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Ausgabe:

1961 Nr. 10

Spalte:

771-772

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Raab, Elmar Franz Xaver

Titel/Untertitel:

Die Wahrheit als metaphysisches Problem, das Grundanliegen philosophischen Fragens 1961

Rezensent:

Wenzl, Aloys

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 10

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und Sein, — um den Preis der Formlosigkeit und der Leere von
bestimmtem Inhalt.

Der Versuch Merciers, in den die calvinistische Tradition
seiner Heimat wichtige Züge eingezeichnet hat, steht nicht für
sich allein. Über Publikationen, die seinen Gedanken nahestehen,
informiert eine kürzlich erschienene Arbeit von einem seiner
Schüler1.

Wenn ein Physiker ein Grundproblem der Philosophie selbständig
behandelt, so wird man an seine Arbeit nicht die gleichen
Maßstäbe anlegen dürfen wie an das systematische Werk eines
Philosophen. Die Darstellung und die Darstellungsmittel Merciers
sind oftmals populär. Vor allem in den Abschnitten über
Kunst und Sittlichkeit, aber auch in denen zur Erkenntnistheorie,
ist nur ein sehr kleiner Teil der Literatur berücksichtigt, darunter
nur 6elten das, was mit Recht zum Bedeutendsten zählt.
Nichtsdestoweniger ist dieses Buch ein auch für den Philosophen
interessanter Versuch der Selbstvergewis6erung eines denkenden
Naturwissenschaftlers. Und die Idee, die es entfaltet, könnte
auch einer genaueren Prüfung standhalten.

Berlin Dieter He n r i c h

') G o r g e, Viktor: Philosophie und Physik, die Wandlung zur
heutigen erkenntnistheoretischen Grundhaltung in der Physik. Berlin
1960. [Eifahrung und Denken, Band 5.]

Raab, Elmar Franz Xaver: Die Wahrheit als metaphysisches Problem
— das Grundanliegen philosophischen Fragens. München 19 59 (zu
beziehen durch: Dr. Franz Raab, Kunstverlag, Oberbränd üb. Neu-
stadt/Sdiwarzw.). XIII, 229 S., 2 Falttab. 8°. Kart. DM 23.50; Lw.
DM 26.-.

Das Buch ist unzweifelhaft — und darin gerade liegt sein
Ernst und sein eigenständiger Wert — selbst dem Grundanliegen
entsprungen, das der Verfasser zum Gegenstand seiner Betrachtung
macht, der Frage nach der Wahrheit. Diese Frage „was
und wo ist Wahrheit?" ist das „Erzproblem" der Philosophie, sie
rührt an Sein und Existenz des Geistes. M. Scheler hat zwar dem
Suchen und Forschen der Wahrheit und auch der Erkenntnis der
Wahrheit einen Wert beigelegt, dagegen nicht die „Wahrheit als
solche" als Wert angesprochen, sondern als eine Idee, die sidi in
Urteilen als Übereinstimmung mit einem Sachverhalt erfüllen
kann. Der Verf. aber unterscheidet die auf Gegenstandserkenntnis
gerichtete Erkenntniswahrheit von der ontologischen Wahrheit
als Übereinstimmung des Seienden, über das geurteilt wird,
mit der ihm zugrunde liegenden forma exemplaris oder Schöpfungsidee
und von der ontischen Wahrheit, der „Wahrheit als
Urphänomen", der erlebbaren Wahrheit, die dem im Erlebnis
von ihr Betroffenen als metaphysische Realität, als existenziale
Macht sich kundtut. Die Wahrheitsfrage wird damit letztlich zum
metaphysischen Problem. Nach dieser Präambel, deren Gedanken
aber das Buch durchziehen, wendet sich der Verf. dem Hauptteil
seines Buches, der Erkenntniswahrheit zu. Die realistische
Definition der Erkenntniswahrheit als adaequatio in-
tellectus et rei einerseits, die idealistische Produktionstheorie
anderseits seien einseitig, weil erstere den subjektivischen Anteil
zu wenig berücksichtige, letztere das Vorgegebensein des Gegenstandes
. In einer subtilen Analyse des Erkennens wird die Rationalität
als Wesensmerkmal herausgearbeitet; aber auch die
Vermittlerrolle des Irrationalen, des geistigen Fühlens und Wollens
ist von einer nicht zu unterschätzenden Relevanz; das Erkennen
ist ein „Geistganzheitliches". Die Erörterung des Prinzips
der Objektivität führt zu einer Kritik des kritischen Idealismus
und des Positivismus. „Der als wesensnotwendiges Seinsmerkmal
begriffene Kerngehalt der Kategorien bedingt und verbürgt
letzthin allein ihre Denknotwendigkeit und folglich ihren transzendentalen
, apriorischen Charakter." Der zweite Abschnitt des
Hauptteiles behandelt „die philosophische Fragensthematik
gegenüber ihrer materialen Beschaffenheit und die Erkenntniswahrheit
in ihr". Erkenntnistheoretisch münden die
Untersuchungen des Verfs. in das Bekenntnis zu einem kritischen
Realismus als der einzig wahrheitlichen erkenntnismetaphysischen
Grundanschauung. Das Urintelligible ist das Geistige. Die Geist-
Erkenntnis-Dialektik aber führt ihrerseits zu den letzten
metaphysischen Fragen, vor allem zu dem Individuationsproblem

als Fundamentalfrage der Ontologie, zu dem Personenproblem,
zu dem Essenz-Existenz-Realnexus und damit auch zu einer
Bezugnahme auf das Unsterblichkeitsproblem. Das Buch schließt
mit einem Anhang, in dem in 22 „Anmerkungen" Einzelfragen
behandelt werden und besonders auf Augustinus Bezug genommen
wird; beigelegt sind der ursprünglich der Arbeit zu Grunde
gelegte Dispositionsplan, ein „Ausblick" auf die Absicht des
Verfs., sein Thema später über die „Erkenntniswahrheit" hinaus
erweitern zu können, und zwei Tabellen über den inhaltlichen
Themenkreis der Philosophie und den Bezug der einzelwissenschaftlichen
und philosophischen Problemstellungen.

Sprachlich ist es dem Leser nicht immer leicht gemacht, die
Sätze sind oft lang und die Worte haben ihre eigene Prägung,
aber es wäre falsch, darin eine leider auch vielfach verbreitete
bloße Tendenz zu einer originalen Terminologie zu sehen, sondern
die sprachlichen Formulierungen sollten dem ernsthaften
Bemühen des Verfs. um einen möglichst angemessenen Ausdruck
seiner Gedanken genügen. Davon unabhängig, ob der kritische
Leser dem Verf. immer zustimmen zu können glaubt: e6
wäre schade, wenn der Gehalt und der Tiefgang des Buches verkannt
würden statt anzuregen.

München AloysWenzl

Tilliette, Xavier: Karl Jaspers. Theorie de Ia Verite. Metaphy-
sique des chiffres. Foi philosophique. Paris: Aubier [i960]. 235 S.
8° = Theologie, Etudes publiees sous la Direction de la Faculte de
Theologie S. J. de Lyon-Fourviere, 44. NF 15.60.

Ein instruktives Buch über Jaspers, das 6ich — mehr referierend
ak kritisch — hauptsächlich an dessen „Philosophische Logik
" (und damit implicite als an ihren Vorgänger, das Hauptwerk
: die dreibändige „Philosophie") hält. Jaspers' frühe Bücher,
die „Allgemeine Psychopathologie" und die „Psychologie der
Weltanschauungen" sind ebenso wie die späten; „Die großen
Philosophen", „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen",
„Philosophie und Welt", „Schelling" nicht mehr berücksichtigt.
Auf jeden Fall ersetzt Tilliettes Werk die mühselige Lektüre des
umfangreichsten Buches des Philosophen: „Von der Wahrheit".
Diese Erleichterung ist wohl auch der ausgesprochene Zweck, den
Tilliette verfolgt.

Ich gebe nun die Einteilung des Buches. Als einführendes Wort
lesen wir einen sechs Seiten langen Aufsatz „Nietzsche und die Wahrheit
". Dann folgen die Kapitel, die über den Wahrheitspluralismus bei
Jaspers informieren: die wissenschaftliche, die existentielle, die kommunikative
, die transzendente Wahrheit, die chiffrierte Wahrheit, die tragische
, die philosophische, die historische, die religiöse Wahrheit; folgt
ein kritisdies Schlußwort.

Im nächsten Teil der Arbeit („Die Sprache der Transzendenz")
werden wir über die Metaphysik der Chiffren und die Diskussion des
„philosophischen Glaubens" unterrichtet. Ein Appendix behandelt
Wolfhart Pannenbergs Aufsätze über Jaspers (ThLZ, Mai 1958 und vor
allem „Zeitschrift für Theologie und Kirche" 19 54). Eine Bibliografie
der Jaspersliteratur gibt Tilliette nicht („60ucieux que nous etions
d'entrer en contact avec Jaspers lui-meme").

Erfreulich zu 6ehen, mit welcher Hingabe hier ein katholischer
Ordensmann die Konzeption eines führenden, nicht eben
leicht lesbaren deutschen Philosophen seinem doch ganz anders
gearteten Geiste förmlich eingeeignet hat (von fern erinnert dieses
außergewöhnliche Rezeptionstalent an Urs von Balthasars
Beschäftigung mit Karl Barth). Mit geradezu philologischer Akribie
werden die jeweils treffenden Zitate aus Jaspers gesetzt und
belegt; nur der Gebrauch eines riesigen Zettelkastens oder ein
unfehlbar erinnerndes Elektronengehirn konnte solche Arbeit
korrekt bewältigen. Bisher hörte man stets nur von Husserls
und Heideggers Einfluß auf die französische Philosophie (Sartre
war ihr Schüler!); nun also erleben wir, daß auch Jaspers, der
sublimste aller Kantianer und Verächter des pereon-auslöschenden
deutschen Idealismus, seine Leser, Verehrer und liebenden
Bekämpfer in Frankreich gefunden hat.

Jaspers selber hat in seinem Nietzsche-Buch von 1936 ein
großes Beispiel solchen „liebenden Kampfes" gegeben: er konfrontiert
dort Nietzsche mit seiner eigenen Wahrheitstheorie,
Tilliette selbst nennt es respektvoll ,,un modele de communica-
tion en forme de combat amoureux". Hier ist die ganze Problematik
der späteren philosophischen Logik vorweggenommen,