Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1961 Nr. 8

Spalte:

620-621

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Präger, Lydia

Titel/Untertitel:

Frei für Gott und die Menschen 1961

Rezensent:

Müller-Gangloff, Erich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

619

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 8

620

Entetehungszeit und den Verfassern der einzelnen Bücher („So
ist ... in der Entstehungsgeschichte des Pentateuchs die ganze
literarische und religiöse Geschichte Israels gleichsam zusammengerafft
", S. 108), von den geschichtlichen und geographischen
Bedingtheiten ihrer Geiste6welt, von Wesen und Eigenart der Inspiration
— die In6piriertheit der Bibel stellt für ihn nur einen
Sonderfall des allgemeinen biblischen Inspirationsphänomens
dar (S. 114 ff., S. 243) —, von der Entstehung und Festlegung des
Kanon6, von der semitischen Geistesart im Denk- und Beweisverfahren
, in Stil und Symbolverständnis, von den literarischen
Arten („Markus hat seinen Bericht nicht nach den Regeln der
modernen Geschichtswissenschaft abgefaßt", S. 145), vom sittlichen
Milieu („Nicht nur sein Ideal vom Menschentum kann der
moderne Leser in der Bibel nicht wiederfinden, sondern ebensowenig
seine Auffassungen vom göttlichen Handeln", S. 149).
Von der neugewonnenen Einsicht in die „Menschlichkeit" des
heiligen Buches, das einen lebendigen Gott in Kontakt mit Menschen
von Fleisch und Blut zeigt, erhofft sich Charlier eine befreiende
Anziehungskraft: wir erkennen uns selbst in den Menschen
der Bibel wieder und wir entdecken in ihr die wiederholten
Anrufe des Vaters, der gekommen ist, seine Kinder zu suchen
(S. 153 f.). Im 6. Kapitel „Die Botschaft des Wortes" wird dann
der Versuch unternommen, die „göttliche" Seite der Bibel mit
einer Darstellung der Einheitlichkeit der Heilsgeschichte aufzuzeigen
; allerdings scheint uns der Verfasser dabei der Gefahr
einer thematischen Systematik nicht ganz entgangen zu sein. Die
Wunderberichte werden auf ihre wirkliche Bedeutung zurückgeführt
(S. 162 f.; 233 f.), und Christus wird als der Mittelpunkt
der heiligen Schriften klar herausgestellt (S. 203 ff.). Schwierig
ist der Abschnitt über die Irrtumslosigkeit der Bibel (S. 215 ff.).
Auf der einen Seite behauptet Charlier mit der Lehre der Kirche,
daß sich die Irrtumslosigkeit der Bibel grundsätzlich auf alle
Gebiete, sei es das religiöse, philosophische, naturwissenschaftliche
, historische oder psychologische erstrecke, da die verschiedenen
Seiten des Wirklichen in seiner Vielgestaltigkeit sich notwendig
in der Einheit der Wahrheit Gottes, ihres Schöpfers, vereinigen
, auf der andern kann er so weit gehen zu sagen: „Es gibt
keine Seite [sc. der Bibel], wo die Gelehrten — Philologen, Philosophen
und Theologen — nicht imstande wären, sie bei einem
Fehler zu ertappen." Den Ausgleich glaubt er nicht nur in der
Erkenntnis zu finden, daß Gott, der Hauptverfasser, nur den einen
Zweck verfolge, den Menschen eine religiöse Lehre zu geben
, sondern auch in dem Axiom: „Die absolute göttliche Wahrheit
paßt sich in der Bibel den Zuständlichkeiten der menschlichen
Wahrheit an, und nur durch dieses Relative hindurch ist
es uns verstattet, die absolute Wahrheit Gottes zu erreichen."
Freilich möchte der Verfasser, so sehr er davor warnt, Wissenschaft
in irgendeiner ihrer Formen in der Bibel zu suchen, damit
nicht Glauben und Wissenschaft auseinanderreißen: „Die Offenbarung
trifft den Menschen in der Welt, die ihm die Wissenschaft
öffnet. Es müssen sich daher geoffenbarte Gegebenheiten finden,
die mit wissenschaftlich feststellbaren Erfahrungstatsachen zusammentreffen
" (S. 226). Praktisch-paränetische Anweisungen
über das rechte Bibellesen im Geist der Kirche bilden den Beschluß
der Ausführungen.

Noch in einer dritten Hinsicht scheint uns das Buch Char-
liers symptomatisch zu sein: was nämlich die Stellung der Bibel
im Ganzen der katholischen Lehre betrifft. So echt und tief die
Liebe des Verfassers zur Bibel ist, von dem sola scriptura der
Reformatoren ist er weit entfernt. Die Bibel beweist ihre göttliche
Wahrheit nicht aus 6ich selbst, sondern: „Wir glauben der
Bibel, weil wir der Kirche Christi glauben, die sie uns von Seiten
Gottes schenkt. Unser Glaube an Christus und seine Kirche beruht
nicht auf der Bibel" (S. 161). Deshalb lehnt e6 Charlier auch
ab, die Göttlichkeit der Bibel zu beweisen: „wir glauben sie
vielmehr; denn der Glaube daran ist ein Wesenselement unseres
Christlichen Glaubens" (ebd.). Und an anderer Stelle: „Der
Christ, der die Bibel liest, muß, bevor er sie öffnet, glauben an
ihren göttlichen Inhalt, der Christus ist, glauben an die Kirche,
die ihm diesen Inhalt übergibt, glauben an den Heiligen Geist,
der den Text beseelt und die Kirche einigt. In der Bibel spricht
Gott zur Kirche und durch die Kirche zum Gläubigen" (S. 252).
Deshalb warnt Charlier, wie er glaubt: im Sinne der Kirchenväter
, vor einer „Vergötterung des heiligen Buches (materiell genommen
)' deshalb widersprtcht er einer Aueeinanderreißung
von Schrift und Tradition: Die Bibel, welche die Kirchenväter
über alles erheben, ist die lebendige Bibel, — „lebendig durch die
Tradition, lebendig in der Kirche" (S. 33). Darum wendet 6ich
das Buch Charliers auch nicht an die Draußenstehenden, sondern
an die gläubigen Katholiken, für die das menschliche Element in
der Bibel eine „Binde vor den Augen" ist (S. 162). Es möchte
ihnen „die tiefe Logik" aufweisen, „die in der Entwicklung dieser
fremdartigen Literatur gewaltet hat, und die über deren buntem
Allerlei die immer deutlicheren Pin6elstriche der Hand
Gottes verrät" (ebd.). Dabei wird die Glaubenswahrheit mit der
Vernunft- und der Erfahrungswahirheit in der Einheit der göttlichen
Wahrheit zusammenkommen (S. 161). Der echte Glaube
weiß, daß kein wirklicher Widerspruch „zwischen den beiden Händen
Gottes" möglich ist. „Die Bibel ist zwar nicht die Quelle
unseres Glaubens an Christus, aber die Kirche verfugt über keinen
sichereren Führer, um uns dorthin zu leiten. Die Bibel ist
nicht Schöpferin dieses Glaubens, aber sie ist der stärkste Impuls,
das mächtigste Motiv für diesen unseren Glauben an Jesu6
Christus" (S. 163).

Die Beuroner Mönche, von denen die Übersetzung stammt
und für die Pater Johannes Schildenberger verantwortlich zeichnet
, haben den einzelnen Kapiteln sparsame Literarurangaben für
das deutsche Sprachgebiet beigegeben Darunter ist erfreulicherweise
auch die protestantische Literatur vertreten. Dort wird
auch die formgeschichtliche Methode erwähnt („Nicht notwendig
hängt mit der Formgeschichte die Auflösung der Geschichtlichkeit
der Berichte und die von Bultmann vertretene [Enrmythologi-
sierung] des NT zusammen", S. 160), während sich der Verfasser
selbst im Textteil die Gelegenheit entgehen läßt, seine Erörterung
der literarischen Gattungen mit den feineren Kategorien der
Formgeschichte zu präzisieren. Auf S. 233 erwähnt er lediglich die
Tendenz der biblischen Geschichtsschreibung zur „anonymen
Kompilation": „Man formt eine Erzählung, von der man schon
geschriebene Fassungen besitzt, nicht einfach neu, sondern begnügt
sich damit, sie wieder aufzunehmen und unter Umständen
etwas zu überarbeiten, um sie in den Zusammenhang eines größeren
Werkes einfügen zu können, wobei diese Retuschen auf ein
Minimum beschränkt werden."

Von Ironie und tieferer Bedeutung ist, daß Charlier, obwohl
im Apparat zwar andere protestantische Bibelübersetzungen,
nicht aber die Luthers empfohlen werden, von Luther bei der Anführung
von Römer 3, 28 den vielbefehdeten Zusatz „allein"
übernimmt: „Daß Heil kommt von jetzt an — das ist gerade die
These des Römerbriefes — allein durch den Glauben an Christus
zustande und nicht durch die Gesetzeswerke" (S. 195).

Berlin Oskar Söhn gen

Präger, Lydia [Hrsg.]: Frei für Gott und die Menschen. Evangelische
Bruder- und Schwesternschaften der Gegenwart in Selbstdanstellungen.
Stuttgart: Quell-Verlag [1959]. 536 S. 8°. Lw. DM 24.80.

Es geschieht nichts Neues in der Kirche wie in der Welt, da6
nicht der Gefahr ausgesetzt wäre, zur Modeerscheinung zu
werden. Auch die sogenannten Kommunitäten, vor wenigen
Jahren noch belächelt oder beargwöhnt, sind von dieser Bedrohung
nicht verschont geblieben. Bruderschaften 6ind modern
und interessant geworden, etwa so wie der Kirchentag oder die
Evangelischen Akademien. Es gehört sich heute für einen gebildeten
Zeitgenossen, Bescheid zu wissen und mitreden zu können,
wobei die Fundiertheit solchen Wissens gar zu leicht in einem
Mißverhältnis zu manchen schnellfertigen Aussagen steht.

Es besteht daher schon eine ganze Zeitlang das echte Bedürfnis
nach einer Gesamtdarstellung jener breiten bruderschaftlichen
oder kommunitären Bewegung, die 6ich seit etwa einem
Menschenalter in der evangelischen Christenheit entfaltet hat.
Deshalb ist es dem Quell-Verlag als ein Verdienst anzurechnen,
daß er die Lücke auszufüllen versucht hat. Und es war ein guter
Gedanke, mit Frau Lydia Präger einen der bruder- bzw. schwesternschaftlichen
Sache ganz unmittelbar verbundenen Menschen
mit der Herausgeberschaft des geplanten Buches zu betreuen Das
auf diese Weise zustande gekommene „Buch der Bruder- und