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Ausgabe:

1961 Nr. 9

Spalte:

697-700

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bitter, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Heilen statt strafen 1961

Rezensent:

Eisenhuth, Heinz Erich

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 9

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PRAKTISCHE THEOLOGIE

Bitter, Wilhelm, Dr. Dr. (Hrsg.): Heilen statt Strafen. Ein Tagungsbericht
. 5. Arbeitstagung 1956 d. Gemeinsch. „Arzt u. Seelsorger"
Stuttgart. Vorträge u. Aussprache üb. d. Behandlung u. Vorbeugung
jugendlicher Kriminalität. Göttingen: Verlag f. medizinische Psychologie
[1957]. 375 S. 8°. Pp. DM 12.80.

Die 5. Arbeitstagung der Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger
" befaßte sich mit der Jugend-Kriminalität. Hierbei richtete
sich das eigentliche Thema der Tagung dem krankhaftgestörten
Täter zu und der Frage, wie dieser geheilt werden kann-. Es wird
zunächst von dem Herausgeber zugegeben, daß die deutsche Forschung
auf diesem Gebiet um 20 Jahre im Rückstand ist gegenüber
dem Ausland. Auch gibt es in Deutschland viel zu wenig
ausgebildete Fachleute. Die Schweiz hat z. B. bei 5 Millionen Einwohnern
halb so viele Psychotherapeuten wie Westdeutschland
bei 50 Millionen. Allerdings ist jetzt die Zurückhaltung gegenüber
der Psychotherapie im Schwinden begriffen, auch bei den
Juristen. Vor allem wird der Begriff der Psychopathie sehr stark
eingegrenzt, nachdem früher 93% aller Schwererziehbarkeit auf
hirnorganische Störungen zurückgeführt worden sind (6).

* I. Die Resozialisierung
Das eigentliche Ziel bei dem Heilen ist die Wiedereingliederung
in die Gemeinschaft. Es hat sich ergeben, daß von den
jugendlichen Tätern 75 bis 80 % durch eine psychische Fehlentwicklung
kriminell geworden sind. Diese sind dann auch durch
eine entsprechende Behandlung ohne Inhaftierung wieder gemeinschaftsfähig
geworden. Nur 3 bis 4 % Frühkriminelle
(Schwerstverwahrloste) sind untherapierbar und nur ein ganz
kleiner Prozentsatz setzt sich aus latent oder manifest Geisteskranken
zusammen. Es sind also auf das Ganze gesehen 90
bis 95 % der jugendlichen Verbrecher regulär psychotherapeutisch
heilbar.

Es ist das Hauptanliegen dieser Tagung und dieses Buches,
dafür Verständnis zu erwecken, daß viele Delikte im Grunde
Krankheitserscheinungen sind. Daß ein Kranker geheilt werden
muß, ist klar. Aber es ist gar nicht so leicht zu erkennen, ob
ein Verbrecher krank ist, was z. B. bei Brandstiftungen durch
Jugendliche sehr genau geprüft werden muß (s. unten).

Aus den erschütternden Lebensberichten wird die Problematik
unseres Themas offensichtlich. Wir können im Folgenden nur
einiges davon andeuten. Heilen statt Strafen ist einem Kranken
gegenüber ohne weiteres verständlich. Trotzdem bleibt aber die
Frage nach der Berechtigung und dem Wert der Strafe bestehen.
Bei der Tagung ist das Recht zur Strafe nicht bestritten worden
etwa mit dem höchst libertinistischen Gedanken, daß sich für
alles Vergehen auch ein Entschuldigungsgrund anführen ließe.
Wir müssen auch absehen von den Verbrechern, die aus neurotischem
Bestrafungsbedürfnis heraus straffällig werden und
deshalb nicht bestraft werden dürfen. Erwin Frey hat es klar
ausgesprochen: „Strafe nur, wo weder erzieherische noch fürsorgerische
noch psychotherapeutische Maßnahmen erforderlich
sind" (323).

II. Gefährdung und Krankheit
Der Bericht von H. Z u 11 i g e r, einem Psychotherapeuten
in Bern, „Gefährdete Jugend" unterstreicht durch 4 sehr eindrückliche
Beipiele die Tendenz des ganzen Werkes, daß das
Heilen dem Strafen vorgeordnet werden muß; denn Strafe kann
die Symptome verschieben (54) oder sogar auch schlechter
machen (58). Allerdings sind die Deliktsfälle, an denen diese
These erhärtet wird, psychisch bedingt und stellen uns Menschen
vor, die schon krankheitsgeschädigt sind. Wir erwähnen nur ein
Beispiel: Ein Mädchen, in einem eng religiösen Elternhaus 6treng
erzogen, leidet in der Fremde an Heimweh. In einem Warenhaus
stiehlt es Nastüchlein. Trotz des bösen Gewissens kommt
es immer wieder zu neuen Diebstählen. Verwarnungen und Bestrafungen
helfen nicht, bis es eine psychotherapeutische Fleilung
erfährt. Eine Analyse der frühen Kindheit hatte ergeben, daß
das Kind einem Schlafzeremoniell unterlag. Als Kleinkind ist es
nur dadurch zum Einschlafen gebracht worden, daß es das Brusttuch
der Mutter vor die Nase gehalten bekam. Dieses Tuch ist

ihm Symbol der Mutternähe geblieben. In der Fremde fehlte
ihm diese Geborgenheit und es verschaffte sie sich durch diese
symbolischen Diebstähle. (Eigentliche Kleptomanie ist äußerst
selten, auch hier liegt sie nicht vor (215)). Das allzu strenge
Elternhaus und die falsche Mutter-Kind-Beziehung haben mit zu
der späteren Fehlentwicklung beigetragen, wenngleich auch noch
andere Faktoren mit in Betracht gezogen werden müssen. Nach
der Heilung hat sich das Mädchen dann normal entwickelt.

Zulliger schließt nach einer sehr eingehenden Besprechung
auch der übrigen Fälle, die er anschaulich schildert und analysiert,
sehr hoffnungsvoll im Blick auf die Zukunft. Er hatte folgende
Delikte bzw. Fehlentwicklungen besprochen: Hysteroide Lüge,
Bettnässen, Racheakte: Der geizigen Meisterin wird Geld gestohlen
; dem verhaßten Bauern wird dadurch geschadet, daß die
Kuh schwer verletzt wird. Zulliger meint, die nächsten zweihundert
Jahre werden die straffreie Erziehung bringen.

Als ein Fortschritt in diesr Richtung begrüßt er es, daß
schon jetzt die Körperstrafe und weithin auch die Todesstrafe
abgeschafft worden sind.

Bei der sexuellen Fehlentwicklung, die Werner S c h w i d-
d e r behandelt, wird klar, daß die Perversionen Versuche darstellen
, „sich mit Hilfe der Sexualität von den allgemeinen neurotischen
Gehemmtheiten, Ängsten und Lebensbehinderungen
zu befreien" (207). Er geht auf die falschen Erscheinungsformen
näher ein, u. a. Homosexualität, Fetischismus, Transvestismus
und Sadismus. Auch können aus Triebstauungen Erregungszustände
entstehen, die in den sexuellen Bereich überspringen.
Hier kommt es zu Impulshandlungen, die anscheinend ein ganz
anderes Ziel haben, z. B. Brandstiftungen, und die doch aufs
engste sexuell gekoppelt sind (214). Ähnlich wie Zulliger kommt
auch Schwidder zu" dem Ergebnis, daß in all diesen Fällen das
Strafen gar nichts hilft, sondern nur etwas erreicht wird,
wenn es gelingt, die krankhafte Persönlichkeitsstruktur zu ändern
. Daß hierzu sehr viel Zeit erforderlich ist, zeigt die Behandlung
eines dreizehnjährigen Stehljungen durch die Psychologin
Eva G r ä t z. In 10 Monaten waren 75 Behandlungsstunden notwendig
. Andere Krankheiten erfordern aber oft noch viel mehr
Zeit, ohne daß es zu einer Heilung kommen kann.

III. Heilung der Eltern

Was hier den weiten Leserkreis über die eigentlichen Fachprobleme
hinaus besonders angeht, ist die Weckung der großen
Verantwortung, die die Eltern und die Erzieher gegenüber den
Jugendlichen, besonders schon im frühen Kindesalter haben.
Hierfür verweisen wir auf den Beitrag von Renate Sprengel,
die auf die Krisenpunkte in der weiblichen Entwicklung eingeht.
Während sich ein Junge mit 3 oder 4 Jahren von der Mutter löst
und dadurch in dem Manne den Modus seines „Gegenüberseins"
den Menschen und der Welt gegenüber begründet, bleibt das
Mädchen in einem intensiven Identischsein mit der Mutter verbunden
. Darin gründet die spätere Fähigkeit der Frau zum
Ganzheitserleben (165). Der Pubertätszeit geht bei den Mädchen
viel Angst voraus, die sich in den Träumen deutlich verrät. Es
fragt sich, wie in dieser Zeit die Beziehung zur Leiblichkeit gewonnen
wird. Hierfür ist entscheidend, wie sich das Verhältnis
von Vater und Mutter zueinander dem heranwachsenden Mädchen
darstellt. Wenn die frühe Geborgenheit in der Mutter fehlt,
wird diese erlebte Unverwurzeltheit die Angst in der Pubertätszeit
steigern (172). Es kann dann leicht zu kriminellen Affektentladungen
kommen. Die Lebensläufe der kriminell Jugendlichen
, so verschieden sie bei den Männlichen und Weiblichen
auch im einzelnen cind, deuten doch in den meisten Fällen auf das
Versagen der Mutter hin. Deshalb fordert Verf. mit Recht, daß
die Hilfe bei den Müttern selbst einzusetzen hat.

Die gestörte Mutter - Kindbeziehung ist die Grundursache
besonders für das Versagen der Mädchen. Durch Heilung der
Eltern entsteht die beste Bewahrung der Kinder. Auch die Heilung
des Stehljungen setzte mit der Heilung der Eltern ein
(125 f., 134).

IV. Das Jugend-Strafrecht
Von juristischer Seite geht Alfons Wahl auf das gegenwärtige
Recht ein, unter besonderer Berücksichtigung der Be-