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Ausgabe:

1961 Nr. 9

Spalte:

657-659

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Vries, Jan de

Titel/Untertitel:

Altgermanische Religionsgeschichte; Bd. 1: Einleitung, vorgeschichtliche Perioden, Religiöse Grundlagen des Lebens, Seelen- und Geisterglaube, Macht und Kraft, das Heilige und die Kultformen 1961

Rezensent:

Reuschel, Helga

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 9

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V r i e s, Jan de: Altgermanische Rcligionsgeschichte. Bd. I: Einleitung.
Vorgeschichtliche Perioden. Religiöse Grundlagen des Lebens. Seelen-
u. Geisterglaube. Macht und Kraft. Das Heilige u. die Kultformen.
Bd. II: Die Götter. Vorstellungen über den Kosmos. Der .Untergang
des Heidentums. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin: de Gruyter 1956/57.
XLIX, 505 S., 13 Abb., 11 Taf. u. VIII, 492 S. m. Abb. u. Taf. 12-21.
gr. 8° = Grundriß d. german. Philologie 12/1. u. II. Lw. je DM 44.—.

1. Mit seiner .Altgermanischen Religionsgeschichte' von
1935/37 hatte der Verf. Eugen Mogks .Germanische Mythologie'
in Pauls Grundriß ersetzt. Schon der Titel zeigte den Wandel der
Anschauung und der Gebietsabgrenzung. Hatte Mogk auch früher
Fragen nordischer Religion behandelt, so wandte er 6ich doch seit
der entscheidenden Abhandlung über die „Novellistische Darstellung
mythologischer Stoffe Snorris und seiner Schule" (FFC. 51.
Helsinki 1923) ganz der Mythologie als Literaturgeschichte zu.
De Vries, Verfasser der .Altnordischen Literaturgeschichte' im
gleichen Grundriß, steht ja außer Verdacht, daß er die sprachliche
und dichterische Seite seines Gegenstandes vernachlässigen könnte.
Aber sein Buch ist schon in der ersten Auflage eine kenntliche
Hinkehr zum Ganzen der religiösen Bezüge, so weit es nur
aus den Quellen für die altgermanische Welt faßbar ist.

2. Die zweite Auflage schreitet auf diesem Wege kräftig
fort. Sie war schon 1940 in Angriff genommen; der Satz mit
allen Klischees und Unterlagen wurde jedoch 1945 in Leipzig
zerstört. So, wie das Buch jetzt vorliegt, ist es zu einem
beträchtlichen Teil ganz neu geschrieben. Die Anlage ist völlig
geändert. Neue Anschauungen und Blickrichtungen machen sich
für große Gebiete germanischer Religion geltend. Eigene und
fremde Forschung der letzten beiden Jahrzehnte hat das neue
Bild gestaltet. Die neue Verteilung des Stoffes auf die beiden
Bände ist ein merklicher Gewinn. Bei der alten Trennung nach
den germanischen Stämmen war dem Verfasser selbst nicht recht
wohl. Daß der Reichtum der nordischen Zeugnisse nicht einfach
für die südlichen Germanen gelten konnte, lag ja zu Tage. Er
glaubte schon damals, daß ,,die Möglichkeit einer zusammenfassenden
Behandlung des gesamten Materials und einer Synthese
zu einer allgemeinen germanischen Religionsgeschichte, schließlich
einer Vergleichung des altgermanischen Glaubens mit den indogermanischen
Glaubensvorstellungen durch eine solche Anordnung
des Stoffes gleichsam verbaut" wird.

Allgemeine Erörterungen gelten zuerst der Umgrenzung des Gegenstandes
und der Methoden. Es ist bezeichnend für unsere Lage den Fragen
gegenüber, daß der Verf. hier auf den Mythus und seine Sonderungen
eingeht, die Wirklichkeit des Glaubens und des Kults aber
voraussetzt. Vielleicht ist es nicht Sache einer Ag. Religionsgeschichte,
das Wesen der Religion zu erörtern. Doch wäre eine deutlichere Stellungnahme
vielleicht möglich gewesen, als sie § 16 über die .Aufgaben der
Religionsforschung' enthält. Man fragt sich etwa bei diesen zurückhaltenden
Äußerungen, wie denn O. H ö f 1 e r dazu kommt, das Buch für
seine Vorstellung einer extatisch-rauschhaften Germanenreligion in Anspruch
zu nehmen (Bespr. Anz. f. dt. A. 71, S. 97 ff., 1959). Auch
Dumezils entschiedenes Bekenntnis zu dem Buch (G. Dumczil,
Loki. dt. Darmstadt 19 59) läßt sich aus den grundlegenden Bemerkungen
kaum begreifen. Ausführlich und sorgsam jedoch wägt der Verf.
die Leistungen der Nachbarwissenschaften für die Religionsgeschichte ab.
Die Indogermanenfrage führt ihn im Zusammenhang mit der Archäologie
dazu, Germanenreligion schon in den Zeugnissen der Jungsteinzeit zu
sehen. Dann möchte man sich freilich fragen, wie der gewaltige Unterschied
zwischen der Religion der schwedischen Felsritzungen und dem,
was wir aus literarischen nordischen Quellen kennen, zu begreifen ist.
Der Wert der Volkskunde und der Völkerkunde läßt sich bei richtiger
Einsetzung wohl kaum überschätzen; denn auf beiden Gebieten geht es
ja. wenn auch in recht verschiedenen Höhenlagen, um das gleiche, um
Religion, oder doch ihre Vorstufen und Ausläufer. Der Verf. hat
diese Zweige selbst des öfteren früher grundsätzlich oder auch für
Einzelfragen herangezogen. Das (II.) Kapitel über die Quellen gliedert
sie in Bodenfunde, antike Zeugnisse, Missionsliteratur im Süden. Dazu
kommen im Norden die Runensteine, Saxo, Edda, Snorri, die Skalden,
die Sagas und das Zeugnis der Ortsnamen. Daß bei den meisten dieser
Gruppen Vorsicht geboten ist, verhehlt der Verf. nicht. Für den Quellenwert
der Isländersagas sähe man gern einen Hinweis auf die Sagakritik
der Isländer (Islenzk :Fornrit, Einleitungen!) und auf W. Baetkes
Abhandlung .Christliches Lehngut in der Sagareligion' (Verh. d. Sächs.
Akad. Ph.-Hist. KL 97, Leipzig 1952). — Die Bemerkungen zur Geschichte
der Forschung (Kap. III) geben einen eingehenden Überblick und
enden offenbar bei der eigentlichen Liebe des Verfs.: bei den Gelehrten,
die es nicht aufgeben, eine gemeinsame indogermanische Wurzel aus den

mannigfachen Religionszweigen zu erschließen. Hier steht neben K.
K e r e n y i und Leopold v. Schröder wieder G. D u m e z i 1 an
wichtiger Stelle.

Die vorgeschichtlichen Perioden mit einer Trennung zwischen süd-
und nordgermanischen Verhältnissen der Eisenzeit und die Umwelt der
frühgeschichtlichen Germanen zur Römerzeit, in der Völkerwanderung
und im Norden überschauen die Kap. IV. und V. Dann beginnt erst die
eigentliche Behandlung der Religion (Die religiösen Grundlagen des
Menschenlebens; Seelen, Geister und Dämonen, Schicksalsmächte; Macht
und Kraft; Das Heilige und die Kultformen. Kap. VI.—IX). Hatte es
sich bei den Grundlagen um Begriffe wie Sippe, Frieden, aber auch
Schicksal gehandelt, so kommt bei der Besprechung des ,Heiligen' und der
.Kultformen' religiöses Leben im engeren Sinn zu Wort. Gestützt auch
auf Baetke stellt der Verf. die beiden Begriffe hailagaz und wihaz
einander gegenüber und schließt: „In der von R. Otto geprägten
Terminologie kann man winaz den zu fürchtenden, hailagaz den
gnädigen, gütigen Aspekt des Numinosen nennen" (§ 24 5). Anschließend
ist die Rede von heiligen Orten, Himmelskörpern, heiligem Feuer,
heiligen Gegenständen und Tieren, von Tempel, Priesteramt, Opfer,
Orakel und anderen Kultformen. Gegenüber den getrennten Kapiteln der
ersten Auflage hat die Übersicht über die einschlägigen Fragen und den
Stand der Forschung hier sehr gewonnen. Gerade auf diesem Gebiete
sind wir von Einhelligkeit der Gelehrten allerdings recht ferne. Die Darstellung
verschweigt das auch nicht. Als Zeugnisse für germanische
Priesterinnen scheinen die beiden Erzählungen vom Völsi (S. 406 u. ö.)
und von Gunnar Helming (S. 405; S. 473) doch wohl überfragt. Es liegt
im Wesen der Sache, daß hier vieles nur erschlossen werden kann. Dem,
der von der Nüchternheit der nordischen Zeugnisse, gar der Isländersagas
, kommt, wird bei den rauschhaften Umzügen der Fruchtbarkeits-
Kulte und der maskierten Männerbünde nicht recht wohl.

Die Reihe der Götter beginnt mit Tiwaz - Tyr. Entsprechend
der alten, lautlich nicht einwandfreien Zusammenstellung mit
gr. Zevg ai. Dyäus gilt er als alter Himmelsgott, der im besonderen
Herr des Rechtes und des Krieges ist — Mars Thingsus,
dessen .rechtliche Sphäre' er vertritt, „während Wodan die bis
ins Ekstatische gesteigerte Kampfwut, den .furor teutonicus' darstellt
. Sie sind also . . . die beiden Aspekte des indogermanischen
Gottes der (königlichen) Autorität" (S. 105). Als zugehörig zu
einer alten Göttertrias setzt der Verf. U 11 r, von dem wir ja
mythologisch wenig wissen, dessen Kult aber durch die Ortsnamen
wohl gesichert ist. Die Entsprechung der Namenspaare
Odr - Odinn und Ullr - Uliinn deutet auf sein Alter, und
auch er gilt „als Repräsentant der 6akral-rechtlichen Sphäre der
Königsgewalt" (162). Der Verf. sieht hier Hinweise auf alte indogermanische
Religion«- und Sozialstruktur, wie sie Dumezil erschließt
.

Mit Donar- Thor, dem Herkules der interpretatio Romana
steht man in reicher Überlieferung, sowohl was Funde und
Ortsnamen, als auch Literatur angeht. „Odin ist Führer der durch
Treuschwur mit ihm verbundenen Gefolgschaft, Thor aber des
ganzen Volksheeres" (153).

Neben diesen Asen stehen die Wanen, an ihrer Spitze Njördr
und Freyr, alte Mächte der Fruchtbarkeit. Den Wanenkrieg sieht
der Verf. in indogermanischem Zusammenhang als ein Bild der
germanischen Gesellschaft: „einerseits die führenden Schichten,
andererseits das Bauerntum" (213). Dabei zieht er in Erwägung,
an prähistorische Gegensätze zwischen den Megalithleuten und
den Schnurkeramikern anzuknüpfen.

Am lebendigsten stellt der Verf. zwei Göttergestalten dar,
denen er früher schon Sonderuntersuchungen widmete: Baldr
und Loki. Sie sind, beide keine Kultgötter, der Forschung immer
merkwürdig gewesen. Da Baldr nicht zu den Wanen gehört, so
schließt der Verf., kann er auch nicht ursprünglich Vegetationsgott
sein. Zudem ist er zwar ein sterbender, aber eben kein auferstehender
Gott, wie die vorderasiatischen, die man herangezogen
hat. Seine Geschichte sei kein Text zu Fruchtbarkeitsriten,
sondern vielmehr ein Text zu einer Initiationsfeier, die den Initi-
anden durch den Tod gewissermaßen hindurchgehen läßt. Für
Loki wird eine doppelte Funktion als Heilbringer und Betrüger
erwogen, doch schließt sich die Deutung dann Dumezils Loki-
buch an, der in der ossetischen Gestalt des Narten Syrdon „den
gefährlichen impulsiven Verstand" sieht, „der leicht auf Abwege
gerät und dann lebensvernichtende Folgen haben kann" (267). —
Die Darstellung der einzelnen Götter beenden dann grundsätzliche
Bemerkungen über die Stellung der Germanen zu ihren Göttern
, über den vielbesprochenen und viel überschätzten „fulltrui"-