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Ausgabe:

1961 Nr. 9

Spalte:

689-690

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Thielicke, Helmut

Titel/Untertitel:

Christliche Verantwortung im Atomzeitalter 1961

Rezensent:

Benckert, Heinrich

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689

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 9

690

Unternehmens, das an Gewicht, an belehrender Kraft und an Ursprünglichkeit
des Urteils der Autoren schon jetzt alle vergleichbaren
Nachschlagewerke übertrifft.

Güttingen Wolfgang Trillhaas

T h i e 1 i c k e, Helmut, Prof. D. Dr. DD: Christliche Verantwortung im

Atomzeitalter. Ethisch-politischer Traktat über einige Zeitfragen.

Stuttgart: Evang. Verlagswerk [19 57]. 131 S. 8°. Kart. DM 6.80.
C o I I w i t z c r, Helmut: Die Christen und die Atomwaffen. München:

Kaiser 1957. 50 S. gr. 8° = Theologische Existenz heute, hrsg. v.

K. G. Steck u. G. Eichholz. N.F.Nr. 61. DM 2.-.

Beide Schriften (die nicht durch Verschulden des Rez. erst jetzt
hier angezeigt werden) sind — auch nach 3 Jahren noch — sehr aktuell
. Sie sind nicht in jeder Hinsicht für eine dieser Zeitschrift angemessene
wissenschaftliche Erörterung geeignet. Jedoch werden
wir bedenken müssen, daß unsere Wissenschaft erst im Konkreten
ihren theologischen Charakter erweisen kann. Von der politischen
Debatte aus möchte man fragen, ob beide Schriften mehr
als den Vornamen ihrer Verfasser gemeinsam haben. Wir werden
feststellen müssen, daß trotz entscheidender Unterschiede eine
weitreichende Gemeinsamkeit vorliegt. Nur muß man sich von
Kampfparolen und Schlagworten gerade auch kirchlich-theologischer
Art freihalten, um das zu erkennen. Z. B. wird man dann
weder Th. verdächtigen dürfen, daß er die atomare Aufrüstung
theologisch rechtfertige, noch G., daß er „massive Irrlehre" vertrete
. So finden wir beide Verfasser glücklicherweise auch im
Gespräch miteinander. Man lese dazu Th.s Aufsatz in der „Zeitschrift
für Ev. Ethik" (1957, Heft 2) über „Der Christ und die
Verhütung des Krieges im Atomzeitalter" nebst der Antwort
G.s darauf im gleichen Heft.

Beide wollen als Theologen reden und beide wollen ihren
Beitrag zur „politischen Predigt" leisten. Beide wollen die Christenheit
nicht in den absoluten Freund - Feind - Gegensatz der
politischen Welt hineinreißen lassen, weil Gott in Christus diesen
Gegensatz relativiert. Beide beklagen den gegenwärtigen Stand
der evangelischen Ethik, Th., weil ihr „eine gewisse Überlieferung
und ein Fundus an grundsätzlicher, in langen Zeitläuften
gereifter Reflexion" fehlt (S. 9), G., weil dem konkreten Problem
der Atomwaffen in der Kirche weniger Nachdenken gewidmet
worden ist ah z. B. der Frage der Sonntagsheiligung (S. 5).

Th.s Schrift enthält in ihrem 1. Teil seine schon 1953 in

2. Aufl. erschienene Arbeit „Evangelische Kirche und Politik".
Obwohl einige Schärfen beseitigt sind, wie Th. selbst sagt, kann
man doch die erneute Veröffentlichung einer alten und gerade
in den hervorgehobenen Modellfällen (Aufrüstungsdebatte und
Kirche im totalen Staat) weithin sachlich und theologisch überholten
Kampfschrift bedauern. Immerhin bleiben die Grundsätze
(S. 77ff.) wichtig: 1. Die Kirche hat die Gebote und Verheißungen
Gottes in ihrem öffentlichen Anspruch geltend zu machen. 2. Die
Kirche hat dabei nicht politische oder soziale Programme aufzustellen
, sondern die an Gottes Wort gebundenen Gewissen auf
die Königsherrschaft Gottes über alle Lebensgebiete hinzuweisen.

3. Die Kirche hat dabei inmitten der umstrittenen Sachfragen,
über die sie sich gründlich informieren muß, die seelsorgerliche
Thematik herauszustellen und als Seelsorgerin aller ebenso
die Verklärung wie die Verwerfung politischer und sozialer
Programme zu vermeiden. 4. Die Theologie soll von der Rechtfertigungslehre
her eine Antwort auf die Frage suchen, was „ein
von Gott gelehrtes und ein von Gott in Frieden gebrachtes Gewissen
für den Weg des Christen in der Welt und damit für die
Welt der Arbeit, der Politik, der Gesellschaft selbst zu sagen
und zu bedeuten hat".

Diese Thesen versucht Th. im 2. Teil seiner Schrift
zu praktizieren. Er nennt diesen Vortrag selbst eine Predigt
von einer politischen Tribüne. Von allgemeinen Erörterungen
über Mensch und Technik, die Zwangsläufigkeiten
der Entwicklung, usw. kommt er zu der für ihn entscheidenden
Frage, wo 6ich innerhalb der Eigengesetzlichkeiten
überhaupt eine Chance freier Gewissensentscheidung ergibt.
Einmal — so antwortet Th. — da, wo wir den Rang und
die Bedeutung der Eigengesetzlichkeit einschätzen müssen. Sodann
da, wo ich technische Güter benutze, nämlich in der Art, I

wie ich es tue. Schließlich ist besonders wichtig, daß das wagende
Gewissen unter Umständen selber Chancen eröffnet, indem es
die scheinbare Eigengesetzlichkeit zerbricht und neue politische
Fakten setzt. Und hier scheint mir der Skopus dieser politischen
Predigt zu liegen, der von den Hörern leider nicht in die Tat
umgesetzt wurde. Hier nämlich wird deutlich, was Th. vorher
mit dem Satz, das Evangelium hebe das Gesetz von Zug und
Gegenzug auf, konkret meinte: Es möchten die Westmächte den
Initiativschritt eines bedingten Verzichtes auf Bombenexperimente
wagen und so anfangen, Mißtrauen abzubauen.

Die problematische Unterscheidung zwischen Predigt und
politischer Ermessensfrage, zwischen seelsorgerlicher Thematik
und Sachfrage, m. a. W. der Grad der Konkretisierung der
Verkündigung, nicht die Konkretisierung überhaupt, ist nun
der theologische Differenzpunkt zwischen Th. und G. Göll-
w i t z e r sieht — m. E. richtig —, daß Gottes Gebot nie allgemein
, sondern immer nur ganz persönlich und konkret gilt. Darum
geht es in der politischen Predigt nicht um die Vertretung
irgendwelcher menschlicher Meinungen, um Meinungen, die man
schließlich auch programmatisch-ideologisch vertreten kann, sondern
um das Hören auf Gottes unseren Meinungen immer
gegenüberstehendes Wort. Für G. ist das Nachdenken über die
Frage des Krieges und der Atomwaffen ein Ringen mit sich, selbst
und mit der kirchlich-theologischen Tradition. Heute ist nun aber
die Kirche — und zwar durch die Entscheidung anderer, nämlich
der Atomphysiker — vor die unausweichliche Entscheidung gestellt
, im traditionellen Sinne die Gewalt zu legitimieren oder
ein Neues zu wagen. Die Lehre vom gerechten Krieg ist nicht
mehr zu halten. In Wirklichkeit ging jeder Krieg um Macht zur
Ordnung des Völkerlebens; ihn als „Polizeiaktion" verstehen,
bedeutet, den Gegner zum Verbrecher erklären. Angesichts der
heutigen Waffen muß man auf Art. 22 der Haager Landkriegsordnung
von 1907 hinweisen: „Die Kriegführenden haben kein
unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des
Feindes." Insonderheit heben die neuen Waffen die Unterscheidung
von Kämpfern und Nichtkämpfern auf. Weil selbst verbrecherisch
, kann der Atomkrieg kein Mittel zur Rechtswahrung
sein; sein Ziel ist nicht mehr der Friede mit dem Gegner, sondern
dessen Vernichtung; seine Waffen treffen die künftigen
Generationen; sie machen eine Verteidigung unmöglich, indem
sie der Inbegriff des Mordes und des Selbstmordes sind. Von der
Grunderkenntnis aus, daß die Kirche in Wahrnehmung ihres
Wächteramtes Gottes offenbarten Willen auch über den politischen
Bereich zu verkündigen und die Menschen dementsprechend zu
beraten hat, und daß der Wille Gottes das eindeutige Nein zu
diesen Waffen einschließt, behandelt G. dann noch einige konkrete
Fragen, die die Entscheidung Gottes dem Menschen sozusagen
verständlich machen können.

Im Grunde ist für Th. wie für G. schlechthin d i e ethische
Frage: Welchen nächsten Schritt gebietet mir Gott heute. Beider
Antwort weist in die gleiche Richtung. Mir scheint G. — theologisch
geurteilt — zu guter Letzt klarer und deutlicher zu antworten
.

Zur Begrenzung der so nicht zutreffenden Anmerkung gegen
Schleiermacher (Gollwitzer S. 14) sei noch folgendes bemerkt: G e-
schichtsphilosophisch — im Brouillon von 1805 — beurteilt
Schi, den Krieg al6 ein notwendiges Phänomen im geschichtlichen
Leben der Völker auf dem Wege über die Geistgestaltung der Natur
zum endlichen Frieden. In der ethischen Betrachtung der „Christlichen
Sitte" erklärt Schi, dagegen rundweg, der Krieg sei weder philosophisch
-ethisch noch christlich-moralisch zu rechtfertigen (S. 454).
Ereignet sich aber Krieg, »o schließe er nie den Befehl zum Töten ein
(S. 270 ff.) — übrigens eine traditionelle Lehre. Scharfschützen und moderner
(damals!) Vorpostenkrieg seien schlechthin unsittlich (S. 281).
Über den von Gollwitzer besonders herausgegriffenen Punkt der Verantwortlichkeit
des Untertanen sagt Schi.: Wer einen Krieg für ungerecht
hält, hat die Pflicht, mit allen Kräften auf seine Obrigkeit einzuwirken
, dann aber nicht da6 Recht, sich in Empörung einem doch
geführten Kriege zu entziehen. In diesem Gesamtzusammenhang genommen
, verdient Schi, wahrhaftig nicht das Urteil Gollwitzers: seine
Ausführungen gehörten zum unerquicklichsten, was man in der theologischen
Literatur zur Kriegsfrage lesen könne.

Rostock Heinridi B e n c k e r l