Lechzens nach
Wahrheit. Zu dieser seiner Unruhe gehört auch der Durst nach
Kommunikation. Gottfremde und Einsamkeit (gleich: Abwesenheit
von Kommunikation) bedingen einander. Diesen Nietzsche-
Weg ins Ausweglose müssen auch wir beschreiten, die Abgründe,
an denen er vorbeiführt, erkennen. „Kein Nietzsche-Unkundiger
trete unter mein Dach" (wie Jaspers das legendäre Platowort
variieren könnte).

Nietzsche ist also das sachnotwendige Präludium der Jaspers-
schen Philosophie. Der (vermeintlich!) klassische Harmonismus
im Weltbild der Scholastik und 6elbst noch Hegels ist abgetan;
als falscher Zauber, ja, als Gnosis durchschaut. Es gibt kein
philosophisches Fertigwerden, also kein 6ich in sich rundendes
System, keine Totalwissenschaft (nach Hegelschem Muster), kein
strenges, kein zwingendes Wissen in bezug auf das Absolute, das
„Sein", das „Eine", das „Umgreifende". Dieser Existenz (Person)
auslassende Objektivismus ist im letzten Selbstbetrug. Aber wir
können hier nicht eine Abbreviatur der Jaspersschen Philosophie
mitteilen; es genüge zu versichern, daß Tilliette in selbstloser
Sachtreue die Grundzüge des Jaspersschen Philosophierens nachzeichnet
.

Für uns am interessantesten ist das Kapitel, das sich mit den
Jaspers-Kritikern befaßt: zunächst mit dem katholischen Philosophen
Bernhard Welte, der Jaspers mit optimistischer Kon-
zilianz gegenübersteht und versucht, Jaspers für die praeambula
fidei zu retten, mit der seine Philosophie im letzten übereinstimme
. Tilliette hingegen meint, Welte erkenne nicht die radikale
Autonomie des „philosophischen Glaubens"; er vernachlässige
die Tatsache, daß bei Jaspers Religion und Philosophie in
gegenseitiger Bestreitung stehen. Viel positiver 6teht Tilliette
zu den protestantischen Kritikern: Lohff, Fahrenbach, Pannenberg
. Er referiert hier ausführlich und versucht zu zeigen, daß
die Genannten einander sowohl neutralisieren wie ergänzen —
ohne freilich zu übersehen, daß jeder von ihnen (Welte eingeschlossen
) seinen „blinden Fleck" hat. Tilliette selbst bleibt im
ganzen Buch in einer gewissen Reserve. Er ist primär Darsteller;
seine Kritik geschieht — im Verhältnis zum Umfang der Darstellung
— eher am Rande; doch ist sie deutlich und entschieden
genug.

Berlin Helmuth B u rge r t

Muschalek. Georg: Verinnerlidiung der Gotte6erkenntnis nach der
Erkenntnislchre Joseph Marechals.

Zeitschrift für katholische Theologie 83, 1961 S. 129—189.
Rumpf, Horst: Das Schauen als Weg zur Wirklichkeit.

Neue Sammlung l, 1961 S. 120-130.
Wunberg, Gotthart: Das Absurde und das Bewußtsein bei Camus.

Neue Sammlung 1, 1961 S. 207-221.

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Bucss, Eduard, Dozent Dr.: Die Geschichte des mythischen Erken-
nens. Wider 6ein Mißverständnis in der „Entmythologisierung".
Mündien: Kaiser 1953. 228 S. gr. 8° = Forsch, z. Gesdiichte u. Lehre
d. Protestantismus, hrsg. v. E.Wolf, 10. Reihe, Bd. IV. DM 10.—;
Lw. DM 12.50.

Nachdem die Aufregung um die „Entmythologisierung"
einigermaßen abgeklungen ist und die verschiedenen Ausflüchte
— meist diskriminierender Art — gegenüber dem religiösen Anspruch
des Mythischen nicht mehr so attraktiv und aussichtsreich
sind wie noch vor wenigen Jahren, läßt sich ein so wertvoller
und ernsthafter Beitrag zu einer turbulenten Diskussion wie das
Buch von Bueß desto sachlicher würdigen. Der Verf. hat sich

vorgenommen, das mythische Erkennen (womit die Frage des
Mythischen also von vornherein auf ihre erkenntnismäßige
Seite zugespitzt wird) in seiner Besonderheit zu analysieren. Er
geht zutreffend davon aus, daß Bultmann und seine Schüler „auf
das Problem als solches aufmerksam gemacht" haben; ihre Vorschläge
zur Lösung dieses Problems seien aber „wenig geeignet,
diese Lösung tatsächlich zu leisten" (S. 5).

B. behandelt zunächst konfrontierend „das logische und
das mythische Erkennen" (S. 27—105) und stellt dabei das
bekannte Gegensatzpaar von Mythos und Logos hervor, mit Recht in
einem leider wenig ausgeführten Schlußparagraphen auf „die ästhetische
Versöhnung" von beiden in der Kunst, vor allem in Dichtung
und Literatur, hinweisend. Der angefügte Exkurs „Zur Geschichte des
Mythosverständnisses in der Neuzeit" (S. 85—105) leidet unter dem
ihm gewährten knappen Raum und unter dem unvermeidlichen Auseinanderstreben
des Themas teik in die begriffs- und sadigesdiiditliche
Frage, teils in allgemein religionswissensdiaftlidie und religionsphilo-
sophisdie Kernprobleme. Denn dieses Thema allein böte den Gegenstand
eines umfangreichen Buches. Das zweite Kapitel versucht, phänomenologisch
(nicht etwa historisch, was in diesem Rahmen nicht möglich
wäre) „die Epochen des mythischen Erkennens",
das durch Mystik, Wissenschaft und Moral „gebrochen" wird, darzustellen
(S. 107—142). Im dritten Kapitel geht es um „unsere
Anschauungs-, Denk- und Lebensformen im mythischen
Erkennen" (S. 143—188), d.h. um die Begriffe von
Raum, Zeit, Kausalität und Substanz im Verständnis des Mythischen,
ein Unterfangen, das dadurch schwierig wird, daß es unsere Formen
des Begreifens der Umwelt in einem Denken wiederzufinden sucht, dem
sie völlig fremd, für das sie noch nicht vorhanden sind. Das ist natürlich
grundsätzlich möglich, gefährdet aber leicht die Eigenart des Mythischen
, dem hier Fragestellungen zugeordnet werden, die ihm möglicherweise
— sogar in verkappter Form — unbekannt sind. Auch hier
ist — wie schon zuvor — viel an allgemein religionswissenschaftlichem
und religionsgesdiichtlichem Räsonnement verarbeitet, das weithin aus
zweiter Hand geschöpft ist. Das vierte Kapitel will schließlich „d i e
Einzigartigkeit der biblischen G o 11 e s e r k e n n t -
n i s" dartun (S. 189—226). Dabei tritt wieder die Erkenntnisfrage hervor
, die Problematik wendet sich ins Sy6tematisch-Theologische und
entzieht sich damit endgültig der Zuständigkeit von Religionsgeschichte
, Religionswissenschaft und Historie überhaupt.

Im letztgenannten Umstand liegen die eigentlichen Grenzen
des Buches, das zunächst mit der — fast intellektualistisch anmutenden
— Einengung des Mythischen auf die Erkenntnisfrage
(wozu etwa E. Cassirers große Untersuchung über das Erkenntnisproblem
den Anstoß geben konnte) die Tatsache ausklammert,
daß Mythus und das Mythische weit mehr sind als bloß erkennt-
nisfunktionelles Medium. Dem Verf. ist diese Beschränkung bewußt
, und er begründet sie denn auch mit einer objektiven
Würdigung des Mythus vom Stadium des wissenschaftlich denkenden
Menschen aus (S. 14). Dabei tritt das Mythische als totales
Bewußtseinsphänomen natürlich zurück, und das Verständnis
für sein geschichtliches Eigenleben vermißt man gelegentlich.
Andererseits hat B. damit in gewisser Weise sein Thema erfolgreich
auf das Kernproblem der Entmythologisierungsdebatte reduziert
, indem er gezeigt hat, daß das Mythische ein Modus des
Erkennens sui generis ist, und daß deshalb der Argumentation
der Entmythologisierer weithin die Grundlage fehlt, da sie diese
verschiedenen Modalitäten und Möglichkeiten des Erkennens
nicht beachtet haben, als sie das wissenschaftlich-rationale Erkennen
zur einzig möglichen Erkenntnismethode des modernen
Menschen erhoben. Der Mythus ist von den Entmythologisierern
offenbar in seinem Wesen mißverstanden worden.

Im Schlußkapitel aber bricht in einer Art von Umschwung der
Wille zur theologischen Beurteilung oder Synthese hervor, der wiederum
die wissenschaftliche und vor allem die geschichtliche Betraditungs-
weise einschränkt, die dem Verf. zunächst so viel Material und Anregung
geliefert hatte. Denn die Aussagen über die „Einzigartigkeit
der biblischen Gotteserkenntnis" wollen theologisch, nicht historisch
oder allgemein religionssystematisdi gewertet werden und bedeuten
ein völliges Einschwenken auf die Linie theologischer Interpretation.
Der Verf. will bewußt vergleichen (S. 189 f.). Er betont die religions-
geschiditlidie Sonderstellung des biblisdien Gottesgedankens, den er
in seiner Personhaftigkeit nach verschiedenen Seiten hin herausarbeitet
, und die „Diskontinuität zwischen Mythos und biblisch bezeugter
Offenbarung" (S. 221). Er stößt damit auf verschiedene Schwierigkeiten
, gerade weil er vom Religionswissenschaftlich-Theologischen
ausgegangen ist. Diese Grenzen werden ihm bewußt, dort z. B., wo er
tamulisdie Gnadenmystik zitiert. Verschiedentlich muß er deshalb „ab-