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Ausgabe:

1961 Nr. 9

Spalte:

679

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wild, John

Titel/Untertitel:

Human freedom and social order 1961

Rezensent:

Schrey, Heinz-Horst

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679

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 9

68

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Wild, John: Human Freedom and Social Order. An Essay in Christian
Philosophy. Durham, N. C: Duke Univereity Press 1959. XI, 250 S.
8°. Lw. $ 5.-.

Der Titel des Buches sagt eigentlich nichts aus über seinen
Inhalt, denn es handelt sich dabei nicht um eine soziologische
Studie über Freiheit und Ordnung, sondern um den Entwurf
einer „christlichen Philosophie". Wild versteht darunter nicht
eine private Weltanschauung, die sich dem prüfenden Urteil der
Allgemeinheit entzieht, sondern „eine freie und selbständige
Disziplin, die der Kontrolle durch die Erfahrung unterliegt und
doch, wenn es sich um letzte Entscheidungen handelt, sich nach
einem christlichen Leitbild ausrichtet" (S. 3). Im ersten Teil des
Buches wird das Verhältnis des christlichen Glaubens zu den
mythischen Ursprüngen des abendländischen Denkens sowie zum
griechischen Rationalismus untersucht. Der Verfasser kommt
dabei zu der Feststellung, daß der Glaube auch nach dem Hinschwinden
des Mythus eine unausweichliche Dimension der
menschlichen Lebenswelt darstellt. Vom Rationalismus aber
unterscheidet er sich vor allem durch sein Ernstnehmen menschlicher
Geschichtlichkeit, während ja der Rationalismus auf übergeschichtliche
gleichbleibende Strukturen ausgerichtet ist. — Im
3. Kapitel analysiert Wild die verworrene Geschichte von Vernunft
und Glauben (Augustin, Thomas, Reformation, Aufklärung
, Hegel) und kommt zu dem Ergebnis, daß Vernunft und
Glaube in dialektischer Spannung zueinander 6tehen. Philosophie
als Phänomenologie der menschlichen Lebenswelt weiß von erlebter
Zeit und erlebtem Raum, also von Geschichtlichkeit. Diese
Lebenswelt aber ist eingehüllt in Geheimnis und Zweideutigkeit.
Die Vernunft kann von sich aus das Geheimnis nicht lösen und
die Zweideutigkeit nicht eindeutig machen. Sie braucht eine
Führung, die der christliche Glaube für sie 6ein kann. Die Erörterung
der von Katholiken, Protestanten und säkularen Denkern
vorgebrachten Argumente gegen die Möglichkeit einer
christlichen Philosophie scheinen nicht stichhaltig, denn sie
orientieren 6ich immer an den bisherigen Fehlleistungen, bei
denen christliche Philosophie ein von christlichen „Prinzipien"
abgeleitetes System war. Das kann sie aber nach Wild gerade
nicht sein, denn sie will nichts anderes als das Urteil des Glaubens
auf das Denken der Menschen anwenden und eine Konfrontierung
der Philosophie mit diesem Urteil ermöglichen. Das
ist bisher in der Geschichte des abendländischen Denkens noch
nie geschehen, sondern liegt als ungelöste Aufgabe vor uns. —
Der zweite Teil des Buches enthält den Entwurf einer christlichen
Philosophie. Kierkegaard und die moderne Phänomenologie
sind Kronzeugen für eine solche Möglichkeit, weil beide
von der Erfahrung der menschlichen Lebenswelt ausgehen und
offen sind für den Glauben. Schließlich exemplifiziert Wild noch
an Ethik und Sozialphilo6ophie, was er sich unter einer christlichen
Philosophie vorstellt. Die Gegenüberstellung der Ethik der
Selbstverwirklichung im abendländischen Rationalismus und der
christlichen Ethik ist besonders erhellend für das Anliegen des
Verfassers, denn hier kann er den Gegensatz zwischen einer
objektivierenden Philosophie mit ihren Kategorien der objektiven
Kalkulation, des allgemeinen Gesetzes, des in sich ruhenden
Ichs und des Vorrangs der Vergangenheit einerseits und dem
christlichen Personverständnis anderseits deutlich machen.

Das Buch ist ein gutes Beispiel für den Umschwung der
philosophischen Situation in den USA heute, wo die Gedanken
der europäischen Existenzphilosophie den Pragmatismus und
Positivismus abzulösen beginnen. Zugleich ist es ein lebendiges
Zeugnis dafür, daß wir geistesgeschichtlich au6 der Zeit der absoluten
Diastase von Theologie und Philosophie in die Ära einer
neuen Begegnung beider einzutreten beginnen.

Berlin Heinz-Horst Sch rey

Ott, Heinrich: Denken und Sein. Der Weg Martin Heideggers und der
Weg der Theologie. Zollikon: Evang. Verlag [1959]. 226 S. gr. 8°.
Lw. DM 19.50.

„Dieses Buch will ein Gespräch sein mit dem Denker Martin
Heidegger", das ist Ansatz und Absicht des Verfassers. Zugleich
will das Buch aber auch die Gedanken Heideggers darauf

untersuchen, welche Bedeutung sie für das theologische Denken
unserer Zeit haben können. Nicht aber will das Buch eine
verkehrte Apologetik nach der einen oder anderen Seite hin
treiben, es will weder Heidegger den Theologen als christlichen
Denker hinstellen, noch die Theologie dem Denker kurzschlüssig
in Empfehlung bringen. Man kann diese Absichten nur bejahen,
und das gleiche gilt von dem, was der Verfasser vermeiden will.
Und man muß gleich vorweg feststellen: Absicht und Ausführung
sind gelungen.

Dabei macht sich der Verfasser seine schwere Aufgabe noch
schwerer, indem er es unternimmt, das Heideggersche Denken in
einer anderen Diktion zur Sprache zu bringen. Das verlangt ja
auch Heidegger selbst. Nur so ist es möglich, ein terminologisch
festgelegtes Schuldenkcn zu vermeiden und eben den „Rückgang"
des Denkens hinter die „Metaphysik" nachzuvollziehen. Man
muß für diese Interpretation besonders dankbar sein, denn sie
i6t die erste Voraussetzung für das beabsichtigte und notwendige
Gespräch. Es wird auf diesem Weg sicher manchem ein Zugang
eröffnet, der vor den Eigenheiten der Heideggerschen Diktion
bislang zurückscheute. Ob die Übertragung gelungen ist, kann,
wie die Dinge nun einmal liegen, letztlich nur Heidegger selbst
entscheiden, an dessen Votum der Verfasser auch ausdrücklich
appelliert; vorletztlich möchte ich das Wagnis für geglückt erachten
.

Die Untersuchung behandelt zunächst die Daseinsanalytik
von „Sein und Zeit". Eindringlich wird der Leser darauf hingewiesen
, daß Heidegger nicht unter der Überschrift „Existenzia-
lismus" zu verstehen ist, daß sein Denken vielmehr von Anfang
bis heute von der Seinsfrage geleitet wird. Besonders prägnant
ist der Abschnitt über die phänomenologische Methode, deren
Wesen ja häufig verkannt wird. Etwas knapp kommt das „In-der-
Welt-sein" weg, man erfährt unter diesem Titel nur vom Unterschied
zwischen Existenzialien und Kategorien und von der
Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas. Hier wäre einiges
über Zuhandenheit und Räumlichkeit zu sagen wichtig. Auch
sollte man von Zeitlichkeit, Entschlossenheit zum Tode, von
Gewissen und von Sorge mehr erfahren. Gerade daran ließe sich
zeigen, daß es Heidegger eben nicht um bloße Existenzanalysen
geht, sondern um die Seinsfrage.

Der Schwerpunkt des Buches liegt jedoch auf dem Denken
des späteren Heidegger, auf der „Kehre" also und dem, was ihr
folgt. Der dritte Paragraph behandelt die Kehre, wobei es nützlich
gewesen wäre, auf das von Ott an anderer Stelle zitierte,
hochbedeutsame Buch von Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger
, näher einzugehen. Die „Kehre" ist die Wende vom
Nichts zum Sein. Das Sein ist aber erst zu interpretieren, nachdem
von der Seinsgeschichte die Rede war, der folgerichtig der
nächste Paragraph gewidmet ist. Vom Seinsparagraphen aus
wendet sich dann die Erörterung dem Denken, der Sprache und
der Welt zu. Theologische Fragen und Anregungen für die
Theologie sind jeweils am Ort eingefügt; die letzten drei Paragraphen
, und besonders der letzte selbst, bringen noch sehr bedeutsame
Ausführungen über die theologische Relevanz der
Heideggerschen Erkenntnisse.

Ich habe es als besonders dankenswert empfunden, daß hier
in einer theologischen Untersuchung einmal bewußt der spätere
Heidegger und sein dichterisches Sagen des Seins ausführlich zu
Wort kommt. Theologisch hat sich von Heideggers Denken ja
besonders die erste Phase, die von Sein und Zeit ausgewirkt. Die
theologische Diskussion um die Entmythologisierung und ihre
Folgen wie ihre philosophischen Voraussetzungen ließ weithin
übersehen, daß der Denker selbst inzwischen weitergegangen ist
und daß sein erster Ansatz von der Kehre her interpretiert
werden will und muß. Nur so wird man der Geschichtlichkeit des
Denkens, die aus der Geschichtlichkeit des Seins resultiert, gerecht
. Mit Recht weist Ott darauf hin, daß auch Bultmann, Go-
garten und Fuchs noch im Horizont der Subjekt-Objekt-Spaltung
bleiben und in ihrem Denken einen „unge6chichtlichen Raum für
das Denken über Geschichte aussparen" (S. 173). Man wird
sagen dürfen, daß dies seine Ursache im Stehenbleiben beim
frühen Heidegger hat. Gerade der späte Heidegger bringt das
Ganze zur Sprache, auch und eben den theologisch oft so vernachlässigten
Raum der Natur. Der Theologe kann viel aus dem